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cc) insbesondere: Wahrung des Wesensgehalts
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Eine letzte verfassungsrechtliche Grenze für Eingriffe der Legislative in den Schutzbereich eines Grundrechts bildet die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG.[77]
Beispiel
Der Landesgesetzgeber ergänzt sein Polizeigesetz um eine Bestimmung, nach der der Schusswaffengebrauch zulässig ist, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr darstellt. Wird hierdurch der Wesensgehalt i.S.d. Art. 19 Abs. 2 GG des Grundrechts auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angetastet?
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Umstritten ist, wie der Wesensgehalt von Grundrechten zu ermitteln ist. Fest steht, dass der Wesensgehalt für jedes einzelne Grundrecht gesondert bestimmt werden muss.[78] Zur generellen Ermittlung des Wesensgehalts von Grundrechten werden zwei Theorien vertreten: die Theorie vom absoluten Wesensgehalt und die Theorie vom relativen Wesensgehalt.[79]
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Die Theorie vom absoluten Wesensgehalt betrachtet den Wesensgehalt eines Grundrechts als eine feste, vom Einzelfall und von der konkreten Frage unabhängige Größe. Der Wesensgehalt eines Grundrechts ist demnach ein Grundrechtskern, der unabhängig von der konkreten Fallgestaltung unantastbar ist. Nach dieser Theorie ist es ausgeschlossen, den Wesensgehalt einzelfallbezogen zu ermitteln. In unserem Beispiel oben (Rn. 149) entzieht der Schusswaffengebrauch demjenigen, der vom Schuss getroffen wird, das Recht auf Leben. Die allgemeine Gewährleistung des Rechts auf Leben wird hierdurch jedoch nicht angetastet. Nach der Theorie vom absoluten Wesensgehalt ist das Grundrecht auf Leben somit nicht verletzt.
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Die von der h.M. vertretene Theorie vom relativen Wesensgehalt ermittelt den Wesensgehalt von Grundrechten, indem sie auf das jeweilige Grundrecht abstellt und den Wesensgehalt für jeden einzelnen Fall gesondert bestimmt. Durch eine Gewichtung und eine Abwägung der im Einzelfall beteiligten öffentlichen und privaten Rechtsgüter und Interessen ermittelt diese Theorie, ob der Wesensgehalt eines Grundrechts angetastet ist. Eine Antastung soll nicht gegeben sein, wenn dem Grundrecht das geringere Gewicht für die konkret zu entscheidende Frage beizumessen ist;[80] umgekehrt ist der Wesensgehalt angetastet, wenn er beeinträchtigt ist, obwohl ihm das größere Gewicht für die konkret zu entscheidende Frage zukommt.
Hinweis
Sie sehen: Mit dieser Vorgehensweise rückt die h.M. in die Nähe der Verhältnismäßigkeitsprüfung.
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Nach der Theorie vom relativen Wesensgehalt wird in unserem Beispiel oben (Rn. 149) demjenigen, der vom Schuss getroffen wird, durch den Schusswaffengebrauch das Recht auf Leben entzogen. Ob hierdurch der Wesensgehalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angetastet worden ist, entscheidet die Theorie vom relativen Wesensgehalt danach, ob der Schusswaffengebrauch im konkreten Einzelfall verhältnismäßig war.
JURIQ-Klausurtipp
Folgen Sie der herrschenden Theorie vom relativen Wesensgehalt, bedeutet dies für Sie in der Fallbearbeitung, dass Sie nach der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Frage der Verletzung des Wesensgehalts allenfalls – bei entsprechenden Anhaltspunkten im Sachverhalt – noch kurz auf den Wesensgehalt eingehen können bzw. müssen. Keinesfalls sollten Sie die ohnehin selten praktisch relevant werdende Problematik des Wesensgehalts aber überbewerten.