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B. Marktmacht, Marktbeherrschung und wirksamer Wettbewerb – ökonomische und juristische Aspekte

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Der Lerner-Index als Konzept zur Erfassung von Marktmacht ist wirtschaftstheoretisch fundiert und kann im Prinzip auf alle Marktformen angewandt werden. Er macht deutlich, dass die Marktmacht eines Unternehmens oder einer Gruppe von Unternehmen sowohl durch die Ausweichmöglichkeiten der Konsumenten auf der Nachfrageseite als auch durch die Handlungsmöglichkeiten aktueller oder potentieller Konkurrenten auf der Angebotsseite beschränkt ist. Durch beide Seiten, sowohl durch Nachfrage- als auch durch Angebotssubstitution, werden der Marktmacht wettbewerbliche Schranken gesetzt. Weiterhin erlaubt dieses Konzept eine Unterscheidung verschiedener Grade von Marktmacht, sodass im Prinzip festgestellt werden kann, ob und wie stark sich die Marktmacht eines Unternehmens z.B. aufgrund einer Fusion verändert oder ob ein Unternehmen über eine größere oder geringere Marktmacht verfügt als ein anderes. Eine wesentliche Voraussetzung für eine Abschätzung von Marktmacht mithilfe des Lerner-Index ist die Verwendung der langfristigen Grenzkosten. Würde man stattdessen die kurzfristigen Grenzkosten heranziehen, so käme man, insbesondere in Industrien mit hohen Fixkosten, zu falschen Einschätzungen. Eine unmittelbare Anwendung des Lerner-Index zur direkten Ermittlung von Marktmacht erweist sich, wie auf den Seiten 82–84 dargelegt wird, aus einer Reihe von Gründen als problematisch.

Auch ist zu berücksichtigen, dass die Beschreibung von Marktmacht durch die Abweichung des Preises von Grenzkosten in erster Linie dazu geeignet ist, allokative Ineffizienzen zu erfassen; mit gewissen Einschränkungen kann der Lerner-Index darüber hinaus ein Indiz für das Vorliegen produktiver Ineffizienzen sein.18 Es handelt sich bei diesem Index eher um ein statisches Konzept, mit dem man keine Aussagen über die dynamische Effizienz treffen kann. Wie auf den Seiten 21f. und 50–54 dargelegt, ist für die Gewährleistung dynamischer Effizienz jedoch ein gewisses Maß an Marktmacht erforderlich. Hier findet der Wettbewerb zwischen den Unternehmen nicht mittels Preisen oder Mengen statt, sondern durch Prozess- oder Produktinnovationen. Dieser Wettbewerb kann nur dann funktionieren, wenn die Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, auch die Möglichkeit haben, sich die Erträge ihrer Investitionen anzueignen. Dies kann z.B. durch einen Patentschutz erreicht werden, der einem Unternehmen Marktmacht zumindest für einen gewissen Zeitraum vermittelt. Auch hat die Untersuchung verschiedener Marktstrukturen deutlich gemacht, dass dynamische Effizienz eher in einem oligopolistischen Markt zu erwarten ist. Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass es, insbesondere für die Frage der dynamischen Effizienz, im Allgemeinen wettbewerbspolitisch nicht sinnvoll ist, jegliche Marktmacht, d.h. jedes Abweichen des Preises von den Grenzkosten zu verhindern. Marktmacht und Effizienz sind daher keine diametralen Gegensätze, sondern ein gewisses Maß an Marktmacht kann für dynamische Effizienz erforderlich sein. Die Beschränkung auf den Preisaspekt würde den Wettbewerb mittels Innovationen unberücksichtigt lassen. Vollkommener Wettbewerb sollte daher nicht das Ziel einer ökonomisch sinnvollen Wettbewerbspolitik sein. Nach in den Wirtschaftswissenschaften weithin akzeptierter Auffassung ist vielmehr ein wirksamer Wettbewerb (Effective Competition) anzustreben, der am ehesten geeignet ist, die ökonomischen Ziele der allokativen, produktiven und dynamischen Effizienz zu erreichen und marktmachtbedingte Umverteilungen zu vermeiden (Konsumentenwohlfahrtsstandard).

