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Leben heißt Veränderung

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Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Ernährung bereits auf vegetarisch umgestellt, was anfangs für meinen Körper sehr schwierig gewesen und doch wieder einigen Kilos mehr die Gelegenheit geboten hatte, sich auf meinen Hüften festzusetzen. Als ich damals begann, mich intensiv mit ­Ernährung zu ­beschäftigen, wurde der Wunsch nach einem fleischlosen Leben immer stärker. Die Entscheidung traf ich vor allem aus moralischen und weniger aus gesundheitlichen Gründen. Die Frage, ob Fleisch an sich für den Menschen gesund ist oder nicht, mag in ernährungswissenschaftlichen Kreisen eine Streitfrage darstellen, doch in Bezug auf den größten Teil des heute verkauften Fleisches lässt sich die Frage unzweideutig be­antworten, wenn wir uns anschauen, was die Tiere und das Fleisch durchmachen müssen, bevor es – getarnt in schöner Verpackung – im ­Einkaufswagen der Menschen landet. Natürlich gibt es Ausnahmen in der Fleischproduktion, aber zum großen Teil entsteht Fleisch durch eine ethisch verwerfliche, tierquälerische und unhygienische Massentierhaltung, bei der ich nicht länger wegschauen wollte. Die Brutalität, denen Schlachttiere normalerweise ausgesetzt sind, verurteilte ich zutiefst, und immer öfter bekam ich ein schlechtes Gewissen beim Fleischverzehr. Tatsächlich wollte ich nicht, dass auch nur ein einziges Tier wegen mir getötet werden musste, was somit auch Fische einschloss. Die Wahrheit ist allerdings, dass ich mir lange nicht vorstellen konnte, tatsächlich auf Fleisch zu verzichten. Die Fastenzeit vor Ostern kam mir damals gerade recht und ich beschloss, mich während dieser Wochen rein vegetarisch zu ernähren und danach wieder in meine früheren Ernährungsgewohnheiten zurückzu­kehren – bis zum nächsten Osterfest. Überraschenderweise war es für mich aber derart einfach, diese fleischlose Ernährungsvariante aufrecht zu erhalten, dass ich am Ende der Fastenzeit beschloss, bis auf weiteres Vegetarierin zu bleiben – mit dem Zugeständnis an mich selbst, jederzeit wieder damit aufzuhören, wenn mich Heißhungerattacken oder Mangelerscheinungen quälen würden. Seit dieser Entscheidung vor vielen Jahren, die ich für eine der besten meines Lebens halte, vermisste ich Fleisch oder Fisch keine einzige Minute. Mittlerweile ist aus dem anfänglichen Versuch eine fixe Lebenseinstellung geworden. Doch Vegetarierin zu sein, heißt nicht nur, auf Fleisch, Fisch und Wurst zu verzichten, sondern auch auf die meisten Fruchtgummis, die Gelatine enthalten, und auf Käsesorten, die mittels tierischem Lab entstehen. Beides ist für Vegetarier tabu, denn das tierische Eiweiß Gelatine wird aus Knochen hergestellt und die benötigten Bestandteile von Lab werden aus Kälbermägen gewonnen. Glücklicherweise gibt es mittlerweile allerdings viele Alternativen, die Gelatine ersetzen und auch viele Käsereien, die auf mikrobielles Lab umgestellt haben, wodurch sich der tatsächliche Verzicht in Grenzen hält.

