Читать книгу Schritt für Schritt – Unterwegs am South West Coast Path - Daniela Leinweber - Страница 3

Was davor geschah …

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Unser Wohnzimmer war von schallendem Lachen erfüllt. Das Gefühl beschlich mich nicht nur, es kam mit voller Wucht und ich realisierte: „Ich werde nicht ernst genommen!“ Gerade erzählte ich meinem Mann Peter, dass ich vorhabe, 2018 eine Weitwanderung von mindestens einem Monat, vielleicht auch zwei, zu unternehmen, und dass ich mir wünsche, dass er mein Begleiter, mein Motivator und meine Unterstützung ist. Diese ­Ahnung bestätigte sich kurz darauf, nachdem er offensichtlich wieder ­etwas Luft schnappen konnte und meinte: „Das wird niemals passieren!“. „Das wird passieren!“, entgegnete ich und ließ ihn mit seinen Gedanken allein. Ein paar Tage später beim Mittagessen fragte er dann: „Wie stellst du dir das eigentlich vor?“, und plötzlich schwebten Wörter wie Sabbatical, Urlaub sparen und Abenteuer durch den Raum. Der Beginn war gemacht.

Wir haben dann lange überlegt, welchen Weg wir uns aussuchen sollten. Mein Papa und mein Großcousin sind bereits unterschiedliche Jakobs­wege gewandert – vielleicht liegt mir das Weitwandern ja in den Genen – doch die Pilgerzahl ist seit dem Jahr, als mein Vater dort unterwegs war, um 500 % gestiegen, der Weg kann die Massen kaum bewältigen, von den Herbergen ganz zu schweigen. Dort sehe ich mich nicht. Für andere Wege, z.B. den Appalachian Trail in den USA, bin ich körperlich nicht fit genug und ich kann mich auch mit der Tatsache, im Zelt zu schlafen, nicht wirklich anfreunden. Also muss es ein Weg sein, der zwar anstrengend, aber bewältigbar ist, einer, der mich am Abend in einem Zimmer mit Bett und Dusche schlafen lässt. Peter hätte am liebsten einen, der am Meer liegt. Ich erinnerte mich an eine Rundreise durch Großbritannien zurück und plötzlich war es klar, der „South West Coast Path“, das ist unser Weg. Er erstreckt sich entlang der gesamten, atemberaubenden Küste im Südwesten Englands und ist derzeit mit seinen 630 Meilen (1.014 Kilometern) der längste offizielle Fernwanderweg des Vereinigten Königreichs. Er verläuft von Minehead in der Grafschaft Somerset über Devon und Cornwall bis nach Poole Harbour in Dorset. Die malerische Landschaft, die von sanften Küstenabschnitten bis zu dramatisch ins Meer abfallenden Klippen und tiefen Schluchten alles bietet, kennen viele vielleicht von den ­Rosamunde Pilcher Filmen, die fast immer in diesem Teil Großbritanniens spielen.

Dass ich überhaupt eine solche Wanderung auch nur in Erwägung zog, kam für viele überraschend. Ich war nie eine große Wanderin, es wäre auch mit den 142 Kilos, die ich bis vor einigen Jahren noch wog, ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen gewesen. Wobei, im Herzen war ich es vielleicht doch. Oft lag ich in unserem Swimmingpool zu Hause und schaute sehnsüchtig auf unseren Hausberg, die Flatzer Wand, hinauf. „Haushügel“ würde diese kleine Erhebung im niederöster­reichischen Industrieviertel wohl besser beschreiben, aber für mich war es ein unerreichbares Bergmassiv. Von unserem Haus bis zur Naturfreundehütte wären sagenhafte 240 Höhenmeter zu überwinden gewesen und das ging beim besten Willen nicht. Hätte mir damals jemand prophezeit, dass ich 2018 planen würde, 35.031 Höhenmeter in 56 Tagen zu wandern, ich hätte vermutlich eine ausgeprägte Wahrnehmungsstörung diagnostiziert und ihm eine Selbsteinweisung in eine psychiatrische Anstalt empfohlen.


Höchstgewicht: 142 kg.

An den Moment, der mein Leben von Grund auf änderte, erinnere ich mich derart glasklar, als wäre es gestern gewesen. Ich versuchte, mich in meinem großen, notwendigerweise stabilen Bett auf die andere Seite zu drehen, und trotz kräftigem Schwungholen und rudernden Armen, um ein wenig mehr Kraft zu entwickeln, schaffte ich es nicht. Eine Welle an negativen Emotionen überkam meinen Körper – Scham, Hilflosigkeit und maßloser Ärger auf mich selbst. Wie hatte ich es überhaupt so weit ­kommen lassen können? Wieso hatte ich nicht früher realisiert, dass ich so auf keinen Fall weitermachen konnte? Anstelle von glücklichen Augenblicken mit meiner Familie erinnere ich mich vor allem an beschämende Situationen, die keine kleinen Nadelstiche, sondern eher tiefe Schnitte in meiner Seele, wie von einem amerikanischen Nahkampfmesser, ver­ursachten. Flugreisen brachten bereits Tage zuvor Panikattacken, ausgelöst durch die Frage, ob der Gurt sich schließen lassen würde. Der Tag, an dem ich versuchte, mich in den Sitz gequetscht anzuschnallen, und die Stewardess hochnäsig erklärte: „Massiv übergewichtige Menschen müssen eine Gurtverlängerung in Anspruch nehmen“, hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Die ehrlich gemeinte Feststellung eines Kleinkindes: „Das ist die dickste Frau auf der ganzen Welt“, und die absichtlich verletzenden Äußerungen von pubertierenden Jugendlichen, die mich mit Wörtern wie Nilpferd, Tonne und fette Sau beschimpften, tat ich mit vorgespieltem Selbstbewusstsein ab. Wildfremde Menschen erklärten mir auf der Straße, ich solle endlich abnehmen. Kleidungsgeschäfte mied ich ohnehin schon jahrzehntelang, denn wenn mir eine Verkäuferin mit hochgezogenen ­Augenbrauen erklärte, dass man für „eine wie mich“ ohnehin nichts im Sortiment hätte, war das jedes Mal wie ein Schlag in die ­Magengrube – falls man die denn unter der Fettschicht überhaupt er­wischen würde. Gleichzeitig war aber der Übergrößenhandel auch der Meinung, dass dicke ­Menschen keinerlei Modebewusstsein oder Stil be­sitzen müssten und man diese mit Schmetterlingen oder Teddybären an schmuddeligen Shirts oder ebenso breiten wie langen Röcken, die die nicht vorhandenen Storchen­füße noch gezielter zur Geltung brachten, ­abfertigen könnte. Dies hat sich mittlerweile wesentlich verbessert, aber immer wieder stoße ich auch ­heute noch auf großgeschnittene Kleidungsstücke, bei denen der Designer bestimmt den unebenen Körper eines ­dicken Menschen mit all seinen „Stark-Stellen“ höchstens einmal aus der Ferne betrachtet hat.

Auch das Einkaufen hatte sich zu einem wahren Martyrium entwickelt, denn immer wieder fragten mich Leute, ob ich nicht besser Light Pro­dukte oder fettarmen Käse kaufen möchte. In der Öffentlichkeit zu essen, davon hatte ich mich ebenfalls schon lange verabschiedet, denn des Öfteren musste ich beobachten, dass Leute die Augen verdrehten, wenn sie mich essen sahen. Einmal nahm ich im Supermarkt all meinen Mut zusammen und kaufte selbst eine 300-Gramm-Tafel Schokolade; normalerweise ließ ich meinen mit einem dünnen Körper gesegneten Mann Süßigkeiten ­kaufen. Eine ältere Frau kam schnurstracks zu mir gelaufen und fragte, ob ich denn glaubte, dass ich damit abnehmen könnte. In solchen Momenten fiel es mir immer immens schwer, stark zu bleiben. Wann hat es aufgehört, dass ich als Mensch und nicht als überdimensionales Wesen wahrge­nommen wurde? Es gibt Menschen mit Übergewicht, genauso wie es ­Menschen mit Normal- und Untergewicht gibt, doch wer mehr wiegt, der wird diskri­miniert, durch Hasskommentare, verächtliche Blicke und ­unangenehme Fragen. Das hat sich in all den Jahren sogar deutlich durch die sozialen Medien verstärkt und Mobbing, vor allem jenes unter Jugendlichen, hat dadurch eine ganz andere Dimension angenommen.

Doch so verletzend das Verhalten der Gesellschaft auch war, es konnte keine Kehrtwende in meinem Lebensstil herbeiführen. Im Gegenteil, wenn ich traurig oder überfordert war, versuchte ich dies durch ein Glas Nutella oder eine Familienpackung Eis wiedergutzumachen, und die logische Konsequenz daraus war, noch mehr zuzunehmen. Ich habe mich selbst aber nie als so dick betrachtet, wie ich tatsächlich war. Die Eigenbetrugsmaschine arbeitete hervorragend und ich erinnere mich an Selbstge­spräche vor dem Spiegel, bei denen ich mir versicherte, dass es so schlimm nun wirklich nicht sei. Die Scheuklappen, die ich mir wohl als Bewältigungsstrategie angeeignet hatte, fielen erst Jahre später, als der verklärte Blick auf das „große Ganze“ verschwand und das wahre Ausmaß meines jahrzehntelangen ungesunden Lebensstils auch für mich sichtbar wurde, etwa auf Röntgenbildern, die mir die Knie einer 70-Jährigen bescheinigten, die viel zu lange viel zu viel Last zu tragen hatten.

Wirklich schwierig handzuhaben war die Erkenntnis, dass ich mit ­Mitte dreißig nur mehr Zuschauerin im Theaterstück meines eigenen ­Lebens war. Die Kinder mussten alleine im Garten herumtollen und von gesellschaftlichen Gruppenveranstaltungen zog ich mich bewusst zurück, denn zu hoch war die Wahrscheinlichkeit, bei einem Aktivprogramm nur am Spielrand sitzen zu können. Mittlerweile kannte ich selbst kaum mehr jemanden, der noch mehr Kilos auf die Waage brachte als ich, denn selbst in meiner von dickmachenden Genen hervorragend beglückten Familie war ich nun die unbestrittene Nummer eins.

Einzig in den Vereinigten Staaten fühlte ich mich immer wohl. Dort war ich unter meinesgleichen und vieles war auf übergewichtige Menschen ausgelegt. Die Sitze waren extrabreit, in den Toiletten konnte man sich ­einmal um die eigene Achse drehen, ohne irgendwo anzustoßen, und ­niemand nahm auch nur Notiz von mir, wenn ich mir den zweiten oder ­dritten Nachschub beim Frühstücksbuffet holte. Witzigerweise entdeckte ich meine Leidenschaft fürs Wandern in den USA, denn die zahlreichen, traumhaft schönen Nationalparks konnte man nicht unbewandert zurücklassen. Bei den ersten beiden Besuchen allerdings bestand das ­Entdecken der Natur eher aus einem Viewpoint-Hopping, das heißt, wir fuhren von einem Aussichtspunkt zum nächsten und gingen höchstens 200 Meter in die eine und 200 Meter in die andere Richtung. 2007 allerdings wollte ich etwas ganz Besonderes machen. In den Coyote Butts der Paria Canyon-Vermilion Cliffs Wilderness ist an der Grenze zwischen Utah und Arizona die einzigartige „Wave“ zu finden, eine besonders ­sensible Sandstein­formation, die täglich nur zwanzig Besucher betreten dürfen. Damals ­wurden online im Vorfeld zehn Permits, also Zugangs­berechtigungen, vergeben und wir hatten das unglaubliche Glück, vier Stück zu ergattern, also nichts wie hin. Diese Wanderung würde als die ­allerschlimmste in die Dani-Geschichte eingehen. Mit über 140 Kilo bei 46° C zu wandern, ist eine unglaubliche Kraftanstrengung, und ich wundere mich heute noch, was mein Körper damals im Stande war zu leisten. Die Sonne ­brannte auf uns nieder und der kurze, sandige Aufstieg nach etwa fünf Kilometern war das anstrengendste, das ich je getan hatte. Auf allen vieren kraxelte ich in das Tal der Wave und suchte mir die erste flache ­Stelle als meine letzte Ruhestätte aus. Während Peter und die Kinder ­begeistert von all der Schönheit waren und jeden einzelnen Zen­timeter erkundeten und auf Fotos festhielten, versuchte ich, irgendwie ­meine ­Lebensgeister zurückzugewinnen und wieder annähernd regel­mäßig zu atmen. Es war mir nicht möglich, dieses wunderbare Naturschauspiel mit meinen Lieben zu teilen, denn ich hatte massive körperliche Probleme und die schlimme Vorahnung, dass sich der Rückweg mindestens ebenso anstrengend ge­stalten würde. Dies bestätigte sich auch kurz darauf und etwa einen Kilometer vor dem Ziel war ich mit meiner Kraft am Ende. ­Jeder Schritt tat weh, ich wollte mich in dem heißen Sand zur Ruhe betten und bot den anderen an, mich hier zurückzulassen. Irgendwie schafften diese es aber, mich zu motivieren, auch noch die letzten Schritte zu gehen, doch sobald klar war, dass Peter mich von der Stelle, an der ich mich befand, mit dem Auto abholen konnte, bewegten sich ­meine Füße keinen Zentimeter mehr. Es war mir unmöglich, die fünfzig Meter zwischen Parkeingang und Auto zu bewältigen, so gerne ich es auch gewollt hätte. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich derart leer gefühlt wie genau in diesem Augenblick. – Obwohl ich auch am South West Coast Path an meine Grenzen stoßen werde, werde ich mich kein einziges Mal so fühlen wie damals in den ­Coyote Buttes. – Allerdings sollte es trotz dieses unmenschlichen Ereig­nisses, das mir meine körperlichen Unzulänglichkeiten klar vor Augen führte, noch zweieinhalb weitere Jahre und unzählige gescheiterte Diät­versuche dauern, bis es endlich doch gelingen sollte, mich von meinem massiven Übergewicht zu befreien.

Schritt für Schritt – Unterwegs am South West Coast Path

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