Welches Maß an Marktmacht akzeptiert werden sollte, d.h. was unter wirksamem Wettbewerb konkret verstanden werden soll, hängt auch davon ab, ob eher eine kurzfristige oder eine langfristige Betrachtung zugrunde gelegt wird. Wird großes Gewicht auf die kurzfristigen Auswirkungen von Marktmacht gelegt, dann gehen die allokativen Aspekte weitaus stärker in die Erwägungen ein als bei einer langfristigen Betrachtung. Daher ist das Konzept des wirksamen Wettbewerbs auch durch normative Setzungen beeinflusst. Weiterhin ist für die Konkretisierung des Konzeptes des wirksamen Wettbewerbs auch die praktische Umsetzbarkeit von Bedeutung. So werden geringe Grade von Marktmacht nicht ermittelbar sein; vielmehr ist diese praktisch erst dann festzustellen, wenn sie oberhalb einer Mindestgrenze liegt. Wirksamer Wettbewerb liegt demnach dann vor, wenn ein bestimmter, auch normativ festgelegter Grad an Marktmacht nicht überschritten wird. Dieser Grad an Marktmacht kann für verschiedene Märkte unterschiedlich bestimmt werden. So könnte in Märkten, in denen Innovationen den zentralen Wettbewerbsparameter bilden, eine größere Marktmacht akzeptabel sein, da der Wettbewerb nicht im Markt, sondern um den Markt stattfindet, als z.B. in ausgereiften Märkten, in denen keine bedeutenden Innovationen zu erwarten sind.19 Ein ähnliches Argument gilt für Industrien, in denen erhebliche Fixkosten anfallen, die durch Preise oberhalb der Grenzkosten gedeckt werden müssen. Ein solches Konzept des wirksamen Wettbewerbs bietet darüber hinaus die Möglichkeit, eine Verbindung zwischen dem ökonomischen Begriff der Marktmacht und dem juristischen Begriff der Marktbeherrschung herzustellen. Da wirksamer Wettbewerb im Sinne der oben gegebenen Definition erst dann beschränkt wird, wenn die Marktmacht eine bestimmte Grenze überschreitet, könnte ein derartiges Maß an Marktmacht als Marktbeherrschung interpretiert werden.20 Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch Marktbeherrschung nicht notwendig negativ zu beurteilen ist. Wenn ein Unternehmen z.B. aufgrund einer innovativen kostensparenden Technologie eine marktbeherrschende Stellung erreicht hat, ist dies eine normale Begleiterscheinung eines wirksamen Wettbewerbs und erfordert keinen wettbewerbspolitischen Eingriff. Wenn allerdings Marktmacht durch Verhaltensweisen erreicht wurde, die nicht wettbewerbskonform sind, oder wenn eine marktbeherrschende Stellung dazu missbraucht wird, andere Wettbewerber zu behindern, ist durch entsprechende Maßnahmen sicherzustellen, dass ein wirksamer Wettbewerb wiederhergestellt wird. Auch aus ökonomischer Sicht ist daher zwischen Marktbeherrschung und dem Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu unterscheiden.

Der Zusammenhang zwischen den Begriffen der Marktbeherrschung und der Marktmacht ist in der Rechtspraxis heute allgemein anerkannt. So findet sich im Glossar der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission unter dem Begriff der beherrschenden Stellung folgenden Definition: „Ein Unternehmen hat eine marktbeherrschende Stellung inne, wenn es in der Lage ist, sein Verhalten unabhängig von seinen Wettbewerbern, Kunden, Lieferanten und letztlich den Endverbrauchern zu bestimmen. Ein beherrschendes Unternehmen mit einer derartigen Marktmacht könnte die Preise über dem Wettbewerbsniveau festlegen, Produkte von minderwertiger Qualität verkaufen oder seine Innovationsrate unter das Niveau absinken lassen, das auf einem Wettbewerbsbestimmten Markt vorhanden wäre. (...).“21 Eine ähnliche Formulierung findet sich in den Leitlinien zur Bewertung horizontaler Unternehmenszusammenschlüsse:22 „Mit der Fusionskontrolle verhindert die Kommission Zusammenschlüsse, die geeignet wären, den Verbrauchern diese (niedrige Preise, hochwertige Produkte, Innovation etc.) Vorteile vorzuenthalten, indem die Marktmacht der Unternehmen spürbar erhöht würde. Erhöhte Marktmacht bezeichnet die Fähigkeit eines oder mehrerer Unternehmen, Gewinn bringend die Preise zu erhöhen, den Absatz, die Auswahl oder Qualität der Waren oder Dienstleistungen zu verringern, die Innovation einzuschränken oder die Wettbewerbsparameter auf andere Weise zu beeinflussen.“

