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Wenige Stunden nach dem

Frankfurter Konzert. Franco ist in heller

Aufregung und total verzweifelt.

Franco Mignello hatte aufregende Stunden hinter sich. Zum einen waren die kurzen Informationen, die er während seiner Telefonkonferenz von Zamko Wendrowu, James Waltham und Choe Chu erhalten hatte, sehr aufschlussreich gewesen, hatten ihm neue Bausteine zu seinem Puzzle geliefert. Zum anderen waren sie deshalb aufregend, weil er ahnte, dass Stella sich in einer stetig wachsenden Gefahr befand. Die Intervalle der Versuche, sie zu killen, wurden immer kürzer. Als er sich heute Nacht dessen sicher war, konnte er Jonathan noch vage warnen, dass etwas geschehen könnte. Mehr war auf die Schnelle nicht möglich. Da Jonathan soeben nichts weiter gesagt hatte, konnte das mehreres bedeuten. Das Wichtigste jedoch: Stella war wohlbehalten in ihrer Suite angekommen.

Nur sie beide, Franco und Jonathan, wussten von der extremen Gefahr, die seiner großen Liebe drohte. Franco hatte alle Informationen, die er im Laufe der letzten Stunden von seinen Zuträgern erhalten hatte, in sein Gefahren-Puzzle-Schachspiel-Such-Programm eingegeben, das er sich von einem Software-Genie hatte schreiben lassen. Sein aufgemotztes MacBook Pro brauchte keine zwei Minuten, um anhand der Fakten ein Ergebnis in Richtung ... große Gefahr auf der Rückfahrt zum Hotel ... auszuspucken, so dass Franco Jonathan vor weniger als einer Stunde leider nur eine allgemeine Warnung zu geben vermochte.

Ein weiteres Problem: Es gab den Mann, der sie zum Essen in die >Ente< entführt hatte, und der – nur durch eine gemauerte Wand und dicke Seidentapeten von Franco getrennt – den Rest der Nacht bei seiner über alles geliebten Stella verbringen würde. Jedes Mal erneut waren das für ihn die schlimmsten Stunden seines Lebens. Er litt Qualen, seelische Höllenqualen, die über seine Kräfte gingen, ohne dass er sich das eingestehen wollte.

Franco Mignello hatte einen Beobachter im Konzert gehabt. Einen Bühnenroady, der auch in die sensiblen Bereiche backstage durfte und von Franco ausschließlich auf Stellas Manager Marek Bergfield angesetzt war. Der Roady hatte ihm per SMS mitgeteilt, wer Stellas Gigolo für die heutige Nacht sein würde, dazu ein Foto geschickt, das Bergfield und den Unbekannten im Gespräch zeigte. Denn trotz aller Vorsicht, die Bergfield bei der Suche nach dem Richtigen walten ließ, war es unvermeidbar, dass der Stenz und Bergfield miteinander Kontakt hatten und der Roady hatte dabei den Namen des Galans aufgeschnappt. Glücklicher Zufall. Ab dem Moment liefen bei Franco die Drähte heiß, weil er natürlich wissen wollte, um wen es sich heute handelte.

Rudolf Meerbold. Er gab den Namen bei Google ein, doch das Suchprogramm spuckte nur einen Berufspolitiker aus, der für die deutsche Regierung tätig war. War der Name ´geliehen´ oder der Typ, der jetzt in Stellas Suite weilte, wirklich der Politiker? Der Name war sein einziger Anhaltspunkt. Wo sollte Franco ansetzen, wen fragen? Obendrein war es bereits kurz vor Mitternacht. Die soliden Bekannten, die er in Deutschland durchaus hatte, auch wenn sie ein paar Jahrzehnte älter waren als er, schliefen bereits und kannten sich zudem in der Polit-Branche nicht aus. Und die Jungs aus der Musikszene waren noch auf der Piste und würden ebenfalls wenig hilfereich sein, einen Politiker anhand eines schlechten Handyfotos zu identifizieren. Dennoch konnte er recherchieren, dass es einen Meerbold in Bonn/Berlin gab. Staatssekretär im Wissenschaftsministerium, karrieregeil, intelligent, durchaus über Leichen gehend und knallhart im Business. Mitte vierzig, jünger aussehend, großbürgerlicher Herkunft, reich, verheiratet. Könnte das der Mann sein, den er suchte? Es gab im Netz wenige Fotos von ihm, die wenig Ähnlichkeit mit dem zeigten, welches der Roady ihm geschickt hatte. Die Unterschiede erschienen auf den ersten Blick zu groß. Franco setzte eine weitere Software ein, die die Anatomie und Physiognomie des ihm zur Verfügung stehenden Fotos des Mannes, der sich als Meerbold ausgegeben hatte, abglich.

Bingo.

Rockfan und Staatssekretär waren ein und dieselbe Person! Daran gab es nun keinen Zweifel mehr. Franco jubilierte. Solche Treffer brauchte er, um für seinen Liebling erfolgreich arbeiten zu können. Trotzdem war es ihm in den vergangenen Stunden nicht gelungen, mehr als nur Allgemeinplätze über den Mann in Erfahrung zu bringen. Elternhaus, Schule, Internet, Studium, sein aktueller Job, seine politische Vergangenheit, Gegenwart, Ehe und so weiter. Nichts Auffälliges, oberflächlich betrachtet. Wenn da nicht der heutige Konzertbesuch und das Abschleppen von Stella wären. Das passte irgendwie schlecht zusammen. Für Franco war, die Puzzleteile zusammengefügt, eines schon jetzt zu erkennen: Der Herr führte ein Doppelleben. Francos auf die Schnelle durchgeführten Recherchen mit Hilfe seines Netzwerkes in Frankfurt hatten ergeben, dass der Mann eben nicht Reiner Seibold hieß, als der er in dem billigen Hotel eingecheckt hatte, das schnell gefunden war. In seinem Handgepäck, das Franco checken ließ – Jonathan hatte hierzu einen ehemaligen Studien-Kumpel, der zurzeit bei der US-Army in Frankfurt stationiert war, engagiert –, befanden sich Regierungsunterlagen aus Berlin. Die Papiere waren mit dem Stempel des Wissenschaftsministeriums versehen, adressiert an Staatssekretär Rudolf Meerbold. Dann waren da noch mehrere Flugtickets, von Berlin nach Brüssel, von Brüssel nach München, von München nach Frankfurt. Alles vom inzwischen vergangenen Tag. Und Frankfurt/Berlin war für den kommenden Morgen gebucht. Klar, ein Regierungstyp kann schon so viel unterwegs sein. Aber warum war er nicht direkt von Brüssel nach Frankfurt zum Konzert geflogen? Was hat er für zwei Stunden noch in München gemacht? Ein weiteres Meeting für sein Ministerium? Oder Ablenkung? Es hätte freie Plätze auf der Lufthansa-Maschine Brüssel/Frankfurt gegeben. Warum der andere Name, um abends in ein Rockkonzert zu gehen und sich Stella dann doch unter seinem richtigen Namen vorzustellen? Zumal optisch ziemlich stark verändert ...

Merkwürdig.

Nun ja, der Typ ist verheiratet. Sicher sollte seine Angetraute von dem Extratrip nichts erfahren. Hat er eine Geliebte in Frankfurt? Unabhängig von dem nächtlichen Erlebnis mit Stella? Waren Konzertbesuch und Flirt mit Stella Henderson der einzige Grund für die Tarnung, oder gab es da mehr? Weshalb München, bei dem gedrängten Zeitplan? Die Maskerade zum Konzert konnte er noch irgendwie verstehen. Im Business-Dress wäre der Typ zu sehr aufgefallen.

Mignello checkte fieberhaft seine Kontakte in München ab. Spannte einen Gitarristen ein, von dem er wusste, dass er derzeit auf einer Studiosession im Münchener F.A.M.E. Recordingstudio spielte. Da Musiker meist bis spät in die Nacht arbeiten, hatte er das Glück des Tüchtigen auf seiner Seite. Der Gitarrero machte sich sofort auf den Weg, zapfte seinerseits einen Kontakt an, eine VIP-Betreuerin des Münchener Flughafens, mit der er mal ein Techtelmechtel hatte, um herauszubekommen, ob und wann, wie und wo Meerbold gestern im Flughafengelände gesehen worden war. Franco hatte ihm das Bild des gesuchten Mannes geschickt und der Freund setzte sich in ein Taxi und fuhr zu Hella, der Scharfen von der Lufthansa. Er klingelte sie nicht nur aus dem Bett, sondern schmiss zugleich auch ihren Liebhaber mit raus. Sie fuhren beide sofort zum Airport, aber die Suche blieb erfolglos. Das Nachtpersonal wusste nichts, erkannte Meerbold nicht, hatte nichts gesehen.

Shit!

Franco war sich bewusst, dass er im Laufe der letzten zwei Jahre fast schon paranoid übervorsichtig geworden war und im wahrsten Sinne des Wortes die Flöhe husten hörte, wenn es um das Wohlbefinden seiner Liebsten ging. Es war nicht befriedigend, was er in den wenigen Nachtstunden herausgefunden hatte, aber ein Anfang. Alles andere zum Thema Meerbold musste er am kommenden Vormittag klären. Wohin ihn, Dr. Franco Mignello, seine Recherchen führten, das war jetzt noch nicht abzusehen. Auf jeden Fall machte er sich akribisch an die Arbeit, um Stellas nächtlichen Begleiter so oder so zu entlarven. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Sagte seine Großmutter immer, wenn sie sich einen Cappuccino zu voll einschenkte und hoffte, nicht ein einziges Tröpfchen beim Trinken des köstlichen Getränks zu vergießen.

Seit vierhundertelf Tagen immer das gleiche Bild. Nacht für Nacht, von wenigen Ausnahmen abgesehen, verschwand Stella mit einem anderen Mann in ihrer jeweiligen Suite, denn sie war ja fast ununterbrochen on tour. Seit dem Tod ihres Bruders hielt sie es noch weniger in ihrer Traumvilla in Miami Beach aus, als in den Zeiten, in denen ihr geliebter Bruder Aaron noch an ihrer Seite war. Jeder ihrer Angestellten war dauerhaft auf stand by programmiert, wartete quasi stündlich darauf, dass der Superstar nach Hause kommen könnte, doch der Wunsch erfüllte sich leider nur selten. Denn die Angestellten von Stella arbeiteten ausgesprochen gerne für sie. Stella war umgänglich, immer freundlich, kein bisschen arrogant. Selten, dass sie vergaß, kleine oder auch größere Geschenke mitzubringen. Und die Geschenke waren handverlesen, nicht einfach über einen Shopping-Service gekauft. Sie wurde ohne Einschränkung für ihre Menschlichkeit und Großzügigkeit geliebt. Es gab relativ wenig Getuschel hinter ihrem Rücken, obwohl man mehr oder minder wusste, was sie nach ihren Konzerten trieb. Man glaubte zumindest, etwas zu wissen. Geredet und vermutet wurde viel, aber mit eigenen Augen und Ohren hatte bislang niemand ein nächtliches Rendezvous erlebt. Ihre Bodyguards, die ihr Privatleben am besten kannten, wie auch die Musiker ihrer Band, erwiesen sich als total verschwiegen. Und zu Hause, in Miami, war Stella äußerst zurückhaltend. Besuch von Männern, die über Nacht blieben, konnte das Personal über die Jahre an einer Hand abzählen. Meist schliefen die Besucher im Gästetrakt.

