Читать книгу Shambhala - Daniela Jodorf - Страница 8
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Ich nutzte meine freie Woche für Einkäufe und Sightseeing und erkundete die Stadt, in der ich nun zu Hause war. Zunächst besuchte ich verschiedene Tempel und fuhr nach Old Delhi, um Gewürze und Stoffe einzukaufen. Dann sah ich mir die prächtigen Bauten aus der Zeit der Moghul-Herrschaft an: das Rote Fort und Jama Masjid, die größte Moschee Indiens. Zuletzt stand das Taj Mahal in Agra auf meinem Programm.
Ich schloss mich einer Reisegruppe aus dem Hotel an, die am frühen Donnerstagmorgen in einem klimatisierten Reisebus aufbrach. Der Bus war bis auf den letzten Platz mit hektischen Touristen besetzt, die mir schon vor der Abfahrt auf die Nerven gingen. Aus meinem Entschluss, die Reise schlafend zu verbringen, wurde nichts, denn immer wieder wurde ich durch lautes Hupen geweckt oder fast von meinem Sitz geschleudert, weil der Bus ungebremst über ein Schlagloch gefahren war. Also gab ich es auf und schaute aus dem Fenster. Die Gegend um Delhi war keineswegs so trocken und unfruchtbar, wie ich mir vorgestellt hatte, sondern saftig grün. Immer wieder konnte ich einen Blick auf den Fluss Yamuna erhaschen, der in der Sonne glänzte und der Ebene ihre Fruchtbarkeit verlieh. Mit wachsender Begeisterung betrachtete ich die hübschen Dörfer, die an uns vorüberzogen, und amüsierte mich über die heiligen Kühe, die gemächlich die Straße kreuzten, bei der es sich laut Reiseführer um die „einzige autobahnähnliche“ in ganz Indien handelte.
Kurz vor Agra erwachten meine Mitreisenden einer nach dem anderen aus ihrer Lethargie, und Mr. Govil, unser Reiseleiter, machte sich bereit für die anstehende Exkursion, indem er sich das blauschwarze Haar kämmte. Ich fühlte mich als sähe ich den Film meiner eigenen Reise nach Indien, einen Film, in dem ich zwar mitspielte, den ich aber gleichzeitig wie ein unbeteiligter Dritter, ein stiller Beobachter, betrachtete. Als solcher erlebte ich alles distanziert und tief berührt zugleich. Meine Wahrnehmung war plötzlich von anderer, intensiverer Qualität.
Der Bus hielt an unserem Ziel, und bevor wir ausstiegen, warnte Mr. Govil uns eindringlich vor Taschendieben und aufdringlichen Souvenirverkäufern. Wir folgten ihm durch den Torbogen aus rotem Sandstein in die weitläufige Gartenanlage, die das Taj Mahal umgibt. Unter schattigen Säulenarkaden machten wir Halt, um uns anzuhören, was er über diesen Traum von einem Bauwerk zu sagen hatte. Sehen konnten wir es von hier aus immer noch nicht. Es lag hinter einer weiteren Mauer aus rotem Sandstein.
„Meine Damen und Herren, ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt hierher nach Agra. Mehr noch als Delhi repräsentiert Agra das Reich der indischen Großmoguln, die ursprünglich aus Zentralasien nach Indien kamen. Ihre islamische Kultur vermischte sich mit der indischen und brachte Bauwerke hervor, die zu den schönsten und bedeutendsten des Subkontinents gehören, und das, obwohl die Großmoguln nicht einmal zweihundert Jahre lang herrschten und es ihnen nie gelang, ihren Herrschaftsbereich auf ganz Indien auszudehnen. Agra erlangte seine größte Bedeutung, als Kaiser Akbar zu Beginn seiner Regierungszeit im Jahre 1556 die Hauptstadt des Moghul-Reiches von Delhi etwas weiter südlich nach Agra verlegte. Die neue Hauptstadt stand für sein Bestreben, das Reich nach Süden hin auszudehnen.“
Grenzen. Historische Grenzen, kulturelle Grenzen, militärische Grenzen, nationale Grenzen, persönliche Grenzen, notwendige Grenzen, willkürliche Grenzen… Warum tauchte dieses Thema immer wieder auf? Es schien sich wie ein roter Faden durch die Ereignisse der letzten Monate meines Lebens zu ziehen.
