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Ich wartete auf einen Brief von Julie, aber in der Post fand ich nichts als eine Flut von Werbung. Gerade wollte ich den gesamten Inhalt meines Briefkastens in den Müll werfen, als eines der Faltblätter meine Aufmerksamkeit erregte. Der indische Ableger einer amerikanischen Frauenzeitschrift veranstaltete in einem großen Hotel in der Stadt die jährliche „Fashion Fair“ und lud mich persönlich ein. Da ich sonst nichts zu tun hatte, ließ ich mich am nächsten Tag von Kuber hinfahren. Gelangweilt schlenderte ich zwischen den unterschiedlichsten Messeständen herum: Kosmetika, Haarpflege, Epilation, Schmuck, Schönheitsoperationen, Maniküre… Die Menschenmengen machten mich nervös und die weibliche Schönheitshysterie erst recht. Obwohl ich nichts Bestimmtes erwartet hatte, war ich von diesem seichten, oberflächlichen Programm enttäuscht und nach weniger als einer halben Stunde drauf und dran, der „Fashion Fair“ den Rücken zu kehren. Im letzten Moment entdeckte ich eine junge Hostess und fragte sie eher beiläufig nach interessanteren Veranstaltungen. Sie schickte mich in die erste Etage zu einem Vortrag über indisches Scheidungsrecht. Warum eigentlich nicht?

Der Raum war zum Bersten gefüllt. Vor dem Rednerpult stand eine attraktive, hellhäutige Inderin, die sich angeregt mit ein paar jungen Frauen unterhielt. Ich stellte mich als deutsche Journalistin vor und bat um die Erlaubnis, den Vortrag auf Band aufnehmen zu dürfen. Auch meiner Bitte nach einem anschließenden Interview wurde freundlich stattgegeben. Mrs. Singh entpuppte sich als höchst versierte, eloquente Anwältin, deren Ausführungen auch der juristische Laie leicht folgen konnte. Die Scheidungsrate in Indien war in den letzten beiden Jahrzehnten rasant gestiegen und wuchs jährlich um ein Vielfaches. Die gesetzlichen Regelungen sahen eine Ehescheidung zwar grundsätzlich vor, waren aber so veraltet, dass sie den Notwendigkeiten der heutigen Zeit kaum Rechnung tragen konnten. Mrs. Singh bezeichnete die Scheidung gleichzeitig als ein Privileg und ein Problem der städtischen Mittel- und Oberschicht. Junge indische Frauen waren heute bedeutend gebildeter und selbstbewusster als ihre Mütter und Großmütter. Während sich die Frauen früher aus Traditions- und Pflichtbewusstsein in ihre klar definierte Rolle gefügt hatten, brachte das neue Selbstbewusstsein der Frauen vor allem kritische Urteilskraft und den Wunsch nach Selbstverwirklichung und Selbstbehauptung mit sich. Ehen waren kompliziert geworden. Sie forderten auch von den Männern eine Abkehr von tradiertem Rollenverhalten – und drohten an dieser neuen Komplexität zu scheitern.

Ich sah mich prüfend im Saal um. Die hier Versammelten gehörten ohne Zweifel der urbanen Mittel- und Oberschicht an. Goldschmuck und feinste Stoffe deuteten auf überdurchschnittlichen Wohlstand hin. Sie suchten juristischen Rat bei Mrs. Singh, applaudierten heftig und emotional, als sie ihren Vortrag beendet hatte, und drängten sich in Scharen um sie, um Fragen zu stellen und Termine zu vereinbaren. Erst als sich der Tumult um Mrs. Singh ein wenig gelegt hatte, kam ich näher und lud sie zu einer Tasse Tee ein. Während wir uns durch die noch diskutierende Menge drängten, verteilte die junge Anwältin unermüdlich Visitenkarten.

„Sie haben heute sicher viele neue Klientinnen gewonnen. Ihr Vortrag war hervorragend“, lobte ich. Wir fanden einen Tisch in der Nähe des Fensters.

„Welchen Eindruck haben Sie von den indischen Frauen, Miss von Teubner?“

„Spontan scheint es mir, als suchten sehr viele von ihnen nach einer neuen, einer eigenen Identität. Ich bin sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie diese Suche, dieser Wandel vonstatten geht.“

Mrs. Singh lächelte. „Ja, wir suchen eine neue Identität. Das ist die eigentliche Ursache der vielen Konflikte und leidvollen Trennungen. Scheidung ist nur das sichtbare Ergebnis gescheiterter Konfliktlösung. Es ist, als hätten wir zum ersten Mal in der Geschichte die Wahl, zu entscheiden, was wir wirklich wollen. Es ist wie ein kollektives Erwachen, und für den Einzelnen kann es sehr schmerzhaft sein. Wie werden Sie Ihren deutschen Lesern das Thema präsentieren?“

Eigentlich war es ja Rondorfs Thema. Doch plötzlich begann es, mich selbst zu interessieren. Ich redete ohne nachzudenken: „Grundthema soll die neue Rolle der indischen Frau in der Gesellschaft sein. Ein wichtiger Aspekt ist sicher der sozialwissenschaftliche, den Sie vorhin angesprochen haben: der Wandel der traditionellen Rolle in Abhängigkeit von der sozialen Schicht oder Kaste. Eher emotional könnte die Frage interessant sein, warum eine wachsende Zahl von deutschen Frauen wieder nach der Geborgenheit in einer festen ehelichen Partnerschaft sucht, während die Inderinnen aus dieser auszubrechen versuchen.“