Dennoch: Wenn sie ihre Villa verließ und auf Reisen ging, gab es nur wenige Nächte, in denen sie allein schlafen ging. Getrieben von ihrer eigenen inneren Unruhe, die sich seit dem Tod ihres Bruders potenziert hatte, getrieben von ihren erotischen Gelüsten, ihrem Männer-Verletzen-Wollen-Syndrom und nicht zuletzt getrieben von einer für Außenstehende unverständlichen, unsagbaren Einsamkeit, die sich bei ihr einstellte, seit sie ihre erste Million CDs verkauft hatte, zum ´Star´ avanciert und von den Medien als die große Geheimnisvolle im Rockbusiness geliebt und gejagt worden war.

Franco konnte nur machtlos zuschauen. Fertig, sauer, abgespannt, traurig, seelisch ausgelaugt. Er konnte seine Gefühle inzwischen nicht mehr genau analysieren, schien paralysiert zu sein. War es die wahre, große und einmalige Liebe zu Stella Henderson, die ihn erwischt hatte? Er wusste es nicht, oder doch? Seit der ersten Begegnung mit Stella war es um ihn geschehen. Das unerklärliche Sekundenphänomen, Liebe genannt, machte sich in Millisekunden in seinem Herzen breit, dass er fast erdrückt wurde. Das in ihm ein Gefühl auslöste, wie er es zuvor noch nie verspürt hatte. Dessen war er sich ganz sicher. Es umklammerte ihn ein Liebessog kosmischen Ausmaßes und der beherrscht ihn bis zum heutigen Tage. Gibt es das? Flattern des Herzens, das kennt jeder Verliebte. Nasse Hände, nervöses Atmen, nicht mehr klar denken können – ein Glücksgefühl ohnegleichen, wenn man den anderen spürt, ihn sieht, hört ... Vielleicht war es – inzwischen, potenziert durch sein Wissen um ihr Leben außerhalb der Bühne – eine egoistische Eifersucht, die ihn zu seinem jetzigen, für Außenstehende unverständlichen, ja, krankhaften Verhalten antrieb. Oder ´nur´ die altruistische Liebe eines uneigennützigen jungen Mannes, der zufällig über die Songs der Rocklady auf die Person Stella gestoßen war und sich unsterblich in ihr Äußeres und ihre vielschichtigen, für ihn sehr aussagekräftigen Songs verschossen hatte? Der nicht sehr attraktive Italiener wusste, das sei ihm zugutegehalten, zum Zeitpunkt seines sich Verliebens in Stella noch nichts von wahrer und allumfassender Liebe, wie es sie zwischen zwei Menschen geben kann. Nicht aus eigenem Erleben. Durfte er überhaupt Liebe empfinden, da er in fast zwei Jahren noch nicht ein einziges Wort mit ihr gewechselt hatte? Sicher, er kannte seine platonische Geliebte besser, als die meisten Menschen Stella je kennenlernen würden. Er war ihr nah, sehr nah. Er fühlte mit ihr, litt mit ihr. Er kümmerte sich um sie. Beschützte sie. Das war ziemlich schizophren. Dessen war sich Franco in sehr seltenen Momenten bewusst. Aber springe einer über seinen Schatten! Wie schwer ist das! Wie stark dagegen Liebe! Wie will man sie erklären? Ganze Generationen von Dichtern haben es versucht – und doch empfindet jeder Mensch anders, fühlt, denkt, liebt nach seinem ureigenen, ihm vorgegebenen Karma, seinen Genen, folgt einem Lebensschema, gegen das kein Individuum ankämpfen kann. Auch Franco folgte seit seiner Geburt einer unverwechselbaren, vom Kosmos nur für ihn von Gott ´hergestellten/zugeteilten´ Matrix ...

Getrieben von Gefühlen, einer Mischung aus dem Beschriebenen und Unerklärlichem, getrieben von der großen Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, war seine Seele müde. Franco war ausgebrannt, psychisch und physisch. Während sein Liebling nach den langen Nächten, die Franco eifersüchtig überwachte und die ihn von Tag zu Tag mehr schmerzten, ausschlafen konnte und glücklich zu sein schien, lief seine Maschinerie, die auf Stellas Überleben und den Job als Boss eines riesigen Konzerns programmiert war, auf Hochtouren.

Auf der aktuellen Welttournee glichen sich die Tagesabläufe fast wie ein Ei dem anderen: Stella reiste auf kurzen Entfernungen zwischen zwei Spielorten vorzugsweise mit dem Helikopter, bei längeren mit ihrem Privatjet, den sie nach Europa mitgenommen hatte. Nach fast jedem Konzert brachte Marek Bergfield seinem Superstar einen Galan direkt auf die Suite, in ein Restaurant, einen Nachtclub oder einen Club – wo immer Stella sich aufhielt und auf das nächtliche Tête-à-Tête wartete. Über den Rest musste Franco schweigen, auch wenn er sich sein Gehirn nach dem „Warum?“, dem Grund für ihr Verhalten, schier zermarterte, er verrückt zu werden drohte und kaum noch die Kraft aufbrachte, sich jede Nacht aufs Neue auf seine große Aufgabe zu konzentrieren, Stella zu beschützen und außerdem den Konzern der Familie zu führen. Der Kummer mergelte ihn aus. So sehr er sich auch bemühte, Kräfte aufzubauen – es misslang. Alles in ihm kreiste nur um seine Stella. Franco konnte sich den Luxus des langen Schlafens nicht leisten. Im Laufe der Monate war dadurch ein immenses Schlafdefizit zusammengekommen, das er nur durch hohe Disziplin in allen Lebensbereichen und seine gesunde, ausgewogene Ernährung einigermaßen zu kompensieren vermochte. Es galt, die Tage und Nächte akribisch zu organisieren. Mit seinem Team auf Stella aufpassen, das hieß für alle, den gesamten Tour-Plan minutiös mitzuleben. Und das absolut unauffällig, so perfekt, dass niemand aus dem großen Tross des Superstars ihn und seine wenigen Verbündeten registrierte und neugierig wurde, wer der Verrückte denn wohl sein könnte. Er checkte in die Hotels, in denen Stella abstieg, immer erst ein, wenn die gesamte Stella-Crew bereits in der jeweiligen Konzerthalle war. Und er verließ seine Suite so selten, dass niemand auf ihn aufmerksam werden konnte. Das Essen ließ er sich bringen; die Hotelrestaurants, Bars, Wellnessbereiche blieben für ihn tabu. Nur wenn er hin und wieder ein Konzert für einige Songs besuchte – er hatte sich für alle Konzerte der Welttour Tickets gekauft –, verließ er unauffällig das Hotel, wenn möglich durch einen Hinterausgang.

Zu vielen Herren glaubte Franco gleichzeitig dienen zu müssen.

Da war an erster Stelle der Konzern seines Vaters, des Chemikers Arno Mignello. Der war ein mächtiger Mann in Italien. Die alt eingesessene Industriellenfamilie der Mignellos hatte sich in verschiedenen Branchen über Generationen fest etabliert. Sie gehörten zu Italien wie Ferrari, Fiat, Versace und Pirelli. Arno Mignello hatte in den vergangenen dreißig Jahren aus einem renommierten Familienunternehmen die HORLI-Gruppe aufgebaut. Ein bestens florierender Chemiekonzern, ein Milliarden-Unternehmen mit Hauptsitz in Verona, der wunderschönen, verträumten, durch Touristen überlaufenen und eher durch Opernaufführungen in der Freiluftarena Veronas als durch einen Chemiekonzern bekannt gewordenen Stadt südlich des Gardasees.

Die weltweit agierende HORLI-Gruppe war auf Drängen des Juniors gerade dabei, große Teile der klassischen Produktionen einzufrieren, um sich den veränderten Bedingungen der Umwelt zu stellen und neue, revolutionäre, umweltfreundliche Produkte auf den Markt zu bringen, die mit dem eigentlichen Hauptgeschäft, klassischen Chemieprodukten, nicht mehr viel zu tun hatten.

Dr. Franco Mignello, das junge Genie der Familie, noch nicht einmal 19 Jahre jung als er in die Konzernleitung einstieg, hatte bei der Umgestaltung des Konzerns seinen hyperintelligenten Kopf gegen das Management der HORLI-Gruppe – die immerhin ein Netz von einhundertzwölf Betrieben in sechsundzwanzig Ländern umfasste – überzeugend durchgesetzt. Seine Doktorarbeit in Ökonomie, die er im vergangenen Jahr an der Harvard University in Boston fast nebenbei geschrieben hatte, weil ihn Stella schon voll in Anspruch nahm, beschäftigte sich mit der Um- und Neugestaltung von Industriebetrieben verschiedenster Branchen hin zu ausschließlich umweltfreundlichen Produkten unter dem Gesichtspunkt höchstmöglicher Effizienz in Produktion und gesundem Profit unter der Bedingung, vernünftige Löhne zu zahlen, keine Arbeitskräfte zu entlassen und notwendige Umschulungen auf Kosten der Firma vorzunehmen. Dargestellt am Beispiel des weit verzweigten Konzerns des Vaters.

Er zeigte auf, wie man Produktionsanlagen in der Chemie für umweltfreundliche Produkte weiter nutzen konnte, ohne sie komplett neu strukturieren und bauen zu müssen. Er erarbeitete intelligente Systeme, die es zuließen, mit geringstem finanziellen Aufwand Produktionen komplett umzustellen. In Feasibility-Studies wies er zweifelsfrei nach, dass die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen durch die Umstellungen sogar überproportional zunahm. Mehrgewinne, so sein Vorschlag, seien an internationale Hilfsorganisationen abzuführen und zur Weiterbildung der Mitarbeiter zu nutzen. Mit dieser Arbeit machte sich Franco nicht nur Freunde. Dennoch: Einige unabhängige Fachblätter in Italien griffen seine Forschungsergebnisse auf, schlugen Mignello junior sogar für den Nobelpreis vor.

Eine bahnbrechende Arbeit; dem jungen Mann war ein Geniestreich gelungen. Aber das interessierte das Nobelkomitee kaum. Wo käme man hin, wenn man es den jungen Leuten so einfach macht. Wenn man ihnen zugesteht, dass sie in der Lage sind, auch ohne dreißigjährige Praxis in Wissenschaft und Industrie Meilensteine für die Menschheit setzen zu können. Erschwerend kam hinzu, dass allgemein bekannt war, dass Franco Mignello ein ziemlich radikaler Rockfan ist. Der – oh Schande! – auch noch in einer erfolgreichen britischen Trash Metal Band Schlagzeug spielte. Der aufgrund seines großen Talentes und des eigenwilligen Stils zu schleppen und zu powern an den so häufig kopierten und nie erreichten John Bonham von Led Zeppelin erinnerte, der am 27. September 1980 nach einer durchzechten Nacht so unfein aus dem Leben geschieden war. Es hieß ferner, dass Franco von Slash umworben wurde, dem ehemaligen Lead-Gitarristen von Guns´n´Roses, der US-Kultgruppe aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts, der inzwischen erfolgreich mit Velvet Revolver tourt und seinen alten Kumpel und Drummer Matt Sorum aus Altersgründen austauschen wolle. Alles nichts für das erzkonservative Nobelpreiskomitee.