„Später wählte Shah Jahan, Akbars Enkel, Agra als Standort für das Denkmal seiner ewigen Liebe zu Arjumand Banu, die seit seiner Krönung den Namen Mumtaz Mahal trug. Das bedeutet soviel wie „Erwählte des Palastes“, denn obwohl Shah Jahan wie die meisten Moghul-Kaiser einen Harem hatte, in dem mehr als zweihundert Frauen lebten, galt seine Liebe nur dieser einen. Als Mumtaz Mahal im Alter von nur achtunddreißig Jahren bei der Geburt ihres vierzehnten Kindes starb, trauerte Shah Jahan zwei Jahre lang und ließ dann jenes Bauwerk für sie errichten, das Worte nicht zu beschreiben vermögen und dessen ganze Schönheit von keinem Fotografen der Welt jemals wiedergegeben werden konnte. Es ist ein Meisterwerk der Baukunst, das mit seinen idealen Proportionen perfekte Harmonie zum Ausdruck bringt. Jedes Mal, wenn ich das Taj sehe … und das ist zwei bis drei Mal die Woche …“ – die Gruppe lachte –“ … denke ich: Diese äußere Schönheit ist der Glanz der Seele. Die Betrachtung des Taj gibt mir immer das Gefühl, dass alles am richtigen Platz ist. Die perfekte Anordnung von Wasserläufen, gezähmter Pflanzenwelt und einem von Menschenhand geschaffenen Mausoleum, errichtet aus den edelsten Materialien, weißem Marmor und Halbedelsteinen, muss man mit eigenen Augen gesehen haben, um seinen ganzen Zauber erfassen zu können. Ich versichere Ihnen, wenn Sie es sehen, werden Sie sich ungläubig, vielleicht sogar sehnsüchtig fragen, ob es eine Liebe wie die, die das Taj Mahal symbolisieren soll, überhaupt geben kann. Sie scheint den göttlichen Funken in jenem entfacht zu haben, der es erbauen ließ. Zwanzigtausend Arbeiter haben mehr als zweiundzwanzig Jahre lang an der Vollendung dieses Monuments gearbeitet, das nach Plänen des Liebenden, Shah Jahan persönlich, entstanden sein soll.“
Mr. Govil machte eine Pause, um seine Worte auf uns wirken zu lassen. Als er mit dem Ergebnis sichtlich zufrieden war, fuhr er fort: „Doch leider hat, wie immer im Leben, diese faszinierende Schönheit und bewundernswerte Verehrung auch ihre Schattenseite. Sämtlichen am Bau des Taj Mahal Beteiligten wurden die Hände und Zungen abgehackt, um zu verhindern, dass sie ihr Wissen weitergegeben konnten. Das Taj sollte um jeden Preis einzigartig bleiben. Zudem verschlang der Bau des marmornen Grabmals Unsummen von Geld und brachte den Staat unter der Herrschaft von Shah Jahan an den Rand des Ruins. Das ermöglichte seinem machthungrigen Sohn, Aurangzeb, den Vater zu stürzen und ihn für die letzten acht Jahre seines Lebens in einem Zimmer im Roten Fort von Agra einzusperren.
So war Shah Jahan, entgegen seinem ursprünglichen Vorhaben, nicht mehr in der Lage, für sich selbst ein spiegelgleiches Grabmal aus schwarzem Marmor am gegenüberliegenden Ufer des Flusses Yamuna erbauen zu lassen. Statt dessen saß er Tag für Tag in einem Erkerzimmer des Roten Forts, von dem aus er das Denkmal seiner Liebe sehen konnte. Als er die Umrisse des Taj nicht mehr mit bloßem Auge erkennen konnte, zeigte Aurangzeb Verständnis und ließ einen riesigen geschliffenen Diamanten in die Wand des väterlichen Gefängnisses einbauen. Der Diamant spiegelte auf wundersame Weise das sieben Kilometer weit entfernte Grabmal, so dass der Inhaftierte es bis zu seinem eigenen Tod weiterhin täglich betrachten konnte.
