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Am Samstagmorgen rief Sangeeta Singh an und erinnerte mich an die Party, zu der sie mich eingeladen hatte. Ich hätte sie fast vergessen.
Die gigantische Auffahrt zu dem großen weißen Haus im Kolonialstil war mit Luxuslimousinen europäischer Herkunft zugeparkt, denen festlich gekleidete Paare der oberen Gesellschaftsschichten entstiegen. Kuber ließ mich vor dem Tor aussteigen und fuhr wieder nach Hause. Mrs. Singh stand in der Eingangstür und begrüßte ihre Gäste. Sie erkannte mich sofort. „Ah, Miss von Teubner. Ich freue mich, dass Sie kommen konnten.“
„Schön, Sie zu sehen“, erwiderte ich von Herzen. „Danke für die Einladung.“
„Darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen? Alec Bullard, Caroline von Teubner.“
Wir reichten uns die Hand. In meinem Kopf arbeitete es: „Bullard, Bullard? War das nicht diese berühmte Diplomatenfamilie, die seit der Kolonialzeit in Delhi lebte? Die jüngere Generation hatte sich als Anwälte, Bankiers oder Kaufleute einen Namen gemacht. Alter englischer Geldadel also. Gute Partie, Sangeeta.“
Alec Bullard lächelte mich an. Sein aufmerksamer Blick schien zu fragen: „Wo sind Sie, Miss von Teubner?“ Wie gut ich diesen Blick kannte. Mit aller Kraft schlug ich die Tür zur Welt meiner inneren Zwiegespräche zu und kehrte in die Gegenwart und zu meinem freundlichen Gastgeber zurück.
„Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Miss von Teubner. Meine Frau hat mir von Ihrer interessanten Unterhaltung berichtet. Sie war begeistert, eine westliche Journalistin kennen gelernt zu haben, die bereit ist, sich für ihre Belange und damit die Belange der indischen Frauen einzusetzen. Noch dazu über die Grenzen Indiens hinaus.“
Ich nickte verlegen. So engagiert war ich gar nicht. Setzte ich mich nicht vielmehr ausschließlich für meine eigenen Belange ein? Ich nutzte die Chance, die der nächste Gast mir bot, zur feigen Flucht. Ich wollte nicht in die Verlegenheit geraten, Alec Bullard über meine wahren Motive aufklären zu müssen.
Die Stimmung im Garten verzauberte mich, sobald ich meinen Fuß auf den Rasen gesetzt hatte. Kunstvoll gedeckte Tische standen in indischen Zelten aus buntem Stoff. Kerzen und Fackeln tauchten den Garten in ein sanftes gelbes Licht. Die milde Abendluft war erfüllt vom Zirpen der Grillen und dem Klang einer Sitar. Ich zog mich in eine ruhige Ecke zurück, um das Schauspiel mit allen Sinnen in mich aufnehmen zu können. Die Szene, die ich aus meiner distanzierten Position betrachtete, kam mir wie ein köstlicher Traum vor. Die warmen Farben schmeichelten dem Auge, die gedämpften Töne dem Ohr, die Luft streichelte die Haut und die Düfte verwöhnten den Geruchssinn. Das war etwas anderes, als die Welt der Erscheinungen, wie ich sie wahrzunehmen gewöhnt war. Ich driftete hinein in die stille Freude des Betrachtens und vergaß darüber mich selbst und all meine Fragen und Probleme.
War es nicht eigenartig, dass ich entweder vollkommen in den Ereignissen verstrickt war und mich von ihnen bedroht und wider Willen mitgerissen fühlte oder absolut frei neben ihnen stand, erlöst von der Qual des fortwährenden Denkens, Planens und Reagierens? Ich war entweder vollkommen im Außen oder ganz und gar bei mir. Wirklichen Frieden fand ich nur, wenn ich allein war. Sobald die Außenwelt ihre scheinbaren Anforderungen an mich stellte, gab ich diesen Frieden auf und verlor die Gelassenheit und Wachheit, die er mit sich brachte. Ob es eine Art des Erlebens gab, die beides miteinander verband, ohne das eine dem anderen zu opfern?