Fatal war nur, dass es in dem zur Jahrtausendwende begonnenen Wassermannzeitalter* (siehe Anhang), welches das Denken und Fühlen der Menschen durch die veränderte Strahlengestaltung des Kosmos völlig umkrempeln wird, zunehmend mehr junge, sich in ihrem Denken und Handeln wandelnde Wissenschaftler und Industrielle, Medienfachleute wie Kreative jeder Couleur gab, die das Genie des Jungen erkannten und förderten. Die LOHAS (Lifestyle Of Health And Sustainability), eine Bewegung, die kurz vor der Jahrtausendwende in den USA entstanden war, hatte inzwischen nicht nur Millionen von Sympathisanten, sondern das Ziel, über die eigene Lebensart hinaus für die in Umwandlung begriffene Welt mehr zu tun, als ihr Konsumverhalten zu ändern. Die Welt ist auf dem Weg hin zu einer geistig harmonischen, irrational-mystisch und zugleich rationalen Denk- und Lebensweise. Doch das würden die meisten Menschen erst begreifen, wenn sie durch die immensen Verwerfungen, die es in den ersten fünf, sechs Jahrzehnten des neuen Zeitalters zwangsläufig geben musste, selbst aus ihrer Lebensbahn geworfen werden und sich neu sortieren müssen.

Alles, was Franco tat, entsprang dem ganz natürlichen Denken und Fühlen des jungen Mannes. Eine Gabe, die die meisten Menschen abgelegt haben, weil sie gelebt werden und nicht mehr selbst denkend, frei und bewusst leben und es dadurch verlernt haben, auf ihre innere Stimme zu hören, sich auf sie zu verlassen.

Franco Mignello: Der Typ war, wie er war. Verkorkst und schrullig, mit all seinen geniehaften Seiten, derer er sich nur zum Teil bewusst war und mit seinen Macken und Schwachpunkten, die er besser kannte und an sich akzeptierte. Er war ein Mensch, kein Übermensch. Ein außergewöhnlich intelligentes Kind, das sich selbst nicht limitiert hatte, das sich auch heute nicht limitieren ließ und das durch die Eltern, die ihn formende Umwelt, ebenfalls nicht limitiert wurde. Einer, der stets sagt, zu Papier bringt, was er wirklich denkt, fühlt und empfindet. Einer, der umsetzt, was er für richtig hält. Ganz schlicht, geradlinig und natürlich. Ohne Allüren, ohne vordergründiges Profitdenken, ohne Streben nach Macht. Altruistisch, ohne dass Altruismus für sein Handeln irgendeine Bedeutung hat. Seine Art zu denken, handeln, leben war und ist eine Selbstverständlichkeit für Franco. Basta. Die Basis – tief verwurzelte Menschlichkeit und Natürlichkeit. Liebe. Freude am Leben, Humor.

Und Spaß an Musik.

Ja, Franco der Musiker. Der Drummer, der am liebsten in der Band von Stella Henderson spielen würde, aber dadurch seiner sich selbst gestellten Aufgabe, Stella zu beschützen, nicht in dem Maße hätte nachgehen können, wie er es für notwendig erachtete. Und dem es total gegen den Strich gehen würde, einen anderen Musiker aus der Band zu katapultieren. Eine Frage der Ehre. So etwas macht man nicht. Und somit war es ihm unmöglich, um den Job bei Stella zu fighten. Außerdem hatte er längst bemerkt, dass die Musikertruppe um Stella ein verschworener, glücklicher Haufen war! Da darf man nicht einbrechen. Franco war zum Zuhören verdammt. Was den talentierten Drummer schmerzte. Denn Musik war seine eigentliche Welt. Eine Welt der Emotionen, der Zärtlichkeit und Wildheit, der Widersprüche, der Klarheit, Rauheit. Die kosmische Dimension von Rhythmus. Gefangen sein in Sound und Rhythmus und zugleich unendlich frei, unendlich weit und offen. Seine Gefühlswelt.

Eine Welt von kosmischer Größe. Klang. Der ganze Kosmos ist Klang, der auf Schwingungen basiert.

Schwingungen.

Schwingungen, die der Kosmos für die Menschen in hörbare Geräusche ´übersetzt´ hat. Innerhalb einer Oktave zwölf Töne – gemäß den zwölf Planeten unseres Sonnensystems – die, wenn sie gut zusammengestellt sind, in einer Weise schwingen, dass sie uns verzaubern. Sinustöne und Geräuschkomponenten ... Aus diesen Schwingungen wird Musik. Töne werden zu Liedern, Hymnen, Symphonien. Der Mensch besteht nicht nur aus Schwingungen, er lebt und bewegt sich auch in Schwingungen, in Rhythmen.

Durch Musik macht der Mensch seine eigenen Stimmungsbögen und Stimmungsfelder für andere sichtbar. Durch Schwingungen drücken wir uns aus. Die Ausdruckskraft der unterschiedlichen Schwingungen wird auch sehr verschiedenartig wahrgenommen. Für jede Gemütsbewegung, jede Empfindung, jede Handlung – aktiv und passiv –, für Erfolge und Misserfolge, für Bewegungen und Gedanken, Gefühle, Handlungen haben wir unterschiedliche, bewusste, unbewusste Schwingungen in uns.

Der Klang gibt dem Bewusstsein einen Beweis für sein Vorhandensein, obgleich es in Wirklichkeit der aktive Teil des Bewusstseins selbst ist, der sich in Klang umwandelt. Das Bewusstsein bestätigt sich selbst durch seine eigene Stimme. Daher spricht der Klang den Menschen an – so hatte es Franco bei Hazrat Inayat Khan gelesen.

In der Sprache, ja, sehr deutlich. Aber am vielschichtigsten durch die Musik. Durch sie legen Komponisten und Musiker ihre Seele offen. Sie entblößen sich und sind dadurch erkennbar, identifizierbar, aber zugleich zutiefst verletzbar, wenn Menschen es schlecht mit ihnen meinen. Durch Musik erfahren die Hörenden auch immer etwas über sich selbst. Jeder hat seinen Geschmack, seine Wellenlänge auf der er – total unterschiedliche – Töne, Musik, empfangen kann und sie unterschiedlich wahrnimmt. Und Musik hilft uns Menschen in allen Lebenslagen. Sie beruhigt uns, regt uns an oder auf, macht uns glücklich, ist Medizin oder Kakophonie.

Musik war Francos Leben. Das seiner Seele. Töne, Harmonien. Rhythmus. Ohne Musik hätte das Leben keinen Sinn; Musik – die höchste und schönste Form des Ausdrucks im Leben und in der Kunst.

„Bewegung ist das Merkmal des Lebens, und das Gesetz der Bewegung ist Rhythmus. Takt und Ebenmaß. Rhythmus ist in Bewegung gehülltes Leben, und in jeder seiner Erscheinungsweisen zieht er offensichtlich die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich ... Rhythmus ruft eine Ekstase hervor, die man nicht erklären und mit keiner anderen Quelle der Berauschung vergleichen kann. Darum ist der Tanz bei allen Völkern, zivilisierten und unzivilisierten, die faszinierendste Art der Unterhaltung und Erholung und hat sowohl Heilige als auch Sünder entzückt.“

Franco liebt die Erklärungen des großen Musikphilosophen Hazrat Inayat Khan. Der – längst verstorbene – Inder war ein Teil von ihm geworden. Francos unbändiges Verlangen nach Rhythmus, nach Ausdruck durch Rhythmus, brachte ihn frühzeitig zum Schlagzeugspiel. Und die intensive Beschäftigung mit Musik war das, was er für seine widerspenstige, sich aufbäumende Seele brauchte. Für seine Logik war Rockmusik, anfangs, die einzig akzeptable Ausdrucksform dank ihrer rhythmischen Kraft, der Betonung innerhalb eines Taktes auf die Zwei und Vier. Er hatte sich ganz klar für das formende, pulsierende, harte, prägnante Rhythmusgebäude, das die Rockmusik zu dem machte, was sie ist, entschieden. Und die frische, junge Rockmusik entsprach seinem wirklichen Lebensalter auf ganz natürliche Weise am besten. Doch das Schicksal, in Form seiner über alles geliebten Familie, hatte anderes mit ihm vor. Franco war sich dessen bewusst. Und so nahm er sein persönliches Karma gelassen an.

»Franco«, hörte er immer und immer wieder die Stimme seiner Mutter Sophia, »du bist der Einzige. Nur du wirst unsere Familie weiterführen können und einst Vater die immense Last, die er mit dem Konzern auf seinen Schultern trägt, abnehmen können.«

Franco war großbürgerlich, weltoffen aufgewachsen. Die Mignellos waren eine ehrbare Familie, die ihre Aufgabe im Geben, im Lieben und Dienen sah, nicht im Geldraffen. Bei den Mignellos hatte jedes Familienmitglied gleiche Rechte und Pflichten. Alles geschah unaufgeregt und auf natürliche, zwanglose Weise. Franco lernte automatisch, was Liebe heißt, was menschliche Wärme, Taktgefühl, Anstand, Höflichkeit, Ehrlichkeit und Herzensgüte bedeuten. Der finanzielle Reichtum der Familie war überall zu spüren, aber er wurde nicht aufdringlich zur Schau gestellt. Geld war lediglich Mittel zum Zweck; Ergebnis durchdachten Schaffens, das erst durch Menschlichkeit und Warmherzigkeit zu Großem gewachsen war.

Ihr Stadtpalais in Verona, ein etwa 2.700 Quadratmeter großer Bau aus der Blütezeit der Architektur der Renaissance von einem der Schüler Palladios Anfang des siebzehnten Jahrhunderts errichtet, stand im wahrsten Sinne des Wortes für ´echt´. Keine Vase, die nicht ihren Ursprung in der Glanzzeit des Venedigs der großen Dogen des Mittelalters hatte; kein Gemälde, kein Blatt, keine Skizze, ob von Matthias Grünewald – Francos Lieblingsmaler –, von Leonardo da Vinci oder Diego Velásquez, das nicht mit Sachverstand und erlesenem Geschmack zusammengetragen worden war, um die kulturellen Werte vor der Gier der Spekulanten zu schützen. Für die Mignellos war das Umgebensein von Kunst selbstverständlich. Und dass die gesammelten Werke Ausstellungen in aller Welt ohne großes Brimborium zur Verfügung gestellt wurden. Sammeln hieß für die Mignellos bewahren, pflegen und weiterreichen. Das war ihre Wertsteigerung.

Von Franco, dem einzigen Kind, wussten die Eltern recht schnell, dass er zu Außergewöhnlichem fähig sein würde. Fast alles, was Franco anfasste, gelang ihm. Der sympathische Junge war für vieles, so schien es, äußerst begabt. Im elterlichen Palais bewohnte Franco, den sie mit einem Augenzwinkern unter sich „Zweistein“ nannten, den Ostflügel. Voller Stolz und einem Schuss Selbstironie nahmen sie an, ihr kindliches Genie würde dem kleinen großen Physiker nachstreben und Franco würde ein zweiter Einstein in der Naturwissenschaft werden. Oder ein Geist, der umkippt, von dem man später einmal sagen würde, er wäre verrückt. Sein ICH wäre dann, den Normen unserer Gesellschaft gemäß, in eine andere Ebene ver-rückt worden. Eltern fühlen das sehr deutlich. Keine Frage nach dem Wieso und Warum. Intuition.

Von seinem Studierzimmer aus hatte Franco einen herrlichen Blick über große Teile der wunderschönen Altstadt von Verona. Er sah bis zur Arena, in der er mit seiner britischen Heavy Metal Band auch gerne aufgetreten wäre. Aber bis heute gab die Stadt die Arena für ein Konzert mit seiner Band, die wegen Francos Mangel an Zeit seit Monaten dahinvegetierte, nicht frei.