Sie haben jetzt Gelegenheit, das Taj Mahal zu erkunden. Wir sehen uns um 14:30 Uhr dort unter dem Baum wieder. Bitte achten Sie darauf, dass Sie nach dem entsprechenden Hinweisschild keine Fotos mehr machen. Vor dem Betreten des Grabmals müssen Sie Ihre Schuhe ausziehen. Man darf das Taj nur barfuß betreten. Bis später!“
Die Gruppe applaudierte. Ich blieb an dem Platz sitzen, den ich mir während des Vortrags unter den Säulenarkaden gesucht hatte. Erst als alle anderen durch den Sicherheitseingang rechts vom Haupttor verschwunden waren und ich mich mit meinen Wahrnehmungen und Gedanken ungestört wusste, näherte ich mich dem Unbeschreiblichen.
Während ich mich langsam auf das weiße Marmorgebäude zu bewegte, dessen Kuppel sich in dem schnurgeraden Wasserlauf davor spiegelte, merkte ich, dass ich in Gedanken unentwegt zwei Sätze wiederholte, die der Reiseleiter gesagt hatte: „Diese äußere Schönheit ist der Glanz der Seele. Die Betrachtung des Taj gibt mir immer das Gefühl, dass alles am richtigen Platz ist.“ In meinem Inneren breitete sich tiefer, von einer eigentümlichen Wachheit begleiteter Frieden aus. Es war dasselbe Gefühl, dass ich regelmäßig hatte, wenn ich mein Bild mit den blauen Berge betrachtete, jenes Gefühl, das ich niemals mehr verlieren wollte. In diesem Moment gab es nichts auf der Welt außer dem Taj Mahal und mir. Ich war wie in Trance. Als ich die Stufen zum Grabmal erreicht hatte, gab ich meine Schuhe ab und ging, ohne auch nur eine Spur von Schmerz zu empfinden, über den glühendheißen Stein die letzten Stufen hinauf. Jetzt sah ich die Intarsien aus Halbedelsteinen: Blumen und arabische Schriftzeichen in grün, blau, rot und schwarz. Überrascht dachte ich: „Es ist gar nicht rein weiß. Seltsam, dass es aus der Entfernung so wirkt.“
Im Inneren des riesigen Gebäudes war es angenehm kühl. Die Särge von Mumtaz Mahal und Shah Jahan standen hinter aus Marmor gemeißelten Gitterwänden nebeneinander. Ihre Liebe, ihre tiefe, zeitlose Verbundenheit füllte den ganzen Raum. Vielleicht war es Einbildung, die mich das spüren ließ, Einbildung, hervorgerufen durch Mr. Govils lebhafte Erzählung. Oder es war die in mir erwachende Sehnsucht nach einer Liebe, die wahrhafte Schönheit und Hamonie sichtbar machen und alles mit allem in Einklang bringen konnte. Nüchtern und kontrolliert ermahnte ich mich, Träume nicht für erfahrbare Realität zu halten. Hatte Mr. Govil nicht auch gesagt: „Doch leider hat, wie immer im Leben, diese faszinierende Schönheit und bewundernswerte Verehrung auch ihre Schattenseite“?
Erst als sich die Grabkammer füllte und flüsternde Stimmen die Ruhe zerrissen, flüchtete ich hinaus ins Freie. Der weiße Marmor reflektierte die Sonne, und die plötzliche Helligkeit traf mich wie ein Blitz. Geblendet suchte ich Halt an einem Geländer. Rechts von mir erkannte ich im Schatten uralter Bäume die Umrisse einer Moschee. Ein herrlicher Platz für eine kurze Rast, dachte ich und lehnte mich erschöpft an einen der Bäume. Dann muss ich eingeschlafen sein. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, aus tiefem Schlaf zu erwachen, als ich eine schnelle Bewegung neben mir wahrnahm. Erschrocken fuhr ich hoch. Vor mir saß ein dürrer alter Mann und starrte mich ungeniert an. Er trug traditionelle indische Kleidung: ein langes weißes Hemd über einer schmalen Hose in der gleichen Farbe. Mit vor der Brust zusammengelegten Händen machte er eine kleine Verbeugung und grüßte mich: „Namasté.“
Ich erinnerte mich an Mr. Govils warnende Worte und fürchtete die Attacke eines aufdringlichen Händlers. Aber das kindliche Lächeln des Alten ließ meine Abwehr lächerlich erscheinen und so legte auch ich die Hände zusammen und erwiderte seinen Gruß mit ungewohnter Offenheit.