Nach einer ganzen Weile verließ ich meinen stillen Beobachterposten und gesellte mich zu den anderen Gästen. Ein indisches Ehepaar kam auf mich zu, stellte sich als Mr. und Mrs. Aggarwal vor und fragte: „Arbeiten Sie auch für die AWRA?“
„Nein. Sie müssen meine Unwissenheit entschuldigen. Ich bin erst seit wenigen Wochen in Delhi. Was bedeutet AWRA?“
„Attorney’s for Womens Rights Association. Mrs. Singh ist unsere Präsidentin. Sie und ihr Mann treten sehr engagiert für die Rechte der indischen Frauen ein.“
„Ich habe Mrs. Singh erst vor kurzem bei einem öffentlichen Vortrag über das Scheidungsrecht kennen gelernt. Ich bin Journalistin und schreibe an einem Artikel über die Rolle der indischen Frau für ein deutsches Nachrichtenmagazin.“
Das war das Stichwort für die engagierten Aggarwals.
„Viele aufgeklärte indische Frauen haben Fürchterliches mitmachen müssen. Daher kämpfen wir Anwälte nicht nur für ein praktikables und gerechtes Scheidungsrecht, sondern vor allem für ein besseres Strafrecht, das sowohl die Prävention von Gewalttaten gegen Frauen als auch deren Verfolgung und Ahndung umfasst. Das Scheidungsrecht gibt den Frauen vergleichsweise viele Rechte, aber Sie glauben gar nicht, was in den Strafgerichten alles passiert.“
Sie erzählten mir Geschichten, die davon zeugten, dass den indischen Frauen nicht nur keine eigenen Rechte, sondern nicht einmal menschliche Würde zugesprochen wurde. Rondorf hatte Recht gehabt. Ich hatte ja keine Ahnung, was hier wirklich vor sich ging, wie viel Leid und Schmerz hinter all dem steckte, womit ich mich seit Tagen intellektuell beschäftigte. Wieso glaubte ausgerechnet ich, die Leiden der indischen Frauen zu verstehen?
Aufgeregte Bewegung auf der Veranda unterbrach unser Gespräch. In einer Menschentraube erkannte ich Elly Montgomery, die sich bei einem Mitfünfziger untergehakt hatte. Der Botschafter, wie ich vermutete. Jetzt traten auch Sangeeta und ihr Mann hinzu. Das war das Zeichen, dass alle Gäste versammelt waren.
Da war sie wieder – diese absolute Präsenz. Ich fühlte mich wach und klar. All meine Sinne waren geschärft und richteten sich auf die Gruppe um Elly Montgomery und ihren Mann. Warum? Hatte ich etwas wahrgenommen, das noch nicht bis in mein Bewusstsein vorgedrungen war? Aufmerksam betrachtete ich die Szene, die wie ein Film vor mir ablief. Gesprächsfetzen drangen zu mir herüber. Ein Name fiel: Daniel. Und da sah ich ihn. Er stand lässig neben Elly und unterhielt sich mit ihr und ihrem Mann. Sangeeta trat hinzu. Wie aus weiter Ferne hörte ich sie sagen: „Daniel, wie schön, dass Sie mal wieder bei uns vorbeischauen. Wir haben uns lange nicht gesehen.“ Seine Antwort ging im lauten Gemurmel unter. Schlagartig wurde mir klar: Ich kannte diesen Mann! Ich war ihm erst gestern begegnet. Daniel hatte nachts im Büro eingebrochen! Abwehr mischte sich mit Faszination, Misstrauen mit einem unerklärlichen Gefühl der Verbundenheit. Außer ihm und mir schien plötzlich niemand auf dieser Party mehr von Bedeutung. Da trafen sich unsere Blicke. Zwischen uns lagen mehr als hundert Meter Rasen, standen andere Menschen, Stühle, Tische und bunte Zelte. Doch keine dieser Barrieren existierte wirklich. Wir tauschten einen intensiven Blick, der das Blut in meinen Adern heftig pulsieren ließ, einen Blick, der eine Million Bedeutungen hatte, und ich war nicht in der Lage, auch nur eine einzige davon zu erfassen. Hastig wandte ich mich ab, winkte einen Kellner heran und nahm mir ein Glas Wasser von dem dargereichten Tablett. Daniels Blick lag auf mir wie eine schwere Last. „Ist Ihnen nicht gut, Miss von Teubner?“, fragte Mr. Aggarwal besorgt.
Ich log schlecht: „Danke. Es geht schon wieder. Die schwüle Hitze…“
Elly hatte mich entdeckt. Sie winkte und steuerte mit ihrer kleinen Gruppe auf mich zu. Ich versuchte, meine Unsicherheit zu überspielen, indem ich das Gespräch mit dem engagierten Anwaltsehepaar gespielt lässig wieder aufnahm. Obwohl ich nach außen hin ruhig und gelassen wirkte, übermannten mich Gefühle, deren Leidenschaftlichkeit mir fremd war. Ich wollte, dass Elly mit Daniel zu mir kam, konnte es kaum erwarten, ihn neben mir zu spüren, und gleichzeitig fürchtete ich seine Nähe, als bedrohe sie meine Existenz. Was war nur los mit mir? Mein Verstand funktionierte nicht mehr. Was sollte ich sagen? Daniel hatte gestern Nacht in unserem Büro eingebrochen. Ich konnte ihm unmöglich einfach so gegenübertreten.