Zu dem etwa 100 Quadratmeter großen Studierzimmer mit seiner sechs Meter hohen Decke und den gut erhaltenen Fresken hatte Franco auch heute noch einen besonderen Bezug. Riesige Bücherregale hüllten den Raum quasi ein, gaben ihm Halt und Schutz zugleich. Florentinische Intarsienarbeiten, imposante Etruskervasen, die aus Vulci stammten, wo im fünften und sechsten Jahrhundert die größten Meister der Töpferkunst zu Hause waren, vervollständigten das für einen Knaben ungewöhnliche Wohnambiente. Die Vasen schmückten, symmetrisch angeordnet, die acht Fenster der Ost- und Südseite und brachten im Licht der Morgensonne eine unglaubliche Gelassenheit, Ruhe und Harmonie in den Raum. Im Mittelpunkt der Acht-Fenster-Harmonie stand eine Bronze- Chimaera, ebenfalls aus der Zeit der Etrusker. Zwei zarte Skulpturen aus der Hand Michelangelos, die in der Abenddämmerung zusätzliches und wahrhaft göttliches Licht von Goldlüstern erhielten, rundeten das Bild des Raumes ab.

Einziger Affront in der für einen Menschen seines Alters viel zu gediegenen Atmosphäre: eine gigantische HiFi-Anlage in einem extrem coolen High-Tech-Design. Sie zerstörte den eleganten Raum, in dessen Mittelpunkt ein überdimensionierter Schreibtisch stand. Franco hatte sich die Anlage selbst zusammengestellt. Verwendete als wichtige Bauteile nur Massenburg-Verstärker, die wegen ihrer fantastischen Qualität in den exquisit ausgestatteten professionellen Tonstudios zum Einsatz kamen. Daran waren vier CD-Player in ebenfalls avantgardistischem Plexiglas-Design angedockt, sowie zwei Plattenspieler für die viel offener, wärmer klingenden LPs, die eine Renaissance erfahren. Na und die Boxen! Sie integrierten sich erst recht nicht in das elegante Umfeld des Raumes, waren sie doch ´nur´ zweieinhalb Meter hoch, wogen pro Stück um die sechshundert Kilo und waren aus einer Mischung aus weißem Sandstein und dunklen Teakhölzern birmanischer Herkunft gefertigt. Jede der vier Boxen, die die US-Firma Wilson Audio speziell für ihn konstruiert hatte, vertrug eine angesprochene Leistung von zweitausend Watt und sie brachten, zusammen mit speziell in den Boden eingearbeiteten Sub-Woofern, in Francos Studierzimmer einen THX-Sound, der der Carnegiehall in New York zur Ehre gereicht hätte.

Und was hörte der Knabe, während er studierte? Rockmusik! Laut. So laut, dass die anderen Flügel des Palazzos zu vibrieren schienen, obwohl Vater Arno Mignello, nachdem er eingesehen hatte, dass der Lärm dem Jungen beim Lernen nicht schadete, ihn in seiner Leidenschaft zur Musik – und der Welt der Wissenschaft – beflügelte, aufwändige akustische Trennmauern zwischen dem Ostflügel und dem Rest des Hauses hatte einbauen lassen ... Denn nach seinen kurzzeitigen Affären mit Chopin, Mahler und Rachmaninow kam für Franco erbarmungslos die Zeit der Rockmusik. Und je länger er sich in seine Rock-Sessions eingehört hatte, umso härter wurden die Sounds. Wenn er mal zu Hause in Verona war, hörte er in letzter Zeit wieder häufig VAST. Die unglaubliche Musik eines ihm seelenverwandten Kaliforniers, Jon Crosby, die auch nach über zehn Jahren ihre Qualität behielt; die in ihrer Mischung aus wagnerischer Mystik, griegscher Weite und düsteren Moll-Stimmungen, brachialen Gitarrensounds, harten Drums und sanften Geigen zwischen den musikalischen Welten hin- und herwogte. Es war eine gefährlich-schöne und intensive Mixtur, die einfach passte. Samt Gregorianik, Nonnengesang und Dudelsack. Weltmusik vom Kräftigsten, für seine exquisite Soundanlage wie geschaffen; die Jahrhunderte der Musik und Geisteskultur miteinander verbindend, was einen großen Sog auf Franco ausübte. Den Sound mischte er mit Puddle of Mudd, Stone Temple Pilots, Linkin Park, Rival Sons. Wolfmother, Motörhead, Baroness oder Mastodon. Ein schräger Mix. Und dass Franco Mignello auch noch in der Welt der Computer zu Hause war, verwunderte nicht. Apple-Equipment, wohin man schaute. Aufgerüstet und schneller als mancher Großrechner der Geheimdienste ...

Die Aufnahme in Oxford war Formsache. Die feinste britische Universität, wenn man nicht Cambridge – mit der weitaus jüngeren Historie – den Vorzug gab. Das Gründungsdatum Oxfords datiert aus dem Jahr 1133, zu der Zeit, als der aus Paris kommende Theologe Robert Pullen zu dozieren anfing. Manche Quellen geben das Gründungsjahr der Universität mit 1009 an und gehen damit auf King Mempeic zurück. Cambridge wurde dagegen erst im Jahre 1209 gegründet. Man war sich in GB der Ehre bewusst, das italienische Wunderkind unterrichten zu dürfen.

Das Studium der Chemie gefiel dem Frühpubertierenden nicht gut, nicht schlecht. Klar, dass sein Vater darauf bestand, schließlich sollte er mal den Chemiegiganten übernehmen. Parallel schrieb sich Franco noch für Wirtschaftswissenschaften ein. Nach sehr kurzer, erfolgreicher Studienzeit in England stellte er sich die Frage: Was nun, superjunger Mann? Harvard? Hier konnte er zusätzlich seinen MBA (Master of Business Administration) machen und zeitgleich promovieren. Das passte ihm gut.

Zu jener Zeit, als Franco Mignello nach Boston ging, wurde er auch zum ersten Mal massiv mit Stella Henderson konfrontiert. Er kannte bis dahin nur oberflächlich ein paar von ihren Platten. Fand ihren Musikstil durchaus passabel, obwohl er selbst eine sehr viel härtere musikalische Gangart bevorzugte, aber er war weder in einem ihrer Konzerte gewesen, noch hatte er sich bewusst CDs von ihr reingezogen oder sich eingehend mit ihren Texten beschäftigt. Die Dame machte guten Mainstream-Rock, verkaufte einen ganzen Sack voll CDs und Platten. Nicht mehr, nicht weniger.

In Francos Dasein änderte sich alles mit einem gewaltigen Donnerschlag, der an die Entstehung des Universums erinnerte. Unverhofft und mit einer Kraft, die er bis dato nicht kannte, warf ihn der Donnerschlag schier um. Zu einseitig war er auf Studium und Arbeit fixiert, lebte in seiner engen, intellektuellen, wissenschaftlichen Welt. Sein Lebenselixier hieß bis zu dem für ihn historischen Augenblick der Konfrontation mit Stella Henderson: Wissbegierde, Lernen. Er hatte nie über Alternativen nachgedacht. Musik war professionelles Hobby. Das Größte und Schönste, was es auf Erden gab. Für ihn. Musik!

Stella Henderson gab auf dem Campus der Harvard Universität ein Clubkonzert, denn sie hatte dort selbst Politik studiert, bevor sie nach sechs Semestern und kurz vor dem ersten Examen das Studium abbrach, um Rocksängerin zu werden. Das Konzert veränderte Francos Leben radikal. Denn vor ihm, zum Greifen nahe, stand eine wunderbare junge Frau, so unglaublich schön und engelhaft, mit einer derart überwältigenden Ausstrahlung auf ihn, dass Franco zum ersten Mal in seinem Leben Liebe in sich brennen fühlte. Und zwar mit einer derartigen Wucht, als sei er mit seiner Achttausend-Watt-Stereo-Anlage unliebsam in Lichtgeschwindigkeit kollidiert und daraufhin Jahre durch das unermesslich weite All geflippt.

Franco Mignello, der fast alles zu haben schien, was der liebe Gott auf der Erde an Gutem vergeben kann: Intellekt, Musikalität, die Fähigkeit, Abläufe besser koordinieren zu können als die meisten anderen Menschen und ein geniales, kreatives Gedächtnis. Aber trotz alledem war er in seiner tiefsten Seele unglücklich. Denn er war alles andere als ein Adonis. Trotz seiner schönen, klassisch/römisch, edel aussehenden und stattlich gewachsenen, wundervollen Eltern, hatten die Gene bei ihm versagt, was das gute Aussehen anging. Wenn man Böses wollte, könnte man annehmen, dass sich ein grundsätzlicher, genetischer Fehler eingeschlichen hatte: Ein knochiges, kantiges Gesicht mit zu hoher Denkerstirn, die durch einen tiefen senkrechten Einschnitt an der Nasenwurzel quasi in zwei Hälften geteilt wurde. Etwas eingefallene Wangen auf zu hohen Wangenknochen und eine stupsige Nase in dem insgesamt blassen, fast albinohaft anmutenden Gesicht. Wenn nur das Gesicht nicht auch noch Milliarden von Sommersprossen besetzt hätten. Die Nase war knubbelig. Hässlich. Weiß und schief und viel zu breit. Ein eher trauriger Anblick. Der ganze Typ.

Aber seine Augen!

Die strahlten. Immer.

Tiefschwarz und wahnsinnig intensiv leuchtend und jeden Menschen offen und direkt anschauend, ließen sie eine große innere Stärke erkennen. Sein Standardblick war zugleich sehnsuchtsvoll/melancholisch, verhuscht, so dass Menschen, die nur flüchtig auf ihn schauten, das Strahlen, die große innere Kraft des Italieners nicht wahrnehmen konnten. Wenn man oberflächlich und zynisch war, würde man sagen, Franco hatte einen treuen Hundeblick. Doch was ist falsch an einem treuen Hundeblick? Lässt er nicht auch auf Reinheit und Unverdorbenheit des Individuums schließen?

Ebenso melancholisch wirkte der freundliche, aber zu klein geratene Mund. Ein winziges Etwas mit dicken Lippen. Ein lieber Kerl. Vielleicht. Doch zugleich bekam man Mitleid mit dem Menschen, der mit diesem Mund leben musste. Sein Gesicht ließ auf den ersten Blick wenige Schlüsse auf die Person zu, die hinter der hässlichen Fassade steckte. Wenn da nicht die imposante Denkerstirn und die leuchtenden Augen gewesen wären. Ungewöhnlich das rote, struppige und überaus spröde, wilde Haar, das sich gar nicht bändigen ließ und wenig Italienisches an dem Filius offenbarte. Franco trug es lang, zottelig – und eben wild. Die Widerspenstigkeit des roten Krautes verhinderte jedwede Frisur. Das grobe Kraut umgab den kantigen Kopf, wie man es bei einem verkappten Genie erwartete. Die kleinen, feingliedrigen und wohlgeformten, musikalischen Ohren, die wiederum in starkem Kontrast zu dem hageren, blassen Gesicht standen, konnte man durch die Zottelfrisur leider nicht sehen.

GOTT IST RICHTER UND VERZEIHER

UNSERER UNVOLLKOMMENHEIT.