Mit einer Nebenwirkung hatte ich allerdings tatsächlich zu kämpfen und das war ein akuter Eisenmangel. Anämie ist eine der häufigsten ­Mangelerkrankungen des Menschen und nicht automatisch der vegeta­rischen Ernährung zuzuschreiben, doch bei mir persönlich war es tat­sächlich so. Auch wenn es theoretisch möglich ist, die notwendigen Eisenanteile aus der pflanzlichen Nahrung zu beziehen, habe ich mich dennoch dafür entschieden, das Eisen von außen, sprich durch Tabletten, zu mir zu nehmen. Lange war mir der Eisenmangel gar nicht bewusst, denn ty­pische Symp­tome wie Kopfschmerzen, Müdigkeit oder Schwindel waren nicht klar ­erkennbar und meine Kurzatmigkeit konnte bestimmt nicht in erster Linie einem Mangel an Eisen zugeschrieben werden. Wie ausge- prägt die Anämie tatsächlich war, wurde erst festgestellt, als ich ein Blutbild für ­meine bevorstehenden Wiederherstellungsoperationen machen musste.


Training für den SWCP.

Der massive Gewichtsverlust von mittlerweile 56 kg hatte deutliche Spuren an meinem Körper hinterlassen. Mein extrem schwaches Binde­gewebe konnte trotz der Langsamkeit der Abnahme nicht Schritt halten und so waren nun zwar die Fettzellen kleiner, doch die überschüssige Haut war geblieben. Die Schürze rund um den Bauchbereich entzündete sich immer wieder, meine Brust hatte schon bessere Tage gesehen und die Oberarme gingen fast als Engelsflügel durch, so allumfassend war der ­Radius bei jeder einzelnen Bewegung. Als ich mir dann beim Zumba ­ständig mit den schwingenden Armen selbst ins Gesicht schlug, wusste ich, dass es genug war und dass ich mich nun doch mit der Operation, die ich eigentlich vermeiden wollte, auseinandersetzen musste. Dieser Schritt fiel mir am schwersten in den letzten Jahren. Ich hatte mich im Vorfeld bereits gegen eine bariatrische Operation, also eine Magenver­kleinerung, entschieden, weil ich mir sicher war, dass ich es auch so schaffen konnte; das klappte ja auch, aber nun war es an der Zeit, sich der Realität zu stellen und zu akzeptieren, dass sich die Haut nicht mehr zurückbilden würde. Schwer war für mich etwa die Tatsache, dass ich mich freiwillig unter Narkose setzen lassen sollte, und zwar für viele Stunden. Ich wusste zwar, dass der Anästhesist die Aufgabe hatte, gut auf mich zu schauen, aber ich tat mir trotzdem schwer, das für gut zu be­finden. ­Außerdem hatte ich tatsächlich auch Angst davor, wie das Umfeld rea­gieren ­würde. Eine Bauchdeckenstraffung fanden viele noch als ange­messen, aber dass ich auch gerne wieder eine schöne Brust haben wollte, das konnten viele nicht nachvollziehen, weil das als unnötige Schönheits­operation einge- stuft wurde. Mit dieser Entscheidung ließ ich mir lange Zeit, vor allem, weil ich immer noch übergewichtig war und somit nicht dem ­gängigen Schönheitsideal entsprach – und vermutlich auch nie ent­sprechen werde. Irgendwann war aber klar, dass ich wohl am Ende meiner Reise der Gewichtsreduktion angekommen war und dass dies nun der Körper war, mit dem ich mich auseinandersetzen musste. Das tat ich schließlich auch und ließ mir zuerst Oberarme und Brust operieren, einige Monate später dann den Bauch. Während Brust und Bauch völlig unkompliziert und schmerzfrei waren, riss ich im Bereich der Oberarme eine massive Wundheilungsstörung auf und musste sogar ein zweites Mal operiert werden. Die Hautproblematik hat sich dadurch erledigt, aber über einen gnaden- los schönen, anbetungswürdigen Körper verfüge ich trotzdem nicht, denn wie man es dreht und wendet, aus einem Nilpferd kann auch der beste Schönheitschirurg keine Gazelle machen. An den neuen Bauch und die neuen Oberarme konnte ich mich schnell gewöhnen, aber die veränderte Brust machte mir sehr zu schaffen; auf diese psychische Belastung war ich nicht vorbereitet. Natürlich war sie viel ­schöner als zuvor, doch sie war mir fremd, gehörte irgendwie nicht zu mir. Erst hier wurde mir bewusst, wie wichtig die Brust für mich als weibliche Person ist, und ich ­denke, dass es vielen Frauen ähnlich geht.