„Guten Abend, Caroline. Wie geht es dir?“
Ellys Herzlichkeit hatte einen Moment lang die Kraft, mich aus dem Gefühlschaos zu ziehen.
„Ich möchte dir meinen Mann vorstellen.“ Erleichtert wandte ich mich dem Botschafter zu. Mr. Montgomery gab mir die Hand und wie aus weiter Ferne hörte ich seine interessierte Frage: „Meine Frau erzählte mir, dass Sie sich mit der Rolle der indischen Frau befassen. Wie kommt es, dass Sie als deutsche Journalistin so ein brisantes Thema wählen?“
„Sagen wir, das Thema hat mich gewählt.“
„Ah,… wie ich höre, hat der indische Bazillus Sie bereits infiziert!“
Alle lachten. Selbst ich, wenn auch ein wenig gezwungen, denn nun ließ sich nicht mehr vermeiden, wonach ich mich sehnte und was ich zugleich fürchtete. Elly zog Daniel zu uns herüber. „Ich hatte dir doch versprochen, dich mit meinem Freund Daniel bekannt zu machen. Daniel, das ist Caroline von Teubner. Caroline, Daniel Nirula.“
Er blickte mich durchdringend an, als gäbe es keine Trennung zwischen ihm und mir, und reichte mir dann mit einer fließenden Bewegung die Hand zur Begrüßung. Ich zögerte, sie zu ergreifen. Jede Berührung schien mir zu intim. Seine warme, weiche Hand nahm die meine. Ich spürte ein undefinierbares Kribbeln in der Handfläche, als sich unsere Hände zu lange, zu eindringlich, zu vertraut und viel zu heiß trafen und scheinbar aneinander kleben blieben.
„Miss von Teubner.“ Der Klang seiner Stimme riss mich endgültig fort.
„…und das ist Daniels Frau, Malika Nirula.“
Erst jetzt sah ich die zarte Frau im kostbaren Brokatsari. Ihre Anwesenheit traf mich wie eine Ohrfeige. Ihr ruhiger Blick warnte mich. Sie hatte die Intimität zwischen ihrem Mann und mir gespürt. Ich wunderte mich über die Vielzahl der Wahrnehmungen, die ich machte. Ich sah alles und jeden und war mir gleichzeitig aller Gefühle bewusst, die sich zwischen uns abspielten.
Sangeeta erlöste mich von meiner Qual. Das Quietschen des Mikrophons, in das sie sprach, ging durch Mark und Bein. Sie forderte die Gäste auf, ihre Plätze einzunehmen, damit das Dinner serviert werden konnte. Nach dem Essen seien einige Spiele vorgesehen, die der Sammlung von Spenden für die AWRA dienten. Dann wünschte Sangeeta ihren Gästen einen angenehmen Abend und der Organisation „reiche Unterstützung“. Alle lachten. Nur mir war nicht nach Lachen zumute.
Ich saß an einem Tisch mit jungen indischen Rechtsanwälten. Während Kellner in traditioneller Uniform das scharfe, wohlschmeckende Menü servierten, beteiligte ich mich halbherzig an den Tischgesprächen. Das Alltägliche interessierte mich plötzlich nicht mehr. Es kam mir schal und sinnlos vor. Immer wieder ertappte ich mich, wie ich nach Daniel Ausschau hielt. Er saß mit Elly und ihrem Mann am Tisch der Gastgeber. Zwischen uns lagen zwei Zelte, deren Seitenwände aufgerollt waren. Ich sah ihn im Profil. Er aß ruhig und unterhielt sich angeregt. Scheinbar erzählte er eine Geschichte, der alle gespannt lauschten. Auch Malika. Es war offensichtlich, dass sie ihren Mann liebte.
„Daniel ist ein interessanter Mann, der ein ungewöhnliches Leben lebt. Eigentlich ist er nie richtig erwachsen geworden. Wie ein kleiner Junge scheint er immer auf der Suche zu sein…“ Ellys Worte hallten wie zur Warnung durch mein Gedächtnis. In diesem Moment trafen sich unsere Blicke erneut und ich glaubte plötzlich sicher zu wissen, dass ich ein Teil seiner Suche war. Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Gleich nach dem Dessert entschuldigte ich mich und verließ den Tisch, um mich in einen ruhigen Winkel zurückzuziehen. Ich konnte die Menge und ihre belanglosen Gespräche nicht mehr ertragen. Meine Seele lag bloß.