Das stand groß und kraftvoll im Herzen von Francos Mutter geschrieben, denn sie war sich der äußerlichen Mängel ihres Sohnes nur zu genau bewusst. Ahnte, wie er sein Leben lang darunter leiden würde. Auch sie hatte Hazrat Inayat Khan gelesen, seit sie das kleine, blaue Büchlein >The Mysticism Of Sound< – verfasst Anfang des 20. Jahrhunderts – unter Francos Kopfkissen durch Zufall einmal entdeckt hatte. Etwas daraus war ihr besonders im Gedächtnis und ihrem Herzen haften geblieben:

„Die Gestalt des Menschen besteht aus zwei Teilen, wobei jeder seine besonderen Eigenschaften hat. Der Kopf ist der geistige Körper und der untere Teil der materielle Körper. Daher hat der Kopf, verglichen mit dem übrigen Körper, weit größere Bedeutung. Da der Kopf der einzig eindeutig unterscheidbare Teil des Menschen ist, können die Menschen einander am Kopf erkennen. Das Gesicht drückt das Wesen des Menschen aus und seine Lebensumstände, auch spricht es von seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“

Wenn man bei Franco die scheinbaren Makel des unausgewogenen Gesichtes zu lesen verstand, wusste man, wen man vor sich hatte, auch, wer er einst war, wer er heute ist und welchen Weg dieser besondere Mensch gehen wird. Allerdings verfügen die meisten Menschen nicht über die Gabe, im Gesicht eines anderen lesen zu können. Die Oberflächlichkeit unserer durch die elektronischen Medien geprägten Welt, die uns durch Chirurgenhand geschnitzte – angebliche – Schönheitsideale vorgibt, hat eine natürliche Blickweise und damit letztlich auch die Charaktere der Menschen verformt.

Genormt.

Geblendet.

Verblendet.

Franco Mignello hatte die Figur eines Modellathleten. Kein Gramm Fett. Eine natürliche, kräftige Muskulatur, für einen Mann schön zu nennende, gerade Beine, die in einen ´Knackarsch´ übergingen und breite Schultern. Schultern zum Anlehnen. Aber es fehlten ihm, um sich aufrecht an ihn anlehnen zu können, vielleicht fünfzehn oder mehr Zentimeter. Na ja, eher zwanzig, oder dreißig ... Will heißen, Franco war, den heutigen Durchschnitt des männlichen (Nach)Wuchses betrachtend, ein beträchtliches Stück zu kurz geraten. Vielleicht ein bisschen größer als der kleine große Prince mit seinen Einsfünfzig, aber weit, weit über zwanzig Zentimeter kleiner als seine große Liebe Stella, die optisch wahrlich im krassen Gegensatz zu Franco stand.

Und sein ganzes ´optisches Elend´, wie er es selbst realistisch erkannte, stand ihm ständig im Weg. Schon seit Kindestagen und jetzt erst recht. Jetzt, wo er einer echten Schönheit, einer Göttlichen begegnet war, die er so unsagbar intensiv liebte. Stella! Nach der er sich verzehrte und jeden Tag mehr und mehr in seiner Seele, seinem Herzen, seinem, für alle so unbegreiflichen, ICH verbrannte.

Franco Mignello trug trotz seiner äußerlichen Makel natürlichen Stolz in sich, denn er wusste, wer er war, was er konnte, welche Ausstrahlung von ihm ausging, kam er erst einmal zum Zuge. Die ihn umgebenden Menschen begegneten ihm im Allgemeinen mit großer Freundlichkeit und Hochachtung, nachdem sie nur wenige Sätze mit ihm gewechselt hatten. Denn wie er etwas sagte, hatte ein Charisma, das man nicht beschreiben kann. Das bei wenigen Menschen einfach vorhanden ist. Dann wuchs der unscheinbare, blasse junge Mann mit den großen Augen und dem struppigen roten Haar zu einem Großen heran. Seine Sprache – perfekter Rhythmus und wunderschöne Melodie in einem! Franco vereinte beide Elemente der Musik in fast vollkommenem Maße. Den Ton, die Mutter der Musik. Den Rhythmus, den Vater der Musik. Takt und Ebenmaß, Wohlklang und Harmonie. Ein Genuss, ihm zuzuhören. Was er sagte, war zudem äußerst inhaltsreich. Kein überflüssiges Wort; druckreif strömten die Gedanken aus ihm heraus. Dass er bei all dem überaus schüchtern war, konnte auf den ersten und zweiten Blick niemand erkennen. Das kaschierte er in der Öffentlichkeit, so gut er konnte. Nur seine Mutter, die einzige Frau, der er sich bislang einigermaßen hatte öffnen können, bemerkte mit ihrem untrüglichen Instinkt seine große Schüchternheit als er vierzehn Jahre alt war und sein erstes sinnliches Erlebnis hätte genießen können, wenn, ja, wenn er denn gewollt hätte.

Die aufregende Tochter der entfernten Verwandten, die die Mignellos damals im Tessin besuchte, acht Jahre älter als Franco und im Umgang mit Männern schon sehr erfahren, schaffte es trotz sparsamer Kleidung, aufreizender Posen und anzüglicher Gespräche nicht, Franco auch nur zu einem kleinen, klitzekleinen Miniflirt zu bewegen. Auf der einen Seite war es Mutter Sophia recht, denn Franco war ja erst vierzehn, aber gemessen an seiner geistigen und körperlichen Reife hätte er durchaus schon verheiratet sein können. Eine Frage des Kulturkreises. Zumindest einen Flirt mit einer derart attraktiven Anverwandten hätte er genießen sollen. Das wünschte sich die liebende Mama. Trotz aller Anstrengungen, die das attraktive Fräulein aus gutem Hause unternahm, zeigte der verdammt blässlich aussehende und unscheinbare Knabe mit der großen Ausstrahlung nicht das geringste Interesse an der jungen Dame. Für den Filius nicht mal theoretisch, geschweige denn praktisch ... Seit der Zeit beobachtete Mutter Sophia mit einiger Sorge dessen merkwürdige Zurückhaltung dem anderen Geschlecht gegenüber. Denn, das hatte ihr Franco gleich am ersten Abend des weiblichen Besuches gesagt, er fand Mercedes „durchaus anziehend.“ Trotzdem gab es für Franco an dem langen Wochenende im schönen Tessin keine Veranlassung, die heiße junge Lady näher in Augenschein zu nehmen und er wich jedem Versuch körperlicher Berührung durch Mercedes nervös, fast hektisch/angewidert, so hatte es den Anschein, aus. Die Sorge seiner eleganten Mutter wuchs mit jedem weiteren Lebensjahr des Sohnes mehr. Die Mädchen blieben von Franco verschont. Komplett. Das andere Geschlecht existierte nicht. Was immer das heißen mochte. Zwischen den besorgten Eltern wurde das Thema regelmäßig und mit großer innerer Anteilnahme und Erregung diskutiert. Denn schließlich war Franco der einzige Sprössling und der Konzern brauchte, wenn er in den Händen der Mignellos bleiben sollte, irgendwann einmal kompetenten Nachwuchs. Mit Argusaugen beobachteten sie ihren geliebten Sohn. Er war doch nicht etwa schwul ...?

Niente!

Von dem Tag des Konzertes an, das Superstar Stella Henderson mit ihrer Band in Harvard gab, war Franco wie verwandelt und dachte plötzlich an Frauen.

An eine Frau: Stella. Sie war in sein Leben gerast. Mit irrsinniger Intensität und Lautstärke, einem hundertsechsundfünfziger Wahnsinns-Beat. Trash-Metal vom Steilsten für seine Seele. Alles musste er über sie erfahren, alles wollte, ach, musste er über Nacht von ihr wissen! Nein, nicht, dass er sie bespitzeln wollte, das ging ihm gegen den Strich. Aber die Wissbegierde in ihm, jedes Detail über diese Frau zu erfahren, um nichts falsch zu machen, sollte er einmal die Chance einer ganz privaten Begegnung mit ihr bekommen, ließ ihn erfinderisch werden. Wie wohl jeder ernsthaft durch Verliebtsein Geschädigte seinen individuellen, persönlichen Zugang zu dem anderen Menschen finden möchte. Was Verliebte schon zu allen Zeiten erstaunlich clever werden ließ.

Zuerst kaufte er sich alle CDs von ihr, ihre DVDs, die Video-Clips, die er auf YouTube fand. Ihre zwei Filme, die sie gedreht hatte und die ebenfalls auf DVD erschienen waren, sah er sich in den ersten Wochen täglich an. Stella, Stella, Stella. Seine zerbrechliche Seele, sein wacher Verstand, sein großes Herz – alles in ihm kreiste nur noch um Stella. Es ist Liebe, die den Puls beständig auf zweihundertzwanzig hält, die das Atmen erschwert, die Knie weich werden lässt; die Schweißausbrüche am laufenden Band provoziert. Stella – seine Liebe zu ihr vernebelte in jenen Tagen und Wochen seinen Verstand total.

Er kannte jede Zeile der über siebzig Songs, die Stella Henderson bis heute geschrieben hatte. Setzte sich mit ihnen auseinander, drang dadurch in eine Welt ein, die ihm bis dahin ziemlich fremd gewesen war. Denn Stellas Texte waren mystisch, voll von Metaphern. Zum Teil sehr melancholisch, zumindest in seinem Verständnis ihrer Lyrik. Und sie waren auf eine verschlüsselte Art erotisch, manchmal vulgär mit primitiven, obszönen Worten, wie er empfand. Vieles ließ ihn erröten. Aber interpretierte er die ordinären Zeilen nicht viel tiefer, sinnlicher, als sie sie vielleicht meinte?

Lag es an der schlichten amerikanisch/englischen Sprache? Französisch, auch Italienisch und Deutsch ließen mehr Freiraum, Fantasie und Interpretationsmöglichkeiten zu. Nicht zu reden von den blumigen arabischen Sprachen. Als er ihre Texte ins Italienische und Französische übertrug, wurden sie farbiger, ausdrucksstärker. Die Übersetzungen nahmen dem Obszönen die Härte, ohne das Erotische zu verdecken, das ihm durchaus gefiel und das Gefühle in ihm weckte, die er vorher nicht in sich verspürt hatte.

Franco glaubte, dass hinter allem Vulgären/Primitivem mancher Texte ein tieferer Sinn stand. Stehen musste. Dass Stella aus einer ihr vielleicht gar nicht bewussten Verletztheit heraus, für die Franco in den ersten Wochen und Monaten des Beschäftigens mit der Person Stella Henderson keine Erklärung fand, einfach nur grob, aufreizend und provozierend sein wollte. Vielleicht wollte sie Menschen, bestimmte Personen, mit ihren Texten verletzen. Oder sah er in seiner Verliebtheit alles falsch? Denn wenn ein Mädchen Politik studiert, noch dazu sechs Semester an der Harvard University, musste es nicht nur ziemlich intelligent sein, sondern sich bei der Wahl des Studienzweiges auch etwas gedacht haben.

Die Auseinandersetzung mit Stellas Musik und ihrem Leben machte ihn noch neugieriger auf den Menschen Stella Henderson. Jeder Künstler gibt sehr viel von seinem Innersten frei. Musiker, Sänger, Schauspieler, die den direkten Kontakt mit einem Publikum haben, noch viel mehr als Maler, Schriftsteller, Bildhauer. Die können sich hinter ihrer Arbeit verstecken. Bleiben, wenn sie wollen, unsichtbar. Bis zu einem hohen Maße anonym. Der Musiker nicht. Er ist Prediger. Exhibitionist. Das auf jeden Fall. Wer den exhibitionistischen Drang des sich Darstellens in sich spürt, wer den inneren Klang seines Ichs unbedingt nach außen tragen muss, gibt dem Zwang früher oder später nach. Das gehört zu seiner persönlichen Lebensform des unglücklich/glücklichen Seins. Künstler, speziell Bühnenschaffende, sind dadurch zutiefst verletzbar. Mehr als andere. Weil sie die Öffentlichkeit, wildfremde Menschen in ihr Inneres sehen lassen. Immer.