Der Begriff der Marktbeherrschung, der bis zum 1.5.2004 als zentrales Kriterium für die Europäische Fusionskontrolle galt und dem auch heute sowohl dort als auch im Rahmen der Missbrauchsaufsicht des Art. 102 AEUV eine grundlegende Bedeutung zukommt, ist im europäischen Recht nicht positivrechtlich definiert. Die Entscheidungspraxis von Gerichten und Kommission zu Art. 86 EGV (heute Art. 102 AEUV) hat zu einer Begriffsbestimmung geführt, nach der eine marktbeherrschende Stellung anzunehmen ist, wenn ein Unternehmen eine wirtschaftliche Machtstellung besitzt, die es in die Lage versetzt, die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs auf dem Markt zu verhindern, indem sie ihm die Möglichkeit verschafft, sich seinen Wettbewerbern, seinen Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber in einem wesentlichen Umfang unabhängig gegenüber zu verhalten.23 In ihrem XXI. Wettbewerbsbericht24 hat die Kommission ausgeführt, dass sie bei der Auslegung von Art. 2 Abs. 3 FKVO im Wesentlichen der vom Gerichtshof für die Anwendung von Art. 86 (jetzt Art. 102 AEUV, vormals Art. 82 EG) gegebenen Definition einer beherrschenden Stellung folgen wolle. Unterschiede könnten sich allerdings aufgrund der Zukunftsbezogenheit der Zusammenschlusskontrolle und deren stärker strukturorientiertem Ansatz ergeben. Während für die Anwendung dieser recht abstrakten Definition im Rahmen der retrospektiven Missbrauchskontrolle eine bestimmte Verhaltensweise bereits Ausdruck gesteigerter Marktmacht sein kann und damit ein konkreter Anknüpfungspunkt für die Feststellung der Möglichkeit zu weitgehend unabhängigem Verhalten gleichsam mit an die Hand gegeben ist, stellt sich die Situation bei der prospektiven Fusionskontrolle wesentlich schwieriger dar.

Den mit der beherrschenden Stellung verbundenen Nachweis eines nicht hinreichend kontrollierten Verhaltensspielraums hat die europäische Rechtspraxis insbesondere im Bereich der Fusionskontrolle in zunehmendem Maße als Preissetzungsspielraum konkretisiert, d.h. als die Fähigkeit des betreffenden Unternehmens, die Preise anzuheben, ohne seine Marktposition zu gefährden oder sonst Schaden zu erleiden. Schon in der ersten Verbotsentscheidung der Kommission Aerospatiale/De Havilland heißt es hierzu: „Beide (Konkurrenz-)Unternehmen gehen davon aus, dass ATR/de Havilland nach dem Zusammenschluss anfänglich ihre Preise in der strategischen Absicht senken würden, die Wettbewerber (...) zu verdrängen. Weder Fokker noch British Aerospace sehen sich in der Lage, einen solchen Preiskampf zu bestreiten (...). Nach der Begründung einer Monopolstellung könnten ATR/de Havilland ihre Preise unkontrolliert von Wettbewerbern wieder erhöhen.“25 In der Verbotsentscheidung CVC/Lenzing begründete insbesondere die Feststellung der Möglichkeit und aufgrund der bestehenden Anreize auch der Wahrscheinlichkeit zu Kapazitätsbeschränkungen und damit letztlich zu Preissteigerungen die Untersagung durch die Kommission.26 In der Freigabeentscheidung nach Art. 8 Abs. 2 FKVO Oracle/People Soft wurden die Auswirkungen des Zusammenschlusses mithilfe eines sog. Merger Simulation Models insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit der neuen Einheit, nach der Fusion die Preise zu erhöhen, überprüft.27

Nach der Definition des EuGH geht es um die Möglichkeit, sich Wettbewerbern, den Abnehmern und letztlich den Verbrauchern gegenüber in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten.28 Damit wird zum einen anerkannt, dass vollständig unabhängiges Verhalten in der Regel nicht möglich ist; zum anderen wird hier aber auch berücksichtigt, dass jedenfalls im Bereich heterogener Produkte jeder Anbieter einen gewissen Verhaltensspielraum hat. Die Definition macht klar, dass die Frage danach, wann eine beherrschende Stellung zu bejahen ist, eine Maß- und Gradfrage ist.

