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bb) insbesondere: Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
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Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Parlamentsgesetzes untersuchen Sie im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit insbesondere, ob das Gesetz verhältnismäßig in das Freiheitsgrundrecht eingreift. Denn der Gesetzgeber muss bei seinem Eingriff das sog. Übermaßverbot beachten.
JURIQ-Klausurtipp
Dieser Prüfungspunkt bildet das Kernstück vieler Fallbearbeitungen. Deshalb sollten Sie diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit widmen! Zum Gegenstück des Übermaßverbotes, dem Untermaßverbot, s.o. Rn. 41.
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Die Verhältnismäßigkeit ist ein ungeschriebener verfassungsrechtlicher Grundsatz, der nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (auch) für den grundrechtseinschränkenden Gesetzgeber gilt.[59] Der Gesetzgeber ist nicht völlig frei, wie weit er unter Gesetzesvorbehalt stehende Grundrechte einschränkt. Vielmehr ist er aufgrund des Übermaßverbotes verpflichtet, Begrenzungen bei Einschränkungsmöglichkeiten zu beachten. Damit besteht zwischen dem einschränkenden Gesetz und der hierdurch eingeschränkten Freiheitsgarantie eine Wechselwirkung dergestalt, dass das Gesetz, das ein Freiheitsrecht einschränken kann, seinerseits im Lichte dieses Freiheitsrechts ausgelegt werden muss (sog. Wechselwirkungslehre).[60] Um diesem Erfordernis zu genügen, muss der Gesetzgeber einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen der grundrechtlichen Gewährleistung und dem Eingriff in das Grundrecht herstellen. Die Verhältnismäßigkeit prüfen Sie in vier Schritten: Im ersten Schritt untersuchen Sie, ob das eingreifende Gesetz einen verfassungsrechtlich legitimen Zweck verfolgt. Der Gesetzgeber hat bei der Bestimmung des Gesetzeszwecks einen weiten Gestaltungsspielraum mit der Folge, dass sich der Gesetzeszweck nicht unbedingt aus der Verfassung ergeben muss. Verfolgt er mit einem Gesetz mehrere Zwecke, muss zumindest einer dieser Zwecke verfassungsrechtlich legitim sein.
Steht ein Gesetz zur Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht an, ist umstritten, ob es alle denkbaren Zwecke oder nur den- oder diejenigen Zweck(e) berücksichtigen darf, den/die der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes vor Augen hatte. Das Bundesverfassungsgericht bezieht im Zweifel auch solche Zwecke in seine Prüfung ein, die der Gesetzgeber selbst nicht in Betracht gezogen hat.[61]
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Liegt ein verfassungsrechtlich legitimer Zweck vor, prüfen Sie im zweiten Schritt, ob das Gesetz zur Erreichung dieses Zwecks geeignet ist. Geeignet ist das Gesetz, wenn es den verfassungsrechtlich legitimen Zweck fördert, indem es überhaupt etwas zur Erreichung des Gesetzeszwecks beiträgt.[62] – Ist dies der Fall, gehen Sie im dritten Schritt der Frage nach, ob das Gesetz zur Erreichung des Zwecks erforderlich ist. Erforderlichkeit ist gegeben, wenn es zur Erreichung des Zwecks kein milderes, aber ebenso effektives Mittel gibt.[63] – Bejahen Sie die Erforderlichkeit des Gesetzes, prüfen Sie im vierten Schritt die Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit des Gesetzes (sog. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Ein Gesetz ist angemessen bzw. zumutbar, wenn dieses Gesetz und der mit ihm verfolgte verfassungsrechtlich legitime Zweck in einem „recht gewichteten und wohl abgewogenen Verhältnis“ zueinander stehen.[64] Es ist also eine eigenständige Gewichtung und Abwägung durchzuführen.[65]
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Bei der Frage der Angemessenheit des Gesetzes kommt es auf Ihre Argumentation an. Alle für und gegen das Gesetz sprechenden Interessen fließen in die Abwägung ein. Für Sie bedeutet das, alle denkbar relevanten Interessen möglichst konkret herauszuarbeiten. Sodann werden die verschiedenen Interessen nach dem Grad ihrer Beeinträchtigung gewichtet.
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Bei der Prüfung der Angemessenheit bzw. Zumutbarkeit eines Eingriffs nimmt das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen mitunter eine sog. „Schutzbereichsverstärkung“ vor. Das Gericht prüft an dieser Stelle dann weitere Grundrechte, die (mangels Eröffnung des Schutzbereichs oder mangels Eingriffs) selbst nicht verletzt sind, mit.
Hinweis
Das Bundesverfassungsgericht setzt bei der Schutzbereichsverstärkung das unmittelbar einschlägige Grundrecht und das nur mittelbar einschlägige Grundrecht in Verbindung zueinander und benennt die Grundrechte ausdrücklich mit „Art. … GG i.V.m. Art. … GG“.
Beispiel 1[66]
Die Beschlagnahme von Datenträgern eines Rechtsanwalts wurde vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie am Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemessen, dabei wurde aber die Berufsfreiheit des Rechtsanwalts mitberücksichtigt, obgleich ein berufsspezifischer Eingriff nicht vorliegt.
Beispiel 2[67]
Das Schächten wurde vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie an der Berufsfreiheit des muslimischen Metzgers (türkischer Staatsangehöriger) nach Art. 2 Abs. 1 GG gemessen, der Aspekt der Glaubensfreiheit wurde im Rahmen der Berufsfreiheit mitberücksichtigt.