Franco las jeden Bericht, jedes Interview, kaufte sich jede Zeitung, jedes Magazin, das ein Foto von ihr druckte. Hing wie ein Süchtiger im Internet. Und es waren, wie er feststellen musste, unzählige Berichte, Fotos, Halbwahrheiten, Lügen, Posen. Ja, Posen. Dann fing er an, sich für ihre Familie zu interessieren. Franco wollte vorbereitet sein. Denn er war sich bei aller Schüchternheit und selbst auferlegter Zurückhaltung hundertprozentig sicher, dass er Stella Henderson eines Tages heiraten würde. Komme, was da wolle. Er konnte den Tag der Hochzeit gar nicht genug herbeisehnen.

Stella war seit jener schicksalhaften Begegnung das Wichtigste in seinem jungen Leben. Jetzt machte das Spielen in einer der Bands der Universität Sinn. War es anfangs nur reiner Zeitvertreib und die Lust, sich hin und wieder auszutoben, wenn er bei den Proben anderer Gruppen auf dem Campus mal vorbeischaute, kreisten jetzt seine Gedanken ständig um Stella. Hier, an dem Ort, wo auch sie begonnen hatte, Musikerin zu werden. Er fühlte sich von nun an seelisch mit ihr verbunden.

Durch das starke Band der Musik.

Studium, Doktorarbeit, die Einflussnahme auf den Konzern seines Vaters waren wichtig, aber über allem thronte Stella. In Windeseile hatte sich Franco aus Musikern der anderen Gruppen der Uni eine eigene Band zusammengestellt. Er musste Musik einfach leben. Abende mit dem Höllenlärm der Jungs waren für ihn pure Entspannung. Sie spielten neben eigenem Material etliche Cover-Versions von Smashing Pumpkins, Aerosmith, Led Zeppelin, Wolfmother und Tito & Tarantula – nur weitaus schneller, kantiger, härter, rauer. Zwischen Sludge und Progressive. In die Musik versunken, schaltete er gänzlich ab, träumte nur noch von Stella, während er die Sticks auf sein dw-drums peitschte und seinen persönlichen Rhythmus zum Rhythmus der Musik seiner Band machte.

Vielleicht sollte er doch alles hinschmeißen und sich als Drummer in Stellas Band bewerben?

Zwiespältige Gefühle brachten ihn immer wieder ein wenig aus dem Ruder: Die Musik war seine große Leidenschaft. Jetzt noch mehr, seit er brennende, intensiv lodernde Liebe in sich trug.

Fast noch magischer als die berufliche Ausübung von Musik reizte ihn der Konzern seines Vaters. Den wollte er lenken und ihm eine neue Richtung, einen ganz eigenen, unverwechselbaren Rhythmus geben. Und dafür war das Schlagzeugspiel eine prächtige Vorbereitung.

Rhythmus beherrschte sein Leben, wie das Leben des Kosmos Rhythmus ist.

Für Franco bekam Rhythmus eine völlig andere, weitere Bedeutung. Er richtete sein Leben auf die exakten Rhythmen aus, die ihn – vom Kosmos geschickt, um es fassbar zu formulieren – durchdrangen, die er fühlte. Und er fühlte den Rhythmus des Konzerns, der HORLI-Gruppe, genau in sich. Spürte die kommenden, notwendigen Veränderungen für den Konzern sehr präzise. Er war vom universalen Rhythmus in sich, der alles um ihn herum automatisch bestimmte, geradezu besessen.

Wenige Tage nach dem Konzert Stellas an der Universität und dem Aufeinanderprallen seiner konfusen und dennoch eindeutigen Gefühle für die Sängerin, erschrak er zutiefst, als er die Schlagzeilen las:

STELLA HENDERSONS BRUDER AARON HENDERSON ERMORDET. WAREN DROGEN IM SPIEL? – Titel der >Washington Post<. Die >New York Times< schrieb: STELLA HENDERSONS BRUDER AARON ERMORDET – MOTIV UNBEKANNT.

An dem Tag war er wie von Sinnen, bestellte sich alle amerikanischen Tageszeitungen in sein Penthouse, lag nur vor dem Fernseher, zappte ununterbrochen zwischen CNN, CBS, NBC hin und her, um zu erfahren, was geschehen war. Er surfte durchs Internet und las auch dort alle Headlines, die Kommentare, die sich in der Tendenz ähnelten, aber wenig über das Motiv zu der Tat aussagten. Fakt: Aaron Henderson, der ältere Bruder seiner geliebten Stella, war ermordet worden. Drogen sollen im Spiel gewesen sein; aus der Familie äußert sich niemand dazu. Alle sind fassungslos. CNN erwischt Stella Henderson, als sie von ihrer Villa kommend durch den Schlagbaum von Indian Creek – der größten und elegantesten vor Miami Beach gelegenen Laguneninsel – in die Stadt fährt, um ein letztes Mal den geliebten Bruder zu sehen. Im Leichenschauhaus. Die Reporter lassen den metallicschwarzen Bentley nicht vorbei, belagern ihn so lange, bis der Fahrer das Fenster ein wenig herunter lässt, um die Kameraleute zu verjagen. Aber da ist Ed Simmons, der Brutalste aus der CNN-Crew, schon mit seiner Kamera im Wagen, fängt Bilder ein, die Franco niemals vergessen wird.

Stella hockt im Fond des Wagens, die Beine angezogen, sie mit den Armen krampfhaft umklammernd, in Tränen gebadete Augen, bleich. Apathisch der Blick. Eine junge Frau, die am Ende ihrer Kräfte ist und nicht zu begreifen scheint, was gerade geschehen ist. »Was wollt ihr!«, stammelt sie wie abwesend, ins Nichts schauend, total in sich gekehrt, mit brüchiger Stimme. Tränen rinnen wie Bäche aus ihren wundervollen Augen: »Sie wollten mich treffen und haben meinen geliebten Bruder beseitigt, weil sie an mich nicht herangekommen sind. Die Drogen waren nur Mittel zum Zweck. Polit-Mafia! Alles Gangster. Ich weiß es! Gangster. Lasst mich endlich in Ruhe! Mein Bruder, oh Aaron!«

Endlich kann sich der Bentley in Bewegung setzen. Die Kamera wird dem Reporter fast aus der Hand gerissen, die Bilder sind ziemlich verwackelt. Stella brüllt Unverständliches, wie ein waidwundes Tier – aber das Dokument ging im Moment der Aufnahme live um die Welt: Stella Henderson, der übergroße Rockstar des neuen Jahrtausends, am Ende seiner Kräfte. Bedrückend. Emotional. Tausendmal werden die Szenen in diesen Stunden wiederholt, denn die Menschen leben von der Gier, Unglück sehen zu wollen. Groß, in Farbe und slow motion.

In den nächsten Tagen konkretisierte Stella Henderson, die inzwischen wieder einen relativ gefestigten, wenn auch übernächtigten und unausgeruhten Eindruck machte, öffentlich in TV-Interviews ihre Vorwürfe. Sie sagte, was für viele, nicht nur in den USA, ein Schock sein musste, dass hinter dem Mord eine groß angelegte Kampagne einer international „überpolitisch“ agierenden Gruppe steckt, die sie physisch, psychisch und künstlerisch fertigmachen wolle. Die deshalb ihren Bruder habe umbringen lassen, weil sie wissen, wie sehr sie, Stella, Aaron Henderson liebt und sie den Tod des Bruders nicht verkraften wird.

Einem CNN-Reporter sagte Stella Henderson in die Kamera: »Die Gruppe, näher möchte ich im Moment die Beteiligten noch nicht beschreiben, hinter der sich die wirklichen Machthaber der Erde verstecken und die die Politiker als Marionetten für sich nutzt, will die Leaderfunktion von Superstars der Popszene für sich und ihre Interessen nutzen. Das machen sie geschickt und unauffällig, indem sie durch Verleumdungskampagnen über Drogen, Sex, Suff, Mord und Totschlag die Stars über die ihnen gehörenden Medien so stark diskreditieren, dass die Popmusik endlich wieder aus den Köpfen der Menschen verschwinden möge. Das ist ihr Wunsch! Weil die Rock- und Popmusik seit Bestehen – und gerade in den letzten zehn Jahren – ´große Schuld´ daran trage, dass sich die Gedanken- und Gefühlswelt der jungen Generation wieder deutlich zum seelisch und ethisch Positiven verändert hat. An die positive Hippiezeit der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts anknüpfend, in der man die Künstler ebenfalls stark diffamierte. Drogentote wie Amy Winehouse, Michael Jackson und Whitney Houston wurden gezielt und ganz bewusst in den Tod getrieben. Man hätte ihnen helfen können, will das aber nicht. Man will negative Zeichen setzen. Ganz brutal und genau so gewollt. Ablenken von dem, was die Machthaber mit uns allen vorhaben. Nur die, die den Durchblick haben, lassen sich nicht von den Obamas dieser Welt, den sogenannten ´Gutmenschen´ für ihre Zwecke missbrauchen und ins Weiße Haus einladen, die scheißen drauf!«

Die Henderson redete sich in Rage und jeder der Millionen Zuschauer an den Bildschirmen musste durch ihr mutiges Statement wachgerüttelt werden:

»Ein neuer Weg ist wichtig. Wir müssen uns frei machen von Konsum, Konsum, Konsum als das allgewaltige, allheilige Mittel, eine Gesellschaft zu beherrschen, zu verformen, zu lenken. Wir brauchen neue Ziele, ein neues Gesellschaftssystem, hin zu mehr Menschlichkeit. Zu mehr Sinn, als einem überflüssigen, die Welt zerstörenden, idiotischen Konsum zu gehorchen. Wir brauchen vor allem wieder selbstständig denkende Menschen in einem hoffentlich bald wirklich freien Kultur- und Wirtschaftssystem, in dem auch andere Werte außer Geld, Geld, Geld an Wichtigkeit gewinnen und den Lebensinhalt der Menschen bestimmen!«

Die Kamera zoomte jetzt ganz nah auf ihr Gesicht, nur noch ihr sinnlicher Mund war überdimensional im Bild:

»Mit gezielten Kampagnen der Verleumdung, Diskriminierung bis hin zum Mord, wie an meinem Bruder als Exempel gerade statuiert, wird Politik gemacht. Gesteuert von denen, die hinter den nach außen agierenden Marionetten, den Politikern der westlichen Welt, stehen. Die wenigen positiv und vernünftig, in ethisch richtiger Weise denkenden Menschen in öffentlichen Positionen werden konterkariert und von denen zu deren eigenen, negativen Zielen benutzt, und zwar so brutal, so tiefgreifend, dass es weit über das Vorstellungsvermögen selbst sehr kluger und klügster Köpfe hinausgeht!«

Dann zitierte sie den ehemaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson: »Wilson sagte bereits 1919 im Kongress „... dass nichts in der Politik dem Zufall überlassen bleibt. Dass man davon ausgehen kann, dass alles, was geschieht, auch so geplant und gewollt sei.“ Uns wird verschwiegen, wie es in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts zu AIDS kommen konnte. Unter Wissenschaftlern ist es längst ein alter Hut, dass gewisse Behörden der USA ihre Finger im Spiel gehabt haben, das Virus entwickelten und dann ´aussetzten´. Dennoch nahm und nimmt das niemand zur Kenntnis. Kein Aufschrei. Die Machthaber tun, was sie wollen. Wer im Weg steht, wird – so oder so – hinweggefegt. Dazu benutzt man seit Jahrzehnten alle Formen von Drogen, erlaubt den Pharmakonzernen, die Menschen mit ihren ´Medikamenten´ zu vergiften und lässt viele andere Dinge erfinden, die die Menschheit verwirren und zerstören!«

Mit einer flüchtigen Handbewegung wischte sie sich die kleinen Schweißperlen von der Stirn. Verunsichert über ihre eigene Courage, endete sie:

»Ich kann und möchte im Augenblick nicht mehr sagen. Nur eines noch: Ich kann und werde das alles beweisen. Und wenn jemand auf den Gedanken kommen sollte, dass das heute nur ein PR-Gag von mir sei, der hat sich getäuscht. Ich werde meine Popularität, meine finanzielle Unabhängigkeit dafür einsetzen, die Motive und Hintergründe der geheimsten der Geheimbünde, nennen wir sie Illuminaten – der Begriff ist ja geläufig, wenn auch verharmlost und durch Bücher wie die eines Dan Brown fast in bedeutungslose Lächerlichkeit gezogen – aufdecken, ebenfalls die Motive des Mordes an meinem Bruder und ihn in dem Zusammenhang rehabilitieren!«

Das Statement der Henderson, verbunden mit einer deutlichen Anklage gegen einen nicht näher bezeichneten Personenkreis war hart.