Wenngleich der Begriff der marktbeherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV und in Art. 2 der FKVO undifferenziert Verwendung findet und damit ähnlich wie in § 19 GWB eine formale Identität von Marktbeherrschung im Rahmen der Missbrauchsaufsicht einerseits und der Fusionskontrolle andererseits besteht, bedingen die unterschiedlichen Regelungsbereiche in gewissem Umfang eine unterschiedliche, zweckgebundene Ausfüllung.29

18 So könnte eine geringe Differenz zwischen Preis und Grenzkosten bei einem Monopol auf überhöhte Grenzkosten, d.h. produktive Ineffizienzen hindeuten. 19 Vgl. Office of Fair Trading (2002), 43–51 sowie Geroski (2003). 20 Vgl. Bishop/Walker (2010), 227. Dies soll keinesfalls die Gleichsetzung der Konzepte signifikanter Marktmacht im ökonomischen Sinne und Marktbeherrschung im juristischen Sinne bedeuten. Der juristische Begriff der Marktbeherrschung umfasst, neben dem ökonomischen Aspekt, noch weitere Aspekte, wie z.B. den Schutz von Freiheitsrechten Dritter, die im ökonomischen Konzept der Marktmacht bestenfalls indirekt eine Rolle spielen. 21 Glossar der Wettbewerbspolitik der EU, GD Wettbewerb, Brüssel 2002, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/publications/glossary_de.pdf (Hervorhebung durch Verf.). 22 ABl. v. 5.2.2004 C 31/5, Rdnr. 8. 23 EuGH, Urt. v. 13.2.1979, Rs. 85/76 – Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461, Rdnr. 38 u. 39; EuG, Urt. v. 24.4.1996, Rs. T-102/96 – Gencor, Slg. 1999, II-753, Rdnr. 200; Komm. v. 17.10.2001 (COMP/M.2187) – CVC/Lenzing, Rdnr. 136. Es wurde auf S. 22 Fn. 35 bereits darauf hingewiesen, dass selbst ein reines Monopol sich nicht völlig unabhängig von seinen Abnehmern verhalten kann, da es die Nachfragefunktion bei seiner Entscheidung berücksichtigen muss. 24 Vgl. 362, 406f. 25 Komm. v. 2.10.1991, (COMP/M.53) – Aerospatiale-Alenia/de Havilland, Rdnr. 69; vgl. ferner Komm. v. 11.12.1998 (IV/M.1293) – BP/Amoco, Rdnr. 37: „The Combination of BP and Amoco would not amount to a dominant position. (...) it is dubious that any price increase might be successful as any of the (...) customers have strong countervailing power.“; Komm. v. 3.5.2000 (IV/M.1693) – Alcoa/Reynolds, Rdnr. 85, 94, 112, 124; Komm. v. 3.7.2001 (COMP/M.2220) – GE/Honeywell, Rdnr. 427; Komm v. 31.1.2003 (COMP/M.3060) – UCB/Solutia, Rdnr. 42; Komm. v. 2.10.2003 (COMP/M.3191) – Philip Morris/Papastratos, Rdnr. 36: „In view of the foregoing, the Commission concludes that the new entity is unlikely to have either the ability or the incentive to unilaterally raise prices post-merger to the detriment of the consumers.“ (Freigabe); Komm v. 26.10.2004 (COMP/M.3426) – Phoenix/Continental, Rdnr. 141, 176; Komm. v. 9.12.2004 (COMP/M.3440) – EDP/ENI/GDP, Rdnr. 422ff., 428: „It follows from these findings that, as a result of the operation, EDP will have the ability and the incentive to significantly foreclose its competitors (...) by raising the level of gas prices (...). This factor, in itself, will strengthen EDP’s dominant position (...).” (Untersagung). 26 Komm. v. 17.10.2001 (COMP/M.2187) – CVC/Lenzing, Rdnr. 161ff. 27 Komm. v. 26.10.2004 (COMP/M.3216) – Oracle/People Soft, Rdnr. 191, 205; ebenso Komm. v. 7.1.2004 (COMP/M.2978) – Lagardère/Natexis/VUP, Rdnr. 700ff. 28 EuGH, Urt. v. 11.12.1980, Rs. 31/80 – L’Oréal, Rdnr. 30. 29 So auch ausdrücklich die Leitlinien der Kommission zur Marktanalyse und Ermittlung beträchtlicher Marktmacht nach dem gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. 2002 C 165/06, Rdnr. 70: „Bevor diese neue Definition der beherrschenden Stellung ex-ante angewendet werden kann, ist jedoch die Methode zur Ermittlung der Marktmacht anzupassen. Bei der ex-ante Beurteilung, ob Unternehmen alleine oder gemeinsam auf dem relevanten Markt eine beherrschende Stellung einnehmen, sind die nationalen Regulierungsbehörden grundsätzlich auf andere Hypothesen und Annahmen angewiesen als eine Wettbewerbsbehörde bei der Ex-Post-Anwendung von Art. 82 im Hinblick auf eine angebliche missbräuchliche Ausnutzung.“

Kartellrecht und Ökonomie

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