Mit ruhigen, anmutigen Bewegungen öffnete er den flachen runden Korb, den er bei sich trug, holte eine Schlange hervor und hielt sie mir entgegen. Angewidert wollte ich ablehnen, aber der Mann ließ keinen Widerspruch zu und legte mir das Reptil um Arm und Schulter. Der Ekel machte Freude und ehrfürchtiger Verwunderung Platz. Instinktiv wusste ich, dass ich dem Alten vertrauen konnte und die Schlange nicht zu fürchten brauchte. Das Tier wickelte sich geschmeidig um meinen rechten Arm und züngelte mich an. Es fühlte sich kühl und warm zugleich an, geschmeidig und weich, fest und doch biegsam. Mit einem Lächeln dankte ich dem Alten dafür, dass er mir seine Schlange anvertraut hatte. In diesem Moment trafen sich unsere Blicke, und ich war von seinem durchdringenden Blick gefesselt. Er besaß die faszinierendsten Augen, in die ich je gesehen hatte: braun mit einem schmalen blauen Ring, der sich wie ein Band aus Stahl um die Pupille legte, und wenn er lächelte, leuchteten sie in einem tiefen, silbrigen Glanz. Ich war gebannt von der Schönheit dieses alten Mannes, die nicht äußerlich war und gänzlich alterslos wirkte.
„Nur wenige Touristen finden diesen Ort.“
Ich schwieg.
„Mein Name ist Baba, was in deiner Sprache ‚Väterchen‘ bedeutet. Seit vielen Jahre lebe ich in der Nähe des Taj. Ich habe dich schon gesehen, als du durch das Eingangstor kamst. Du bist anders als die anderen.“
„Wie anders?“
„Du bist wach. Du siehst die Bedeutung hinter den Mauern. Das ist eine sehr große Gabe. Wie heißt du, mein Kind?“
„Caroline.“
„Ein schöner Name. Ich glaube, er bedeutet ‚reier Mensch‘.“
Und dann sagte der Alte etwas, dessen Bedeutung ich nicht verstand, das aber etwas in mir zum Klingen brachte: „Caroline, in Indien liegt der Schlüssel zu deiner Freiheit.“
Unsere Blicke trafen sich erneut, und in diesem Moment spürte ich etwas in mir, das ich noch nie zuvor gespürt hatte. Es kam mir vor, als könne Baba in die tiefsten Tiefen meines Geistes blicken. Und einen winzig kleinen Moment lang sah ich in seinen Augen, was er in mir sah. Er war der Spiegel, der das Unbekannte in mir spiegelte, das Unsichtbare, das Formlose. In ihm sah ich etwas, das jenseits von mir lag, jenseits meiner mir bekannten Persönlichkeit. Dieses Etwas war viel mehr als ich, und doch so etwas wie ich im reinsten, authentischsten Sinne. Im stummen Zwiegespräch mit Baba fühlte ich es mehr, als dass ich es sehen konnte. Ich erahnte es, ohne es wirklich zu erkennen. Es erinnerte mich an die blauen Berge auf meinem Bild und an ein unbeschreibliches Gefühl tiefster Liebe und Glückseligkeit.
Ich hätte schwören können, dass Baba nicht laut zu mir sprach. Es schien, als seien seine Gedanken meine Gedanken. Aber war das überhaupt möglich?