Hunderte von Millionen hatten die den meisten Menschen äußerst suspekt, unklar und mysteriös erscheinenden Sätze live rund um den Globus gehört und gesehen. CNN sendet hin und wieder News wirklich live und nicht um Minuten zeitversetzt. Vermutlich waren die Redakteure in der Zentrale von CNN zu überrascht von der Attacke, um sich sofort auszublenden und man überschaute die Tragweite ihrer verzweifelt in die Mikrofone gerufenen Anklage in den Minuten ihres Statements nicht. Weitere TV-Sender griffen weltweit das spontane, ungefilterte Statement freudig auf und sendeten es als Sensation in den darauffolgenden 48 Stunden in so genannten Schleifen ohne Unterlass.

Nicht nur in Franco wurden Gedanken frei, die er nicht zu Ende denken wollte. Obwohl er sie zu Ende denken musste, um Stella Schutz zu geben. Dass sie nach der verbalen Anklage gegen eine ominöse, die Welt beherrschende ´Überregierung´ Schutz brauchen würde, sagte ihm sein Verstand schon damals, ohne dass er das Warum schlüssig begründen konnte. Denn er ahnte nichts von Stellas Hintergrundwissen. Franco vertraute ihr völlig, da er unverrückbar davon überzeugt war, ein positives, denkendes, sensibles, gebildetes und gutes Wesen der Spezies Mensch vor sich zu haben. Ein leuchtendes Vorbild Amerikas.

Seit der Ermordung von Aaron Henderson waren fast zwei Jahre ins Land gegangen. Es waren Jahre intensiver Recherchen Francos, um den Inhalt des kurzen Statements des Rockstars, nur Tage nach der Ermordung Aarons, zu entkräften. Mit dem Geschehen hinter der Politik hatte er sich nie beschäftigt. Denn er hoffte im Stillen, dass all das, was sie in ihrer impulsiven Anklage aus sich herausgeschüttet hatte, nicht wahr sein würde, weil er um ihr Leben fürchtete. Weil er sie liebte und von einem Leben mit ihr in reiner Liebe, innerem und äußerem Frieden, begleitet von unbeschwertem Lachen träumte. Nicht von verzehrendem, jede Liebe zerstörenden Kampf gegen eine übermächtige Gegnerschaft, die – ungenannt/unbekannt – aus dem Off ihre Fäden weltweit zog. Leider bewahrheitete sich auf viel brutalere, grausame, unvorstellbare Weise das, was sie gesagt hatte. Ihre Anklage war, so wie damals in CNN geäußert, ungenau, oberflächlich und verallgemeinernd, aber im Kern richtig. Nur dass die wirklich Mächtigen auf der Erde viel, viel weitergingen, als es sich jeder normal denkende, anständige Mensch vorstellen kann. Die Ziele derer, so hatte Franco bestätigt gefunden und dafür eine Vielzahl von Beweisen in der Hand, waren so unglaublich pervers, dass es einen gesunden Geist in den Wahnsinn treiben musste. Franco arbeitete unter Zuhilfenahme eines geistigen Führers aus dem Himalaja an sich, um nicht in Depressionen, Irrsinn, totale Ohnmacht oder exzessive Mordlust zu verfallen.

In der Zeit seiner Recherchen, die heute im Großen und Ganzen abgeschlossen waren, leistete er dem Rockstar wiederholt Lebenshilfe im eigentlichen Sinne des Wortes. Mehrfach war von ´Unbekannt´ der Versuch unternommen worden, Stella zu ermorden, auch wenn es stets so raffiniert geplant worden war, dass er bis heute dafür keine handfesten Beweise hätte vorlegen können. Die Täter blieben unerkannt, unsichtbar. Von deren Auftraggebern gar nicht zu reden. Es hatte drei Tote im Umkreis der Henderson gegeben. Fälle, die die Polizei nicht lösen konnte. Personen, die den Rockstar bedroht hatten und auf nicht zu klärende Weise selbst getötet worden waren. Franco war inzwischen klar, wer dahintersteckte. Er kannte nun die Gruppe, von der Stella damals gesprochen hatte, recht genau und wusste schon einiges über sie. Die Machtclique hinter der sichtbaren Macht auf der Erde arbeitete daran, die positiven Leader der jungen Generation zu diskreditieren, wenn man sie nicht für sich gewinnen konnte. Das war eine Facette in ihrem Spiel. Die Elite der Eliten war erhaben über jeden Angriff von außen und kein Gericht der Welt würde gegen sie vorgehen, selbst wenn Beweise für die konkrete Beauftragung von Morden vorliegen würden. Weil ihnen nicht nur die Regierungen, sondern – natürlich – dadurch auch die Gerichtsbarkeit gehört.

In fast jedem Land unserer Erde.

Fast jeder Richter, Staatsanwalt.

Es lag Franco nichts daran, die Mittelsmänner der Mittelsmänner an den Pranger zu stellen. Das würde nichts verändern. Es vergingen Tage, Wochen, Monate, die Franco auf indirekte Weise näher an Stella heranführten, auch wenn seine Beziehung zu ihr einseitig und rein platonischer Natur war. Die – letztlich nicht vorhandene – ´Beziehung´ wurde on top durch ihre fast täglichen Amouren, ihre Ficks mit fremden Männern, extrem getrübt. Auch dafür hatte sich Franco inzwischen sein eigenes Überlebenskonzept zurechtgebastelt, um an Stellas Eskapaden nicht vollends kaputtzugehen. Klar, alles, was er sich als Hilfe aufgebaut hatte, waren kranke, krude Krücken voll von unhaltbaren Widersprüchen. Aber wer kennt die Liebe nicht! Sie ist voller Widersprüche. Und wer war nicht schon so unsterblich verliebt, dass er sich nicht die schrägsten Dinge zurechtbog, um vor sich selbst seine Liebe zu einer Person zu rechtfertigen. Das funktioniert. Sich Schlechtes schön denken. Liebe kann bis zur Auflösung des eigenen Ichs gehen, selbstzerstörerisch Abartiges, Widersinniges, Gemeines, Widerliches erklären, verteidigen. Jeder Trick gegen sich selbst war Franco recht, ihr die Ficks zuzugestehen, wenn er dafür wieder einen Tag irgendwie ohne allzu starken Liebesschmerz überleben konnte. Er war sich in klaren Momenten bewusst, dass er keinen Grund hatte, Stella ihr außergewöhnliches Liebesleben vorzuwerfen – Stella kannte ihren platonischen Liebhaber ja bis zum heutigen Tage nicht.

Sie ahnte nicht einmal etwas von seiner Existenz. Er wusste das nur zu genau.

Stella tickt total ungewöhnlich. Ihr Gehirn arbeitet stets auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig; unterschiedlichste Schubladen sind geöffnet, die sich ihr in Farben zeigen. Nach Prioritäten sortiert. Es fällt ihr schwer, sich zeitgleich mit nur einer Sache zu beschäftigen. Während sie ihre Suite im Breidenbacher Hof mit Meerbold betritt, ihr Körper bereits im siebten Himmel der Erotik schwebt – blaue Schublade –, gehen ihr parallel dazu die verbrecherischen Illuminaten durch den Kopf – graue Schublade – ... Russisch Roulette, aber hoppla! Gestern mit wenigen Einzelnen, dann mit ein paar Millionen, heute mit der ganzen Welt. Der Kick kann nicht groß genug sein. SIE, die Clans der wirklichen Macht, sind das wahre Übel des Planeten Erde. Gegen SIE sind die großen Mafia-Bosse, die Bin Ladens, die uns präsentiert werden, damit wir, die Ameisen, glauben, sie sind das Unkraut auf Erden, nichts weiter als der unwichtige Dreck unter dem Fingernagel. Sie sind nichts weiter als lumpige, winzige Arbeitsbienen, die uns ablenken sollen, die den Drohnen dienen, die wiederum der Königin die Füße lecken, die ihrerseits den Gurus, dann den Obergurus, den „spirituellen Meistern des 33. Grades der Hochgradeingeweihten“ berichten müssen, die dann die Angehörigen der wirklich herrschenden Clans mit Fakten bedienen. RT. Ganz oben. RT – das Tribunal. Wer ist heute RT? Ich glaube, ich weiß es. Dollarpyramide. Schau dir die Ein-Dollar-Note an. Sie zeigt dir alles. Das „Allsehende Auge Luzifers“. Kopf der Pyramide. Luzifer. Schielend. Der Teufel. Das RT. Alles Spekulation? Ich bin mir nicht sicher. Und unter RT der Rat der 13, dann der Rat der 33, das Committee der 300 und so weiter ...

Stella kam, während sie im Bad stand und ein verführerisches Parfüm – nach Feige und Mandel duftend – dezent über gewisse Partien ihres gepflegten Körpers sprühte, das Meerbold noch mehr anmachen sollte, eine Mitteilung in den Kopf, die sie mal beim Surfen im Internet entdeckt hatte. Sie konnte sich sogar noch an das Datum erinnern, weil der Tag für sie damals eine ganz besondere Bedeutung hatte: „... Bulgarian Freemasons jubilize the 200 anniversary of founding the Old and Accepted Scottish Rite in Charlston, South Carolina. The celebrations started yesterday and will last till October 4. Petar Kalpakchiev, Sublime Consul of the Bulgarian Freemasons, leads the delegation. It’s one of the most numerous. Traditionally, the Old, Free and Accepted Masons keep in secrecy the names of the rest of the delegation members. Representatives of all states, including the Arab World, are attend the celebrations. For the first time in the history of Bulgaria, however, our delegation attends such a high-level forum. Yesterday a representative of the Supreme Council, 33rd degree of Bulgaria, read the official welcoming speech to the participants in the Jubilee conference ...“ Eine kurze Information, aufgegriffen im Internet, als ich den vierten Oktober Revue passieren ließ! Wer hatte sie wohl freigegeben? Warum ein Bulgare? Ist das nicht ein kleines, unwichtiges Land? – fragte sie sich seitdem immer wieder und auch jetzt in diesem Augenblick, als sie sich für den Deutschen aufhübschte. Das gab ihr zu denken und sie flüsterte, während sie ihren Körper genüsslich streichelte und mit feinsten Essenzen salbte, um sich auf das exotische Liebesspiel mit dem geilen Galan entsprechend einzustimmen, alles um sich herum vergessend, in sich hinein: Die Freimaurer, die freundlichen Herren von nebenan, die immer hilfsbereit sind ... Ziemlich weit unten in der Kette der existenten und weltweit arbeitenden Geheimlogen angesiedelt. Ihre Hochgrad-Eingeweihten jedoch dürfen beim 200-jährigen Großfest des Schottischen Ritus in Charleston, einer US-Hochburg des Klüngels, ihren Senf abgeben. Interessant. Bulgarien und die Logen – welch eine Verbindung! Da machte der russische Geheimdienst einen Herrn zum König und Ministerpräsidenten, der auf den ersten Blick so ausschaut, als läge er politisch ganz weit rechts außen. Der feine Herr wird aber geführt durch Altkommunisten, die angetreten sind, die Welt glauben zu machen, dass sie Kreide gefressen haben. Dick und fett Kreide. Sein Agentenführer – also der des Königs mit deutschen Vorfahren, von dem das Volk in dem Balkanländchen glaubte, er liebe es, so wie sie ihn – führt derweil ein beschauliches Leben in New York. Mit einem gekauften Professorentitel und gestützt von seinen Logenbrüdern. Dann gibt es auf der anderen Seite in dem Land einen Außenminister, der noch stärker mit den Rotchinesen flirtet, als man es gemeinhin annehmen möchte. Dazwischen die Brüder, die sich als Hochgrad-Eingeweihte bei den Freimaurern entpuppen. Die Typen, die den Politikern sagen, was sie zu tun haben. Wie hat das nur im Kommunismus funktioniert, wenn nicht mit Wissen und Einwilligung – oder Aufsicht der damaligen Machthaber – also der so genannten Kommunisten? Sie stellte ein silbernes Cremedöschen ab, ohne den Blick von sich zu wenden. Putzig, nicht? Bulgarien. Ein kleines, armes Land auf dem Balkan. Spätestens an diesem Punkt wird klar, dass ab einer gewissen Qualität der Zugehörigkeit in Geheimbünden die nach außen gezeigten Zwiste und Unterschiede zwischen den Religionen billige Scharade sind, stellte Stella wütend für sich fest. Denn es geht nur um das eine, Weltherrschaft. Macht, Geld und Kontrolle ... Nachdenklich stand sie vor dem Spiegel, hielt unhörbare Selbstgespräche, nur ein Lippenspiel. Wie eine vereinsamte, schon leicht senile, ältere Dame, der die tägliche Ansprache fehlt. Und Stella vergaß die Zeit und ihren Hunger.