Wir diskutierten angeregt über mögliche Gründe für eine solche Entwicklung. Noch immer war die Ehe in Indien vor allem ein soziales Arrangement auf der Basis reiner Vernunft. Die Liebesheirat, wie wir sie kennen, kam zwar immer häufiger vor, war aber für die meisten nach wie vor ein sentimentales Ideal, das sich nur selten als alltagstauglich erwies. Je mehr Wert auf materiellen Wohlstand gelegt wurde, desto größere Bedeutung hatte die Mitgift, was soweit gehen konnte, dass Frauen zur reinen Handelsware für skrupellose Mitgiftjäger wurden. Auch die zunehmende Orientierung an westlichen Werten führte zu Problemen. Es schien, als seien die Inder plötzlich bereit, ihre Jahrtausende alte Kultur hinter sich zu lassen und westlichen Lebensmodellen zu huldigen, die materiellen Wohlstand und romantische Liebe über alles andere stellen. Daraus ergaben sich groteske Unstimmigkeiten, zum Beispiel die, dass Frauen auf der einen Seite zu einer Art Handelsware gemacht wurden und man ihnen auf der anderen Seite den Traum von der glücklich machenden Liebesheirat vorgaukelte.

Mrs. Singh beurteilte das Thema sehr einfühlsam: „Die Menschen suchen nach Glück und Zufriedenheit. Doch die Mittel, die sie einsetzen, um dieses Glück zu bekommen, machen sie oft nur noch unglücklicher, zerrissener und orientierungsloser. Sie scheinen gar nicht zu wissen, was Glück bedeutet und wie man es findet.“

Ich nahm ihre Worte mit wachsendem Interesse auf. Sprach sie etwa auch von den Grenzen des „kleinen“ Ichs, von denen der alte Schlangenbeschwörer gesprochen hatte? Die Welt, in der wir leben, gibt uns Werte und Wünsche mit, und oft wissen wir nicht, ob es unsere eigenen oder fremde sind. Wir alle sind eingeschränkt durch das soziale Gefüge, in dem wir aufgewachsen sind, durch gemeinschaftliche und persönliche Werte, Erfahrungen, Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen. Und nur allzu gern würden wir diese Grenzen überschreiten. Wir fühlen uns als Gefangene eines fest gefügten sozialen Systems, in dem es keinen Raum für individuelle Entfaltung und persönliche Freiheit gibt. Aber vielfach besteht der Preis der Veränderung in vollkommener Grenzenlosigkeit oder im Übernehmen von Werten, die nicht der eigenen Natur entsprechen, und das bedeutet den völligen Verlust der eigenen Identität. Auf unserer richtungslosen Suche sind wir blind bereit, andere Glaubens- und Sozialsysteme zu übernehmen, ohne uns zu fragen, wer wir eigentlich sind, wo unsere Wurzeln liegen und was wir selbst wollen. War es mir nicht mit meinem verzweifelten Wunsch nach einer neuen Herausforderung ebenso ergangen? Ich hatte ausbrechen wollen aus der Berechenbarkeit, aus der engen Tradition meines eigenen Lebens, und sah mich nun in ein gänzlich fremdes Leben versetzt. Würde ich richtungslos umherschwimmen oder indische Werte zu meinen eigenen machen, nur um mich sicher zu fühlen?

„Miss von Teubner?“, hörte ich Mrs. Singhs Stimme.

„Entschuldigen Sie. Ich war ganz in Gedanken.“

„Seit wann sind Sie in Indien?“

„Seit nicht ganz zwei Wochen.“

„Es müssen sehr viele Eindrücke sein, die Sie in diesen Tagen zu verarbeiten haben. Dann ist das, was ich gerade zu erklären versuchte, bestimmt sehr schwer verständlich für Sie.“

„Ganz im Gegenteil. Das Thema berührt mich sehr persönlich. Es macht sehr viel Sinn.“

Eine noch vage Vermutung kam mir in den Sinn: Betrafen die Fragen, mit denen ich in Bezug auf die indische Gesellschaft konfrontiert wurde, nicht auch meine persönliche Entwicklung? Sprach Sangeeta Singh nicht nur über die indischen Frauen, sondern auch über mich? War es möglich, dass alles, was ich erlebte, und alles, was ich dachte und fühlte, miteinander korrespondierte? Innen und Außen waren plötzlich nicht mehr so eindeutig und klar voneinander zu trennen, wie ich es gewohnt war. Ein unbeschreibliches Gefühl der Sinnhaftigkeit und Verbundenheit mit den äußeren Umständen erfüllte mich mit Staunen und stiller Freude.

Mrs. Singh überreichte nun auch mir ihre Visitenkarte. „Mein Mann und ich geben nächsten Samstag eine Dinner-Party. Ich würde mich freuen, wenn Sie kämen! So gegen acht?“ Vor dem Eingang des Hotels verabschiedeten wir uns. Sangeeta Singhs leichter Gang zeugte von einer gelassenen Selbstbewusstheit. Sie war eine schöne Frau – und sie hatte mich tief beeindruckt.

Shambhala

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