Читать книгу Die achtsame Schule - Daniel Rechtschaffen - Страница 12
ОглавлениеDie Geschichte der achtsamen Erziehung
Nach dem Zweiten Weltkrieg beauftragte die Weltgesundheitsorganisation den Psychologen John Bowlby die psychische Gesundheit der Kinder in Europa zu untersuchen. In seinem Fachgutachten lesen wir: „Wenn der Säugling und das Kleinkind seine warme, intime und dauerhafte Beziehung zu seiner Mutter (oder einem Mutterersatz) hat, erleben beide Befriedigung und Freude“ (Bowlby, J., 1951). Das mag Ihnen nicht besonders bemerkenswert erscheinen; das Schockierende an dieser Aussage ist, dass sie für die Eltern und Lehrer dieser Zeit durchaus revolutionär war. Bowlbys Meinung, dass Kinder Wärme und Zuwendung brauchen, um zu gesunden Erwachsenen heranzuwachsen, wurde heftig angegriffen. Viele waren der Ansicht, solange ein Kind genügend Nahrung und ein Dach über dem Kopf hätte, würde es dem Kind gut gehen. Wenn ein Kind emotional- oder verhaltensauffällig war, wurde das nicht mit möglicher Vernachlässigung oder Missbrauch in Verbindung gebracht. Je mehr auf diesem Gebiet geforscht wird, desto offensichtlicher ist der Zusammenhang zwischen dem emotionalen Umfeld eines Kindes und seiner geistigen und körperlichen Entwicklung, ja selbst seinem beruflichen und privaten Erfolg als Erwachsener.
Natürlich war die Vorstellung einer emphatischen Präsenz beim Unterricht nicht vollkommen neu. Pädagogische Visionäre wie Maria Montessori und Rudolf Steiner traten schon lange vor Bowlbys Studie für sinnlich und emotional zugängliches Unterrichten ein. Wenn wir die Ursprünge unserer Sprache zurückverfolgen, sehen wir, dass das Wort Lernen denselben etymologischen Wurzeln entstammt, wie die Begriffe Spur und Erforschen. Einstmals fand Lernen nicht an rechteckigen Schreibtischen statt, sondern unter freiem Himmel, unter dem unsere Vorfahren ihren Eltern über Stock und Stein folgten und lernten, die Fährten von Reh, Fuchs und Bär zu erkennen. Man lernte nicht über Sterne, Tiere und die vier Elemente sondern von ihnen. Sein Kind mit zur Arbeit zu nehmen war eine Selbstverständlichkeit. Ursprünglich war Lernen eine ganzheitliche, beziehungsbezogene und rein sinnliche Erfahrung.
Obwohl einigen Lehrern, die Bedeutung ganzheitlichen Lernens schon immer bewusst war, haben die Lehrpläne der öffentlichen Schulen bis jetzt sehr wenig dazu beigetragen, um das volle Spektrum emotionaler, sozialer, physischer und anderer Facetten des „ganzen Kindes“ zu berücksichtigen. In den frühen 80-er Jahren stellte Howard Gardner seine Theorie der „multiplen Intelligenzen“ auf (Gardner, H., 1983). In dieser Theorie beschreibt Gardner neun relativ unabhängige Bereiche der menschlichen Intelligenz, die allesamt gefördert und trainiert werden müssen. Sie sind: die sprachliche, die logisch-mathematische, die musikalische, die bildlich-räumliche, die körperliche, die interpersonale, die intrapersonale, die naturalistische und die existentielle Intelligenz. Wenn wir uns die Bedeutung all dieser meist vernachlässigten Aspekte vor Augen führen, entdecken wir möglicherweise auch in uns selbst Aspekte, die von Eltern und Schule unbeachtet geblieben sind.
Als ein eher interpersonal, intrapersonal, naturalistisch und existentiell denkender Mensch, hatte ich in der Schule immer das Gefühl, nicht klug genug zu sein. Aufgrund des logisch-mathematisch orientierten Schulsystems, in dem ich aufwuchs, dachte ich oft, dass „irgendetwas mit mir nicht stimmt“. Wie viele Kinder, denen – genau wie mir – Auswendiglernen und mathematisches Denken nicht liegen, fühlen sich hilflos, kommen mit dem Stoff nicht zurecht und leben dann jahrelang in dem Gefühl, hinterherzuhinken. Ich empfand es als zutiefst befreiend, als ich bei meinem späteren Studium der Philosophie, Psychologie und Meditation – zu meinem großen Erstaunen – feststellen durfte, dass mir diese Art des Lernens überdurchschnittlich leicht fiel.