Ich zog mich in das Kaminzimmer zurück, von wo aus ich einen ungehinderten Einblick in den Garten hatte und doch weit genug von dem Treiben dort entfernt war, um mich wohler und sicherer zu fühlen. Entspannt lehnte ich mich gegen die Rückwand einer Couch und beobachtete aus der Dunkelheit die Partygäste, die inzwischen mit den Spielen begonnen hatten.
„Sie scheinen eine Vorliebe für dunkle Räume zu haben.“
Erschrocken fuhr ich herum. Daniel stand hinter mir und musterte mich eindringlich.
„Und Sie scheinen eine Vorliebe für unaufgefordertes Eindringen zu haben“, entgegnete ich schnippisch.
„Sagen wir, es gibt Zwecke, die unlautere Mittel heiligen!“
Da waren wir wohl einer Meinung. Das weiche Licht fiel auf sein spitzbübisches Grinsen.
„Hätte ich gestern Abend gewusst, dass wir uns heute begegnen, hätte ich Sie sicherlich aus Ihrem unbequemen Versteck unter dem Schreibtisch Ihres Kollegen befreit!“
Er hatte mich also gesehen.
„Darf ich fragen, was Sie in unseren Büroräumen zu suchen hatten?“
„Vielleicht das Gleiche wie Sie?“
„Ich arbeite dort!“
„Aha. Und deshalb sind Sie nachts mit einer Taschenlampe unterwegs und knacken den Computer Ihres Kollegen. Alles klar. Haben Sie etwas Brauchbares gefunden?“
Daniel redete in herablassendem und dennoch scherzendem Ton. Seine Arroganz stieß mich ebenso ab wie mich der dahinter verborgene Humor anzog. Er provozierte mich absichtlich und wusste genau, was er tat und damit erreichen wollte. Dann lehnte er sich ebenfalls gegen das Sofa. Sein scheinbar unbeteiligter Blick glitt hinaus auf die Statisten, die draußen im Garten die Kasse der AWRA aufbesserten. Unsere Schultern berührten sich leicht.
„Ich könnte Sie anzeigen“, sagte ich herausfordernd, ohne es wirklich zu meinen.
„Das werden Sie nicht tun.“
„Warum nicht?“
„Weil ich etwas habe, das Sie brauchen.“
Meine Anspannung entlud sich in einem etwas zu lauten Lachen. „Und was sollte das sein?“
Seine Antwort überraschte mich. „Wissen!“
Er nutzte meine Überraschung, um mir körperlich noch näher zu kommen. Nun berührten sich unsere Schultern, Arme und Beine. Ich konnte nicht mehr klar denken. Die Berührung verursachte einen eigenartigen, sehnsuchtsvollen Schmerz. Ich begann zu zittern, als mir klar wurde, dass ich mich nach seiner zärtlichen Umarmung sehnte. Krampfhaft versuchte ich, meine Stimme nüchtern und beherrscht klingen zu lassen.
„Welche Art von Wissen meinen Sie?“
„Nun, Elly erzählte mir, dass Sie sich für tibetische Mythologie interessieren.“
Ich wollte nicht, dass er meiner Antwort entnehmen konnte, welche Bedeutung dieses Interesse für mich hatte. „Ein bisschen. Ich dachte mir, es könnte nicht schaden, mich auf diesem Gebiet persönlich weiterzubilden.“
„Aha!“
Er nahm mir die Lüge nicht ab. Es war aber auch offensichtlich, dass er mit seiner gespielten Arroganz von sich ablenken wollte. Ich ließ ihn nicht weiter ausweichen und wandte mich ihm zu.
„Professor Nirula, weshalb dringen Sie nachts in unser Büro ein? Haben Sie gefunden, wonach Sie suchten?“
„Vielleicht. Und was haben Sie bisher über Shangri-La herausgefunden, Caroline?“
Die vertraute Anrede verwirrte mich. Mir war, als hätte er mich schon Hunderte von Malen mit meinem Namen angesprochen. Sein Atem berührte meine Wange, schien meine Haut zu durchdringen und berührte eine tiefere Schicht in mir. Irgendwie gelang es mir, Worte zu formulieren und sinnvolle Sätze zu bilden.