Letzte Weitwanderung vor dem SWCP – der UNESCO Welterbesteig in der Wachau.

Diese Erkenntnis war allerdings nicht die erste Reise in mein Inneres, um die Tiefen meiner Psyche zu erkunden, sondern eher nur eine Ergänzung zu meinen Erkundungen meiner emotionalen Welt. Wie bereits ­erwähnt bin ich der Meinung, dass die Psyche eine wichtige Säule für eine nachhaltige Gewichtsreduktion ist, und so blieb auch mir nichts anderes übrig, als mich auf die Suche nach möglichen Ursachen zu machen, aus denen sich eine derartige Bewäl­tigungsstrategie entwickelt und in weiterer Folge manifestiert hatte. Als ­Sozialpädagogin ist man in der glücklichen Lage, an Supervision, Men­toring und Coaching gewöhnt zu sein, daher hatte ich nie Berührungsängste mit Therapeuten und war auch alternativen Therapieformen gegenüber aufgeschlossen. So entstand im Laufe der Zeit ein bunter Mix aus Gesprächen, kinesiologischen Sitzungen und cranio-sacralen Behand­lungen mit dem Ziel, zu dem Zeitpunkt zurückzukehren, von dem an ­Essen für mich diesen wichtigen Stellenwert eingenommen hatte. Gleich vorweg, hundertprozentig weiß ich es auch heute noch nicht, aber mit ziemlicher Sicherheit ist die Ursache in meiner Kindheit und meinem ­Verhältnis zu meinen Eltern und Geschwistern zu finden. Ich hatte oft das Gefühl, nicht gut genug zu sein, und auch wenn das wohl damals schon nicht der Wahrheit entsprach, so entsprach es doch meinen ­Empfindungen. Ich war weder besonders talentiert noch mit natürlichem Charme gesegnet und so gab es für mich nur die einzige Möglichkeit, mich durch gute Noten in der Schule zu profilieren. Als gute Noten aber nichts Besonderes mehr waren, ging auch diese positive Bestätigungssequenz verloren, und Schokolade wurde immer mehr zu meinem Seelentröster. Der kurz empfundenen Freude über den Genuss folgte in der Regel ein schlechtes Gewissen, das mit einem weiteren Stück Schokolade vertrieben werden musste. Ein ­Teufelskreis, aber zumindest ist wissenschaftlich fast bewiesen, dass ­Schokolade die Gehirnleistung positiv beeinflusst, und so waren wenigstens die guten Noten gesichert. Eine weitere Ursache dürfte das Bedürfnis nach Gesehenwerden gewesen sein. Je dicker ich wurde, umso besser konnte ich von anderen Menschen gesehen werden. Dass ­dieses Sehen aber nichts mit Bewunderung, sondern im besten Fall mit Ignoranz, wahrscheinlicher aber mit Abscheu einherging, realisierte das Unterbewusstsein wohl nicht zeitgerecht.

Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass es die Akzeptanz und das Wissen darum, dass meine Eltern in meiner Kindheit ihr Bestes gaben und mich auf ihre ganz eigene, besondere Weise liebten, waren, die mich schließlich in meinen Diätbemühungen durchhalten ließen. Ich weiß aber auch, dass Adipositas das Thema meines Lebens bleiben wird und auch, dass ich meist nur einen Wimpernschlag davon entfernt bin, in meine ­alten Gewohnheiten zurückzufallen und wieder zuzunehmen. Es würde nur eine Zeit geben, zu der Zunehmen ziemlich unwahrscheinlich wäre, nämlich genau dann, wenn ich mein tägliches Wanderpensum am SWCP herunterspulen würde und endlich zwei Monate lang keine Kalorien ­zählen müsste.

Schritt für Schritt – Unterwegs am South West Coast Path

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