Seit Daniel Goleman den Begriff „emotionale Intelligenz“ prägte, steht neben dem reinen IQ auch der EQ („Emotionaler Quotient“) im Blickpunkt pädagogischer Diskurse. Golemans Arbeit unterstützte die Befürworter des „Sozialen Emotionalen Lernens“ (SEL), die schon in den späten 60-er Jahren die wertorientierte Bildungsarbeit in die Schulen brachten. Ausgehend von dem medizinischen Fachbereich des Yale Child Study Center verbreiteten sich die Programme für SEL in den größten amerikanischen Schulbezirken und auf der ganzen Welt. Es stellte sich heraus, dass sie nachgewiesenermaßen Emotionsregulation, Sozialkompetenz und Resilienz fördern und die akademischen Leistungen um 13 Prozent verbessern konnten (Durlak, J. u. a., 2011).
SEL-Programme unterstützen Schüler bei der Entwicklung folgender fünf sozial-emotionaler Kompetenzen:
• Selbstmanagement
• Eigenwahrnehmung
• soziales Bewusstsein
• Beziehungsfähigkeit
• verantwortliches Handeln.
Eine der führenden Visionäre des SEL ist Linda Lantieri, die Direktorin des „Inner-Resilience-Program“ und Gründungsmitglied der „Collaborative for Academic, Social and Emotional Learning“ (CASEL). Bei einer Konferenz über Achtsamkeit in der Schule am Omega-Institut leitete ich eine Diskussion mit Lantieri, Goleman und dem Neurowissenschaftler, Autor und Professor für Psychiatrie Daniel Siegel. Lantieri und Goleman berichteten ausführlich von ihren ersten Gesprächen 20 Jahre zuvor, aus denen schließlich CASEL hervorgehen sollte. Ich fragte diese beiden Visionäre, die einen grundlegenden Beitrag zum Wandel unseres Verständnisses von Erziehung leisteten, welche Rolle Achtsamkeit in der Zukunft unseres Schulsystems spielen könnte.
Die Antwort war eindeutig. Sie sprachen über die Kernkompetenzen des SEL und erklärten, dass Achtsamkeitsübungen der geeignetste Weg seien, um diese Kompetenzen auszubilden. Siegel fasste alles bisher über SEL und Achtsamkeit gesagte in einem Wort zusammen: Integration.
Er erklärte Lantieris und Golemans Aussagen über die Auswirkungen von Achtsamkeit auf Verhalten, Gefühle und Aufmerksamkeit aus dem Blickwinkel der Neurowissenschaft. Er beschrieb, wie Achtsamkeitsübungen die Integration unterschiedlicher Hirnareale fördert und sie durch synaptische Verbindungen vernetzt. Wenn das Gehirn durch Achtsamkeit auf diese Weise vernetzt wird, dann entwickeln sich die fünf Kompetenzen Selbstmanagement, Selbstwahrnehmung, Sozialbewusstsein, Beziehungsfähigkeit und verantwortliches Handeln von alleine.
Statt die Kinder zu ermahnen, doch freundlich, aufmerksam und ausgeglichen zu sein, fördert eine Achtsamkeitspraxis diese Eigenschaften aktiv. Deswegen bezieht der auf Ethik und Wertschätzung basierende Lehrplan vieler SEL-Programme auch Achtsamkeitsübungen mit ein. Deswegen ist Achtsamkeit eine große Bereicherung und Ergänzung für die Weisheit des sozial emotionalen Lernens, der Theorie der multiplen Intelligenzen und anderer bewusster Erziehungsphilosophien. Statt bestehende pädagogische Paradigmen einfach beiseite zu schieben, unterstützt Achtsamkeit die kognitiven, physischen und zwischenmenschlichen Aspekte des Lernens.