„Du kommst aus einem Land, in dem die Christen immer noch glauben, dass es nur einen einzigen wahren Weg zu Gott gibt. Wie töricht ist diese Einstellung. Keine Religion ist besser als die andere, kein Weg zu Gott ist besser als der andere. Sie alle sind individuelle Wege, die den Einzelnen führen können, wenn er bereit ist, sich führen zu lassen. Kein Weg ist für jeden der richtige. Es ist alles eine Frage der Persönlichkeit, der individuellen Neigungen und Prägungen des Geistes. Letztlich verfolgen alle Religionen nur ein einziges Ziel und liegen nur scheinbar miteinander im Wettstreit. Der Kampf um die Vorherrschaft der einen vor der anderen entspringt der Unwissenheit der Gläubigen. Im Kern sind alle Religionen eins, so wie alle Wesen eins sind. Sie alle weisen einen Weg und stellen die notwendigen Mittel zur Verfügung, um der Wahrheit oder des Göttlichen unmittelbar gewahr werden zu können. Wer sie nur mit dem Verstand begreift, wird niemals erfassen können, welche Kraft sie alle miteinander verbindet, denn er wird nur sehen, was sie voneinander unterscheidet. Nur wer den Punkt sieht, an dem alle Religionen einander berühren, ist der Wahrheit nahe. Die Religionen sind wie die Speichen eines Rades, die sich in der Nabe des Göttlichen treffen.
Indische Weisheitslehrer wie Buddha lehrten die Suchenden, dass der Schlüssel zur Befreiung in ihnen selbst zu finden ist. Buddha sprach nicht von Gott, sondern von Leere, Befreiung und Erlösung.“
Mir war, als wolle Baba mir einreden, dass auch ich eine Suchende war, und dieser Gedanke missfiel mir. Ich war glücklich und zufrieden. Mir fehlte nichts. Ich war kein gläubiger Mensch. Und religiös war ich schon gar nicht. Der Begriff „Gott“ hatte keine persönliche Bedeutung für mich.
Falls Baba meine Gedanken ebenso wahrnahm wie ich seine, ließ er es sich nicht anmerken. Ungerührt fuhr er fort: „Hier gibt es kein Leben ohne Religion. In Indien sind Religion und weltliches Leben eins. Solltest du gewöhnt sein, religiöse und weltliche Erfahrung voneinander zu trennen, so wirst du in Indien gezwungen sein, beide wieder miteinander zu vereinen. Ein Leben ohne spirituelle Ambitionen und Ziele ist leer und bedeutungslos. Es ist wie ein Bogen, der lasch gespannt und auf kein konkretes Ziel gerichtet ist. Der Pfeil eines solchen Lebens wird irgendwo im Nichts landen. Er wird nichts bewirken, denn ihm fehlt die Kraft, sein Ziel zu erreichen. Und wie das Ziel des Pfeils die Mitte der Scheibe ist, ist das Ziel des Lebens die Erkenntnis der Wahrheit. Leider habt ihr Europäer das längst vergessen. Ihr sucht das Geheimnis des Lebens noch immer in den falschen Dingen und lebt wie im Schlaf. Ihr wollt die Welt erforschen, ohne euch selbst zu erforschen. Ihr geht ständig über Grenzen, ohne euch der Tatsache bewusst zu sein, dass euch nur die inneren Grenzen, die Grenzen des ‚Kleinen‘ Ichs von dem trennen, was ihr begehrt.“
Baba schwieg. Betreten blickte ich auf die Schlange, die sich in meinen Armen zusammengerollt hatte. Lebten wir wirklich wie im Schlaf? Ich glaubte zu verstehen, was Baba mir sagen wollte, aber die Bestimmtheit, mit der er es vorgebracht hatte, schien mir zu vehement. Ich fühlte mich zu Unrecht angegriffen und der Unwissenheit beschuldigt.
„Ich will dich und deine Kultur nicht verurteilen. Ihr seid wie ihr seid, und das ist gut so. Nein, ich will dir, dir ganz persönlich zeigen, was möglich ist, weil ich sehe, dass das, was du bist, dir selbst nicht genug ist. Du hast das Potenzial, die Wahrheit zu erkennen. Du solltest es nicht sinnlos vergeuden oder brach liegenlassen. Suche nach dem verborgenen Shangri-La, das du nur finden wirst, wenn du verstehst, …wenn du den Schlüssel gefunden hast. Und du wirst ihn niemals im Außen finden.“
Wieder schwieg der Alte. Dann hob er einen kurzen Stock vom Boden auf und zeichnete etwas in den roten Sand zwischen uns. Es war eine Schlange, die sich selbst in den Schwanz biss und so einen Kreis beschrieb.
„Suche die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Sie bedeutet Anfang und Ende, Geburt und Tod, Leben und Vergehen, Vereinigung der scheinbar unvereinbaren Gegensätze. Sie ist die Vollendung des Kreises der Verwandlung, das Ende der Transformation. Die Schlange ist Weisheit und die Anwendung dieser Weisheit. Die Schlange ist das Leben in seiner reinsten, vollkommensten Form.“
Unvermittelt erwachte die Schlange auf meinem Arm zu neuem Leben. Wie auf einen stummen Befehl hin schlängelte sie sich über mein Knie zurück zu ihrem Herrn. Der Alte öffnete den Korb und ließ sie hinein.
Unsicher wagte ich eine letzte Frage: „Wenn all das wahr ist, woher weiß ich dann, dass ich eine Suchende bin?“
„Der erste Keim des Erwachens ist die Sehnsucht nach Liebe!“
Wie konnte er das wissen? Er musste mich vorhin im Mausoleum beobachtet haben.
Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern stand auf, verbeugte sich mit gefalteten Händen und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
Ich war verwirrt und wusste nicht, ob ich geträumt hatte oder ob der Alte wirklich da gewesen war. Ich blickte auf meine Uhr und konnte kaum glauben, dass nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen war, seit ich mich unter dem Baum niedergelassen hatte. Ich hätte schwören können, dass der Alte und ich Stunden um Stunden miteinander verbracht hatten.
Ich machte mich auf den Weg zum Ausgang. Bevor ich den Garten um das Taj Mahal durch das Haupttor verließ, schaute ich mich noch einmal nach Baba um, aber er hatte sich anscheinend in Luft aufgelöst. Mir war heiß, ich war todmüde und ich wollte so schnell wie möglich zurück nach Delhi.
Nach und nach fanden sich alle Mitglieder unserer Reisegruppe am vereinbarten Treffpunkt ein. Und während wir noch auf die letzten Nachzügler warteten, unterhielt uns Mr. Govil mit einer Anekdote: „Man erzählt sich, dass im Garten um das Taj Mahal ein alter Schlangenbeschwörer lebt. Der Alte soll Baba heißen, aber man weiß nicht, ob er wirklich existiert, denn niemand hat ihn jemals von Angesicht zu Angesicht gesehen.“
Ich horchte auf.
„Wir Inder glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Dieser unsterbliche Teil von uns, der immer war und immer sein wird, weiß um das Geheimnis des individuellen Lebens und seiner Rolle im kosmischen Spiel. Man erzählt sich, Baba sei ein Seher, der die Seele eines jeden Menschen erkennen kann, sobald dieser durch jenes Tor tritt. Den von ihm Auserwählten begegnet er in der Nähe des Flusses und erzählt ihnen Dinge, die sie niemals vergessen, aber erst ganz verstehen können, wenn sie den unsterblichen Teil ihrer Seele gefunden haben.“
Aus der Gruppe kamen Kommentare wie:
„Das ist doch absurd!“
„Die Inder haben eben eine lebhafte Phantasie!“
„Ich liebe Sagen und Märchen!“
„Das passt zu diesem Ort. Man beginnt zu träumen und verliert die Realität ganz aus den Augen!“
Wie recht sie alle hatten. Ich war dumm. Ich war eine Traumtänzerin. Ich war weltfremd. Ich hatte mich einfach eine halbe Stunde lang in meinen Träumen und Sehnsüchten verloren. Zugegeben, es war seltsam, dass Mr. Govil von Baba erzählte. Aber er war eine Legende, nicht mehr.
Spät am Abend traten wir die Rückfahrt nach Delhi an. Je weiter wir uns von Agra entfernten, desto schwächer wurde meine Erinnerung.