Читать книгу Die achtsame Schule - Daniel Rechtschaffen - Страница 11
ОглавлениеDie achtsame Revolution des Erziehungssystems
Hinter den Gittern seiner Jugendstrafanstalt sitzt der 17-jährige Damon auf seinem Stockbett und spürt die sanfte Bewegung seines Atems. Als ein weiterer wütender Gedanke auftaucht, erinnert er sich an seine Achtsamkeitslektion und bemerkt die Spannung in seinem Körper. Er lächelt dem vorbeiziehenden Gedanken zu und spürt wie sein ganzer Körper sich entspannt. Er nimmt die Weite in seinem Inneren wahr und ein Gefühl von Freiheit, von dem er nicht sicher ist, ob er es je zuvor empfunden hat.
Am anderen Ende der Stadt geht Susan in die Friedensecke ihres Klassenzimmers. Sie spürt ein beklemmendes Gefühl in ihrem Hals und ihrem Herzen – dasselbe Gefühl, das sie jedes Mal beschleicht, wenn eine Klassenarbeit ansteht. Sie setzt sich auf ein gemütliches Kissen, schließt ihre Augen und stellt sich vor, wie sie fest umarmt wird. Ihre Anspannung löst sich und Wärme breitet sich in ihrem Körper aus.
Als Susans Lehrerin Nia auf dem Weg zu einem Treffen mit der Direktorin der Schule ist, erinnert sie sich an die vergangenen Meinungsverschiedenheiten über Disziplin und Bestrafung. Sie nützt ihren achtsamen Atem, um inmitten der wirbelnden Gedanken und Gefühle ruhig und zentriert zu bleiben. Zu ihrer großen Überraschung möchte die Direktorin diesmal einen Rat von ihr. Wie kommt es, dass Nias Klasse in letzter Zeit die besten Arbeiten geschrieben hat und trotz allem, als einzige, nicht gestresst scheint? „Ist es diese Achtsamkeits-Sache? Können Sie uns beibringen, wie man das macht?“
Während Sie diese Worte lesen, trainieren Schüler in Ruanda, Israel, Jamaika, Kanada und den gesamten USA ihren Achtsamkeitsmuskel, sie öffnen ihr Herz der Dankbarkeit und Versöhnung, sie lernen zu entspannen und sich selbst zu lieben. Währenddessen erhalten Lehrer endlich die inneren Ressourcen, die sie so dringend benötigen, sie lernen Mitgefühl mit sich selbst zu haben, ihren Stress abzubauen und weitere unschätzbare Lektionen, die sie an ihre Schüler weitergeben können. Sie finden zu innerer Ruhe und mitfühlender Aufmerksamkeit, die das Unterrichten wieder zu der leidenschaftlichen Berufung werden lässt, die es ursprünglich war. Diese Bewegung nimmt im Herzen jedes einzelnen von uns ihren Ursprung und hat das Potential, die ganze Welt zu verändern.
Möchte nicht jeder von uns – Lehrer, Eltern und Kinder – lieber entspannt als gestresst sein, lieber glücklich als deprimiert, lieber aufmerksam als unaufmerksam? Möchten wir uns nicht alle körperlich, geistig und emotional ausgeglichen fühlen? Natürlich möchten wir das. Es fühlt sich einfach besser an.
Schüler werden tausende Male dazu angehalten, aufmerksam zu sein, aber man sagt ihnen nur sehr selten, wie man das macht. Wir sagen unseren Kindern immer wieder, sie sollen nett zueinander sein, ohne ihnen jemals die leicht verständlichen Übungen zu vermitteln, die Mitgefühl und Versöhnung fördern. Wir halten Schüler dazu an, nicht so impulsiv zu reagieren, wir stecken sie sogar in Jugendstrafanstalten – alles nur weil sie die Unruhe in ihrem eigenen Körper nicht regulieren können. Es gibt Mittel, um Impulskontrolle, Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu entwickeln, nur werden sie jungen Menschen sehr selten vermittelt. Achtsamkeit hat sich seit Jahrtausenden als effektives Training für diese Qualitäten erwiesen und die Forschung scheint ihren großen gesundheitlichen Nutzen in zunehmendem Maße zu bestätigen.
Viele im Bildungsbereich tätige Menschen setzen nun auf Achtsamkeit als Gegenmittel zur wachsenden Dysregulation der Jugend in unserer Gesellschaft. Die Statistiken sind beunruhigend und bestätigen die Sorge von Lehrern und Eltern. Ernsthafte psychologische Störungen zeigen sich in immer größerer Anzahl in immer jüngeren Jahren. Das National Institute of Mental Health meldet: „Etwa einer von vier Jugendlichen in den USA erfüllt die Kriterien einer psychischen Störung mit schwerwiegender Beeinträchtigung im Laufe seines weiteren Lebens.“ (Merikangas, K. R. u. a., 2010) Das können wir an Gesundheitsindikatoren der unterschiedlichsten Bereiche beobachten: Fettleibigkeit, Autismus, Hyperaktivitätssyndrom, Angstzustände, Depressionen, Mobbing – sei es nun auf sozialer, psychologischer oder physischer Ebene, der Trend weist in eine beunruhigende Richtung.
Es ist sicher interessant, was Erziehungsexperten, Entwicklungspsychologen und Neurowissenschaftler dazu zu sagen haben, doch das wichtigste ist wohl, dass wir unseren Kindern zuhören. Unsere Kinder sind das schwächste Glied in dieser Kette, sie sind die verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft, sie reagieren auf die Stressoren unserer Welt. Was in unserer Erwachsenenwelt unter den Teppich gekehrt wird, tritt in den Sandkastenspielen unserer Kinder wieder zu Tage. Wenn ich in meiner Praxis mit kleinen Kindern arbeite, dann fordere ich sie auf, in einem kleinen Sandkasten mit meiner Figurensammlung zu spielen. Die Szenarien, die die Kinder darstellen, repräsentieren ihre ungelösten emotionalen Erfahrungen. Ein Kind, das häusliche Gewalt erlebt hat, legt ein Baby in eine Krippe, die von Wölfen umzingelt ist; ein Kind dessen Eltern sich scheiden lassen, nimmt zwei Häuser und stellt dazwischen eine Wand auf. Die Kinder stellen ihre emotionale Verfassung mit Symbolen dar und versuchen sie dann spielerisch zu lösen. Die Stressoren, mit denen Kinder aufwachsen, beeinflussen die Struktur ihres Gehirns und ihres Körpers und somit auch, wer sie für den Rest ihres Lebens sein werden.
Während Kinder die täglichen Nachrichten von Schulmassakern, Kriegen und steigendem Meeresspiegel mitanhören, entwickelt sich ihr Körper und Geist inmitten dieser Unzahl an Stressoren. Wenn das Stresslevel zu hoch wird, reagieren die Kinder mit Dysregulation. Es ist ein Alarmsignal. Ich erkenne dieses Alarmsignal in den ernsten Depressionen und Ängsten meiner jungen Psychotherapiepatienten. Und ich sehe es laut und deutlich, wenn 150 Gymnasiasten mit tosendem Applaus auf ein von mir abgehaltenes Achtsamkeits-Treffen reagieren.
Was hat es mit dieser Achtsamkeit auf sich, werden Sie sich fragen, dass man damit Standing Ovations von Teenagern ernten kann?
Nach einer stillen 10-minütigen Atemübung, stellte eine junge Frau im Publikum eine wichtige Frage: „Ich bin fast eingeschlafen. Was soll ich dagegen tun?“ „Sind Sie müde?“, fragte ich. „Sobald ich aufhöre, etwas zu tun, breche ich zusammen“, sagte sie. Auf meine Frage, was sie denn die ganze Zeit zu tun hätte, verwies sie genervt auf eine lange Liste von Klassenarbeiten, Freizeitaktivitäten und familiären und sozialen Verpflichtungen. Ich antwortete: „Wir alle tun so viel für die Schule, für unsere Eltern oder um vor unseren Freunden cool dazustehen, dass wir tief in unserem Innersten todmüde sind. Nicht die Achtsamkeit macht uns müde, sie zeigt uns nur, wie müde wir eigentlich sind.“ Der ganz Raum schien unisono zu nicken. „Vielleicht sollten wir den Mittagsschlaf aus der Kindergartenzeit in allen Klassen wieder einführen“, schlug ich vor.
Breites Grinsen auf den Gesichtern der Schüler, dann Applaus, Gejohle und schließlich Standing Ovations. Standing Ovations für einen Mittagsschlaf? Diese Schüler und viele andere Schüler in der ganzen Welt sind zutiefst gestresst. Sei es in den Schulen im verarmten Oakland, in denen ich arbeite, oder in progressiven Privatschulen, die Schüler schreien förmlich nach Ruhe. Sie brauchen eine Umgebung, in der ihr Nervensystem, sich entspannen und erholen kann. In meiner Psychotherapiepraxis und auf meinen Reisen zu Schulen auf der ganzen Welt frage ich die Kinder immer, ob sie gerne zur Schule gehen. Traurigerweise blicken mich die meisten verdattert an, so als ob ihnen der Gedanke, man könne gerne zur Schule zu gehen, völlig absurd erscheinen würde.
Selbst heute schrecke ich noch manchmal aus Träumen auf, in denen ich wieder zur Schule gehe und für einen Test nicht vorbereitet bin. Wenn unser Nervensystem in Alarmbereitschaft steht, oder wir von selbstkritischen Gedanken überschwemmt werden, dann funktioniert unser Arbeitsgedächtnis nur mangelhaft und unsere Kreativität und unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit sind eingeschränkt. Bei der achtsamen Erziehung setzen wir voraus, dass uns allen der Keim der besten menschlichen Eigenschaften, wie Mitgefühl, Kreativität, Integrität und Weisheit, innewohnt. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet Erziehung idealer Weise, die Kinder auch im Unterricht so zu behandeln, dass diese wunderbaren schlummernden Eigenschaften erblühen können. Statt einer Atmosphäre von Stress, Konkurrenz und Strafe bemühen wir uns um Akzeptanz, Zuwendung und Ermutigung. Wir beginnen damit, das Kind genau so zu akzeptieren, wie es ist; Diese Art von Aufmerksamkeit unterstützt die Kinder dabei, ihr volles Potential zu erschließen. Wie jeder Lehrer weiß, fällt Lernen leicht, wenn die Schüler sich sicher fühlen und entspannt und aufmerksam sind.
Als die Jugendlichen für einen Mittagsschlaf applaudierten, dachte ich an die Bemühungen, den morgendlichen Schulbeginn im Gymnasium nach hinten zu verschieben. Es scheint für Teenager biologisch gesünder zu sein, etwas später aufzuwachen. Das hat nichts damit zu tun, dass sie faul oder stur sind, sondern entspricht einfach ihrer biologischen Uhr. In diesem Sinne beschlossen zwei Schulen in Minnesota einen späteren Schulbeginn, was zu einer deutlich niedrigeren Schul-Ausfallsrate, weniger Depressionen und besseren Noten führte (Wahlstrom, K., 2002). Jeder Teenager auf der ganzen Welt würde uns sagen, dass es für ihn besser ist, später schlafen zu gehen und später aufzustehen. Wir hätten bloß fragen müssen.
Wenn wir unseren Schülern nicht zuhören, führen wir einen ständigen Kampf gegen sie. Wenn wir auf ihren natürlichen Bewegungsdrang nicht eingehen, müssen wir entweder ständig dagegen ankämpfen oder sie durch Medikamente ruhig stellen, damit sie den ganzen Tag ruhig sitzen bleiben. Wenn wir unseren Schülern keine gesunden Wege zeigen, um schwierige Gefühle auszudrücken, dann werden sie uns letztlich dauernd durch ihr Verhalten frustrieren. Wenn wir ihnen nicht beibringen, wie man aufmerksam ist, bleibt uns nichts übrig, als sie anzuschreien, wenn sie unaufmerksam sind. Unzählige Lehrer haben mir ihr Leid geklagt, weil sie das Gefühl haben, sich in einem Kriegszustand zu befinden, in dem genau die Kinder ihre Gegner sind, denen sie eigentlich helfen wollen.
Jahr für Jahr beobachte ich, wie Lehrer an ihrem ersten Unterrichtstag motiviert und hoffnungsvoll wie ein kleines Kind das Klassenzimmer betreten. Doch traurigerweise sind sie bereits gegen Ende des ersten Schuljahrs vollkommen überlastet und sehnen den letzten Schultag herbei. Die National Commission on Teaching and America’s Future berichtet, dass 46 Prozent aller neuen Lehrer in den Vereinigten Staaten ihrem Beruf innerhalb von fünf Jahren wieder den Rücken kehren. „In den Jahren 1987–88 hatte der durchschnittliche Lehrer 15 Jahre Erfahrung, bereits im Jahre 2007–08 waren es nur mehr 1–2 Jahre“ (Black, L. u. a., 2008). Die Ausfallrate der Lehrer ist höher als die der Kinder. Bevor guter Unterricht und effektives Lernen stattfinden kann, müssen wir ein Umfeld schaffen, in dem Lehrer und Schüler nicht nach dem Notausgang suchen müssen. Wir müssen uns um das Innenleben von Lehrern und Schülern kümmern.