„Nicht viel. Elly hat mir Shangri-La als einen mystischen Ort im Himalaja beschrieben, ähnlich dem keltischen Avalon. Nicht jeder vermag ihn zu finden. Deshalb halten ihn viele für ein reines Phantasieprodukt. Mehr weiß ich nicht. Und ehrlich gesagt, ich glaube, dass ich auch nicht mehr wissen will.“ Er legte seinen linken Arm um meine Schultern.
„Kennen Sie die Geschichte von Parzival?“ Er wartete meine Antwort nicht ab. „Viele waren auf der Suche nach dem heiligen Gral. Die klügsten, mutigsten und edelsten Männer scheiterten. Nur einer vermochte den höchsten vorstellbaren Schatz zu bergen. Einer, von dem es niemand erwartet hätte. Parzival fand die Gralsburg und den Gral. Und wissen Sie, warum?“ Fragend sah ich Daniel an. Seine Augen waren von ungewöhnlicher Klarheit. Sie schimmerten bräunlich blau. Ich dachte an den alten Schlangenbeschwörer, der mich auf dieselbe Weise angesehen hatte. „Parzival fand den Gral wegen seiner Einfachheit. Er war unbeschwert, unschuldig, kindlich und rein. Und vor allem war er frei von Vorurteilen und Ehrgeiz. Er glaubte an das, was er sah, und nur daran. Deshalb gelang es ihm, Dinge zu sehen und Erfahrungen zu machen, die anderen Menschen vorenthalten blieben. Parzivals Natur war einfach und unvoreingenommen. Also offenbarte ihm das Leben seine Geheimnisse, obwohl oder gerade weil er nicht darum gebeten hatte. In den Augen vieler war er naiv, ein reiner Tor. Aber seine Torheit war nichts anderes als Weisheit. Sind Sie bereit, zu erleben und zu erfahren, was andere Menschen nicht sehen können, Caroline?“
Mein Verstand war zu kritisch, mein Weltbild zu festgefahren, als dass ich so schnell bereit gewesen wäre, mit neuen Augen sehen zu lernen. Ungewollt offen antwortete ich: „Ich habe immer geglaubt, mit Anfang Dreißig wüsste ich, was Leben bedeutet. Ich war sicher, dann endlich erwachsen und etabliert zu sein, einen erfüllenden Beruf auszuüben und vielleicht sogar Familie zu haben. Ich habe mich sehr getäuscht. Warum bin ich ausgerechnet jetzt gezwungen, alles in Frage zu stellen, was ich immer für sicher gehalten habe? Ich will das nicht!“
„Vielleicht gerade deshalb! Wenn Sie noch länger warten, könnte es zu spät sein!“
Ich sah zu ihm auf und als wäre es die natürlichste Sache der Welt wandte er sich mir zu und legte liebevoll beide Arme um mich. Und ich ließ die unüberwindliche Barriere meiner eisernen Kontrolle fallen, indem ich mir erlaubte, den Moment in den Armen dieses vertrauten Fremden zu genießen. Daniels Nähe ließ mich einen weit entfernten Frieden ahnen. Die Gedanken verstummten, bis sie ganz schwiegen, und köstliche Ruhe breitete sich in mir aus. Daniel war ebenso ein Teil dieser Ruhe wie ich.
Irgendwann löste er sich von mir, streichelte meine Wange und ging. Er ließ mich einsam zurück mit einer inneren Leere, die in schmerzhaftem, fast unerträglichem Kontrast zu dem zuvor gespürten Frieden stand. Ich konnte mich nicht bewegen, ich wollte mich nicht bewegen. Meine Augen folgten ihm bis zu seinem Platz an der Seite seiner Frau. Ich sah Ellys fragenden Blick, sah, wie sie aufstand und durch die Terrassentür auf mich zukam.
„Wie findest du Daniel?“, fragte sie.
Gequält antwortete ich: „Er ist ein interessanter Mann. Sehr charismatisch!“
„Hat er deine Fragen beantworten können?“
„Teilweise.“
„Die Gelegenheit für ein Gespräch wird sich sicher noch einmal ergeben.“
Ich wusste, dass wir uns nicht das letzte Mal begegnet waren, und folgte Elly hinaus ins Freie. Leidlich interessiert kaufte ich ein Los und gewann einen Gutschein für eine ayurvedische Massage. Gegen Mitternacht verließen fast alle Gäste gleichzeitig das Fest. Die Gastgeber, die Montgomerys, die Aggarwals und die jungen Anwälte, mit denen ich am Tisch gesessen hatte, verabschiedeten sich herzlich von mir. Daniel war der Einzige, der mir kühl und distanziert die Hand reichte. Ob er wohl bereute, was vorhin geschehen war?