Hunger auf Sex.

Wer sind die, die den Clan der Clans anführen?, fragte sich Stella, ihre wunderschönen, vollen Haare langsam und sorgfältig kämmend. Das gilt es zu offenbaren. Jeden Tag aufs Neue. Zu beweisen. Denn sie stehen eben nicht in der Öffentlichkeit und natürlich stellen sie sich nicht selbst an den Pranger und sagen: „Seht her, ich bin es, der euch dumme, kleine Schaben, genannt Menschen, systematisch im Monopoly des Grauens manipuliert. Verschaukelt, verwirrt, verdummt, vergewaltigt, vernichtet!“ Sie, die Ungeheuer in Menschengestalt, gilt es zu entmachten, zu vernichten. Doch wie?

Fragen, auf die die Künstlerin keine Antwort wusste. Sie schien den Liebhaber längst vergessen zu haben. Ließ sich auf dem Rand der großen Wanne nieder und fing an, sich intim zu streicheln. Stella war und blieb auch jetzt, zu vorgerückter Stunde der Nacht, nach einem anstrengenden, guten Konzert, ein kompliziertes Wesen. Sie war scharf auf den Typen im Salon der Suite, zugleich konnte sie ihre Gedankenwelt nicht zähmen. Sie war müde und überdreht in einem. Da waren Beifall, den sie noch immer hörte, kreischende Fans in ihren Ohren, zugleich atmete sie in ihren Gedanken die warme Seeluft Miamis ein, spürte den feinen Sand unter ihren Füßen und dachte an Weltverschwörung, den Mann nebenan und an einen neuen Songtext. Schubladen in ihrem Kopf, rot, gelb, blau ...

Ohnmacht hat sich unter den Erkennenden breitgemacht. Denn die Macht der Ungeheuer in Menschengestalt scheint unendlich groß zu sein. Ihre finanzielle Potenz, mit der sie die Menschheit nach ihren Spielregeln – kontrolliert! – spielen lassen, ist leider unermesslich groß und wächst jeden Tag, solange die Börse arbeitet, solange sie Papier nach Gutdünken bedrucken lassen, das wir dann Geld nennen, solange die Banken Zinsen verlangen, solange die Menschen auf unnütze Versicherungen reinfallen, solange Katastrophen inszeniert werden, solange sich Menschen von Spekulationen jeder Art verrückt machen lassen und dem Konsum als höchstem Gottesgebot widerspruchslos folgen. Und sie beherrschen auch die Medien. Natürlich. Die zu allererst. Denn wer die Medien beherrscht, spielt das Spiel der Spiele. Der macht Meinung. Spielt Gott. Ist Gott. GOTT! Nicht God. Der Wahre. Wer den Einsatz von SCUD-Raketen live im Fernsehen beim Verschlingen eines Burgers genießen kann, wie sie auf ein Dorf im Irak niedergehen, wie künstlich mit Extremely Low Frequency Wellen herbeigeführte Erdbeben-Katastrophen in Asien einbrechen, das Budweiser-Bier dabei auf den Knien haltend, braucht solche Kleinigkeiten wie Revolutionen nicht mehr. Wer live und in Farbe Jets, die es so und mit der Wirkung nie gab, in die Twin Towers fliegen sehen kann und glaubt, Mission Impossible Teil V läuft gerade an, wer sich bei gewollten Hungersnöten in Afrika genüsslich die Chips in das gierige Maul schiebt, der ist direkt am Tropf der Machthaber. Geschafft! Die Menschen bilden sich ihre Meinung nach den vorgefertigten Fragen und bereitgehaltenen Antworten der Massenmedien. Verfälsche, und jeder wird es dir glauben. „... Die im Fernsehen haben gesagt ...“, „... ich habe es selbst in der New York Times, der Washington Post gelesen ...“, „... gestern habe ich das und das persönlich im Radio gehört! ...“

»Rubbish! Bullshit!« – entfuhr es ihr laut, während der Zeigefinger ihrer rechten Hand im sinnlichsten Bereich ihres Schoßes lag und sie erregte.

Alles produzierter, gefälschter, verfälschter, gefilterter Mist, um die Macht der Mächtigen zu festigen, die Menschen dumm zu halten, um Unruhe, Unwissen, Unsicherheit, Unbehagen in und zwischen den Völkern zu schüren. Um die globale Macht über die Menschheit zu festigen. Tag und Nacht. Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Jedes Jahr perfekter. Die Fetische des Glaubens heißen McDonalds, McCola, McApple und McWodka. McCNN, McNew York Times, McWashington Post, McBBC, McRTL, McPutin, McObama, McIBM, McGates, McMerkel. ... Und sie gehören alle immer denselben Clans ...

Schublade Rot ging in Stella auf:

Wie gehört dieser Kerl dazu. Wo kann ich Meerbold, den Gigolo, einordnen? Ich muss zurück, bin geil auf ihn. Scheiße. Ich bin eine geile Hure und will zudem wissen, wie der Typ in die mysteriösen Zusammenhänge verstrickt ist und ob überhaupt. Ist er ein Nichts, ist er ein kleines Rädchen, eine große Nummer? Ich m u s s es wissen!

Die Suche nach den eigentlichen Mördern ihres Bruders war bei ihr inzwischen zur Sucht geworden, fast mehr noch als das Singen. Sie hatte erkennen müssen, dass es sich um einen zahlenmäßig sehr kleinen Kreis von Menschen handelt, die die Welt kontrollieren und die auch für den Mord an ihrem Bruder zuständig waren. An der Front: Großbürger, Gutbürger, auf den ersten Blick, ausgestattet mit einer unglaublichen, perversen Machtfülle, die schwer vorstellbar ist. Allesamt waren und sind sie doch nur gut bezahlte Marionetten derer, die die wirkliche Macht darstellen. Und genau die versuchte der Rockstar zu enttarnen. Mit großem Erschrecken hatte Stella feststellen müssen, dass im großen Spiel der Eitelkeiten das Zahlenroulette erst bei eintausend Milliarden Dollar begann. Denen gehören die Regierungen. Den wenigen hinter den ´Black Rocks´ dieser Erde. Eine Billion Dollar – unvorstellbare eintausend Milliarden. Die kleinste Recheneinheit im Spiel der wirklich Mächtigen. Macht. Die stärkste Form von Erotik? So wie Geist die feinste Form von Materie ist? Oder ist Geist materielos? Wie die täglichen zweitausend Milliarden gespielten, verspielten, umgeschichteten, auf dem Screen zwar vorhandenen, aber dennoch äußerst virtuellen Dollars an der Börse?

Stella war sich bewusst, dass sie in dem Spiel eine Doña Quijota sein würde. Das war ihr vom ersten Tag an klar, als sie sich entschloss, den Kampf gegen Unbekannt aufzunehmen. Schließlich war ihr Intellekt zu gut geschult, als dass sie sich derart hätte bluffen lassen. Aber sie begann den Kampf nicht bei Null. Schließlich war sie Stella Henderson, man kannte sie als Popstar; in einhundertzwölf Ländern verkaufte sie CDs. Dort liefen ihre Videos im Fernsehen, die Radiostationen spielten sie rauf und runter, dort war sie Superstar und top und rangierte in ihrer Bekanntheit und Beliebtheit an der Spitze aller Umfragen. Das hatten Marketing-Untersuchungen ergeben, die ihre Plattenfirma anstellen ließ. Stella Henderson lag vor allen Politikern, vor Spitzensportlern und Hollywood-Superstars wie Tom Cruise, Brangelina, Clooney und Co. und zählte zu den bekanntesten Persönlichkeiten der Erde.

Und sie hatte ein positives Image.

Sie war somit ein kleiner Faktor im Rad der Menschheitsgeschichte. Unwichtig, vielleicht, aber mit einer Stimme, auf die junge Menschen in der ganzen Welt hören, wenn sie sie denn erheben würde, nicht nur zum Singen. Hörbar auch für die Mächtigen, die sie benutzten. Oder glaubten, sie, Stella, benutzen zu können. Rund drei Milliarden Menschen kannten Stella Henderson. Auch wenn sie sich nichts vormachte: Die Form des ´Kennens´ war flüchtig und vergänglich. Ein Name. Mehr nicht. Doch die Popularität konnte ihr von Nutzen sein. Und sie war reich. Wenn zweihundertvierundfünfzig Millionen US-Dollar, die sie cash auf ihren Konten hatte, zu der Aussage berechtigen und man ganz allein darüber verfügen kann. „Geld regiert die Welt.“ Sagt ein uraltes Sprichwort. Auch wenn man damals die wahre Bedeutung des Geldes, der Mengen von Geld, die heute entscheidend sind, um weltweit Einfluss nehmen zu können, noch gar nicht voraussehen konnte. Keine Vorstellung davon hatte, was es heißen mag, globale Macht, globalen Einfluss zu haben. Das Prinzip war dennoch das gleiche geblieben: Geld bedeutete Macht. Schon im alten Rom, in Byzanz, Alexandria. Stella eröffneten sich durch ihr Geld Möglichkeiten des Kampfes, an die die Angehörigen anderer Drogenopfer und Opfer von missbrauchter Macht, denn darum ging es ihr letztendlich, gar nicht zu denken wagten.

Stella Henderson war beseelt von dem Gedanken, den geliebten Bruder auf ihre Weise zu rächen – und wenn sie jeden Cent ihres mit ihrer Stimme, ihren Songs und Texten erarbeiteten Geldes dafür ausgeben müsste ...

Und jetzt möchte ich das erotische Spiel mit dem geilen Deutschen fortsetzen!

DU GEHÖRST IHNEN.

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