Beispiel 3[68]
Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Verfahren und die gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen im Bereich von Qualifikationsentscheidungen, die Voraussetzung für den Zugang zur Stellung eines Hochschullehrers sind (also namentlich die Habilitation), wurden vom Bundesverfassungsgericht in erster Linie an der Berufsfreiheit des Habilitanden (Art. 12 Abs. 1 GG bzw. im entschiedenen Fall Art. 2 Abs. 1 GG, weil der Betroffene die österreichische Staatsbürgerschaft inne hat) gemessen und durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit verstärkt.
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Bei der Schutzbereichsverstärkung handelt es sich „methodisch und im Ergebnis“ um eine „Flexibilisierung der deutschen Grundrechtsdogmatik“.[69] Dogmatisch ist insoweit noch vieles im Unklaren, so z.B. die Voraussetzungen des Bezugs zu einem Grundrecht jenseits eines Eingriffs in seinen Schutzbereich, die Folgen der Berücksichtigung des nur mittelbar einschlägigen Grundrechts.[70] Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur deshalb umstritten und hat sich bislang nicht durchgesetzt.[71]
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Da das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts zu Modifikationen im Rahmen der Abwägung führt und viele dogmatische Fragen noch ungeklärt sind, wird in der juristischen Ausbildungsliteratur die Anwendung einer Schutzbereichsverstärkung für die Fallbearbeitung ohne Weiteres abgelehnt,[72] zumindest aber „zu größter Vorsicht“ geraten, „auf diese Methodik zurückzugreifen“[73], bzw. empfohlen, „in Zweifelsfällen weiterhin alle Grundrechte einzeln zu prüfen“[74].[75]
Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen mitunter eine Schutzbereichsverstärkung durchführt, dürfte ein entsprechendes Vorgehen in einer Prüfungsarbeit nicht ohne Weiteres möglich sein. Die Anwendung der Schutzbereichsverstärkung müsste vielmehr zunächst erläutert, vor allem dogmatisch begründet werden.[76]
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In unserem Beispiel oben (Rn. 128) hatten wir festgestellt, dass der Gesetzgeber von dem Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG Gebrauch gemacht hat und dass das Gesetz daher verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, wenn es eine verfassungsmäßige, insbesondere verhältnismäßige, Konkretisierung des Regelungsvorbehalts des Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG darstellt. Das Gesetz, das das ausnahmslose Nachtarbeitsverbot für handwerkliche Kleinbetriebe vorsieht, ist formell verfassungsgemäß. Zu prüfen ist, ob das Gesetz auch materiell verfassungsgemäß ist. Fraglich ist, ob das Gesetz verhältnismäßig ist. Das Gesetz hat den verfassungsrechtlich legitimen Zweck, die Gesundheit von immissionsbetroffenen Nachbarn zu schützen. Zur Erreichung dieses Zwecks ist das Nachtarbeitsverbot geeignet. Zur Erreichung dieses Zwecks müsste das Nachtarbeitsverbot auch erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn es kein milderes, aber ebenso effektives Mittel gibt, um den Gesetzeszweck zu erreichen. Das ist hier zu verneinen, weil die Möglichkeit besteht, anstelle eines gesetzlich normierten ausnahmslosen Nachtarbeitsverbotes ein sog. präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt im Gesetz vorzusehen. Dies würde bedeuten, dass nächtliches Arbeiten zunächst verboten ist, die zuständige Behörde nach Prüfung der tatsächlichen und rechtlichen Umstände im Einzelfall das Nachtarbeitsverbot (ggf. unter Erteilung von Auflagen) aber erlauben kann. Die Entscheidung über ein Nachtarbeitsverbot würde hierdurch in das Ermessen der zuständigen Behörde gestellt. Dieses Vorgehen würde gewährleisten, dass die widerstreitenden Interessen einerseits des Gewerbetreibenden (u.a. Ausschöpfung seiner wirtschaftlichen Kapazitäten) und andererseits der Nachbarn (Gesundheitsschutz) im Einzelfall zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. So wäre Nachtarbeit zu erlauben, wenn die Nachbarn durch geeignete und zumutbare bauliche Maßnahmen auf dem Betriebsgelände vor den vom Handwerksbetrieb ausgehenden Immissionen geschützt werden (z.B. besondere Lärmdämmung o.Ä.). Damit erweist sich das ausnahmslose Nachtarbeitsverbot als nicht erforderlich, um den Gesetzeszweck zu erreichen. Das Gesetz ist somit unverhältnismäßig, demnach materiell verfassungswidrig und folglich verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. A ist in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt. – Hilfsweise unterstellt, das Gesetz ist erforderlich, müsste es angemessen sein. Nach der sog. Dreistufentheorie des Bundesverfassungsgerichts (s.u. Rn. 585 ff.) sind Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit angemessen, wenn vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls die Ausübungsregelungen zweckmäßig erscheinen lassen, wobei der Gesetzgeber einen relativ weiten Gestaltungsspielraum besitzt. Das Gesetz bezweckt den Schutz der Gesundheit von immissionsbetroffenen Nachbarn. Die Nachbarn sollen in ihrer Nachtruhe geschützt werden, die der notwenigen gesundheitlichen Regeneration dient. Permanente nächtliche Beeinträchtigungen der Nachtruhe durch betriebsbedingte Immissionen können das körperliche Wohlbefinden der Nachbarn nicht unerheblich schmälern. Dies sind vernünftige Allgemeinwohlerwägungen, die das Gesetz zweckmäßig erscheinen lassen. Bei unterstellter Erforderlichkeit erweist sich das Gesetz demnach als angemessen. Es ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt. A ist somit nicht in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzt.