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Beamte des LKA, Figurella und Ecki:

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12:41 Uhr und zwei Sekunden. Zufall oder nicht. Der Demi-Chef de Cuisine des Clubs läutete zum Essen. Der Clubchef hatte es sich nicht nehmen lassen, für die Leute des LKA einen Lunch zu kredenzen, der den ‚armen Hunden‘ von der Polizei zeigen sollte, wo der wahre Reichtum der Upperclass beginnt: Sautierte Jakobsmuscheln an Apfel, Curry-Kürbis an Endiviensalat, Bretonischer Hummer an frischen Steinpilzen, Pak Choi an Lauchpüree, Gratiniertes Carré vom Lammrücken an breiten Bohnen, Artischocken und Auberginen-Couscous, Mohnsoufflé mit eingemachten Kirschen an Vanille-Krokant-Eis.

Eine Glocke ertönte, die besser zum Big Ben gepasst hätte, als in den mit mittelalterlichen Wandgemälden überfrachteten Raum, in dem der Tisch – natürlich in Gold – eingedeckt war. Die Damen und Herren der SOKO, inklusive der Spezialisten der SpuSi, wussten nun nicht nur, wo der ach so geheime Geheimclub der Schickeria war, sondern auch, wie schwülstig und dekadent er eingerichtet war, und wie die es dort krachen ließen. Schon anhand der Bilder, die durch die Presse gegangen waren, bevor das DEKADENT eröffnet wurde, konnte man sich ausmalen, dass die fensterlosen Räumlichkeiten in einem Kellergewölbe eines alten Gebäudes der Stadt untergebracht waren. Edel, ja, aber total kitschig gestaltet.

Interessant allerdings der Ort.

Damit hatten sie nicht gerechnet.

Die Lage, das Gebäude – eine Sensation!

Was Franz-Josef wohl dazu gesagt hätte!, ging es dem Leiter der SOKO durch den Kopf, als er in der Nacht mit seinem erst Minuten vorher in Hochgeschwindigkeit auf Anweisung von ganz oben – also dem zuständigen Innenministerium – zusammengestellten Team von der Michaelstraße kommend in die Von-der-Tann-Straße einbog und dann vor dem prunkvollen Gebäude auf der rechten Seite seinen Dienst-BMW parkte.

Aber der hatte ja auch seine Geheimnisse gehabt.

Franz-Xaver Bleiling, Kriminalrat und nur noch sehr selten im Außeneinsatz, lächelte süffisant in sich hinein …

Protz hoch drei. Und überall Gold, Gold, Gold. Blattgold, versteht sich. Sooo viel Geld wollte man nun auch nicht investieren. Wert? Protz hoch zwei.

Höchstens.

Nachdem der Chef der SOKO das Festessen für sich und seine Kollegen abgenickt hatte, schlugen alle vierzehn Damen und Herren des LKA zu und träumten vielleicht hier und da auch davon, wie schön es doch wäre, wenn man zwanzig Millionen auf dem Konto hätte. Das sollte, so hieß es, die untere Schmerzgrenze an Vermögen sein, die zum Eintritt in den exklusiven Club berechtigen würde. Vom jährlichen Mitgliedsbeitrag von 100.000 Dollar – warum Dollar, wussten sicher nur die Erfinder des Betrugsladens! – mal abgesehen. So viel Kleingeld kann man schon mal für ein paar nette Clubabende ausgeben, oder?!

Wieder einmal war das Sachgebiet SG 203, Forensische DNA-Analytik – Blut, Speichel, Sperma, Gewebe verschiedener Herkunft, Hautschuppen und Haare – besonders gefragt, denn sie hatten es mit einer ungewöhnlichen Tötungsart zu tun.

Das ungleiche Pärchen, das sie im DEKADENT zu untersuchen hatten, saß noch immer unverändert auf den goldenen Stühlen, nachdem die anderen Clubmitglieder während des vorzüglichen Dinners der letzten Nacht bemerkt hatten, dass Eckehart, genannt ‚Ecki‘, Mörsmann und seine sehr junge, weibliche Begleitung sich nicht mehr bewegten.

Wie versteinert.

Wenn da nicht …

Mit weit aufgerissenen Augen und angstverzerrten Gesichtern hatten die anderen zehn Clubmitglieder fluchtartig den Tisch und das Gewölbe ›Tiberius Sempronius Gracchus‹ geräuschlos verlassen. Man hätte eine Stecknadel zu Boden fallen hören können.

Angst, Angst, Angst!

Und: Diskretion war angesagt.

Man war schließlich im DEKADENT und etwas Besonderes.

Münchens Elite.

Amen. Also wegen der ‚Elite‘ …

Aber der Schrecken über den Anblick des ungleichen Pärchens überwog; ein Bild wie dieses hatte keiner der Herren vorher gesehen. Es hätte eines der mystisch/grausamen Bilder von Hieronymus Bosch sein können.

Der Herr Mörsmann und seine Begleitung wirkten wie vom Blitz getroffen, versteinert. Einerseits. Andererseits merkwürdig lasch und fahl. Ein Widerspruch in sich, dem der Chef-Forensiker nur ein ungläubiges Lächeln entgegensetzen konnte.

Bei dem verdammt jungen Mädchen hatten sich auf der linken Seite ihres schönen Kopfes die Haare gelöst. Was war das? Trug sie eine Perücke? Hatte sie eine Chemotherapie erhalten?

Kahl die linke Seite.

Auf der eigentlich stofffreien Schulter – sie trug eine weit ausgeschnittene Seidenbluse ihrer Mutter in Royalblau – lange, braune Haare. Wie ausgerissen. Aber ihr Nachbar des Dinners, ein ziemlich verkrampft und nervös wirkender Privatbankier, hatte weder an ihr gerissen, noch sie in irgendeiner Weise sittlich oder unsittlich berührt.

Wie kam das?

Haare, überall Haare und eine Halbglatze.

Innerhalb von Minuten.

Und aus ihrer Nase tropfte Blut.

Noch immer …

Ihr Gegenüber, der in der Münchener Gesellschaft eigentlich völlig unbekannte Eckehart Mörsmann, mit dem gleichen Phänomen: sein Hinterkopf kahl. Wie frisch rasiert. Seine fahlblonden Haare in Büscheln verteilt auf dem schwarzen Sakko. Auf der Sitzfläche des mit goldenem Brokat bezogenen Sessels, auf dem der Tote saß, war blutiger, hellroter Kot zu sehen, der inzwischen den Boden des edlen Gemaches ›Tiberius Sempronius Gracchus‹ erreicht hatte.

Stinkend.

Ein Anblick, den die Flüchtenden nicht vergessen würden.

Ebenso leise und unauffällig verließen die anderen 88 Mitglieder den Club. Allein im Festsaal ›Romulus‹ hatten die 66 Gründungsmitglieder des DEKADENT gefeiert. Die acht Clubmitglieder, die sich alle schon von einer internationalen politischen Verbindung her kannten und befreundet zu sein schienen, und die im ›Caligula‹ schon einige Flaschen Absinth über den Durst getrunken hatten, waren hart im Nehmen. Sie wollten in ihrem Suff unbedingt einen Blick auf das gespenstische Pärchen im ›Tiberius Sempronius Gracchus‹ werfen, bevor sie schwankend den Ort des Geschehens verließen. Die ‚Freunde‘ gehörten definitiv zur Hardcore-Abteilung des DEKADENT und hatten nach dem Schockerlebnis ihren Abgang besonderer Art.

Niemand wollte letztlich mit dem merkwürdigen Gruselereignis in Verbindung gebracht werden.

Es wurde gesimst, dass die Handys glühten.

Anwälte schmissen ihre Geliebten oder Ehefrauen aus den Betten. Sie fingen zu rotieren an und wussten dennoch nicht, wo sie ansetzen sollten und wofür die Aufregung eigentlich gut sein sollte, außer für ihr eigenes Bankkonto.

Zwei Tote! Im DEKADENT!

Schrecklich!

Heuchelei pur.

Sie dachten alle nur an ihr Honorar, das in Fällen wie diesen besonders hoch ausfallen würde.

In den Stunden seit dem Eintreffen der SOKO waren sich die Spezialisten einig, dass sie es mit dem ungewöhnlichsten Fall zu tun hatten, der ihnen in ihrer Laufbahn untergekommen war.

Der Toxikologe der SpuSi stand regungslos vor den beiden sitzenden Leichen. Er schüttelte mehrfach seinen Kopf.

»Ich bin ratlos, Chef, völlig ratlos! Ich habe schon viele Tatorte gesehen, aber einen wie diesen …«

»Könnte es sein«, fragte Kriminalrat Franz-Xaver Bleiling den Toxikologen, »dass wir es hier mit den Folgen einer Radioaktivität zu tun haben? Mir fällt da gerade der Fall des russischen Spions Litwinenko ein, der vor etlichen Jahren in London einem Anschlag mit radioaktivem Material zum Opfer fiel. Wir hatten seinerzeit dazu mehrere Weiterbildungen. Haarausfall, Diarrhö, Blutungen und so sind da an der Tagesordnung.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber die Möglichkeit sofort wieder verworfen. Wir leben in Deutschland, in München! Sind in einem obskuren Nachtklub der Neureichen und Angeber. Wer sollte hier mit atomaren Materialien arbeiten können?! Da kommt keiner ran. Und überhaupt: warum, wofür? Töten kann man auch anders. Das macht alles keinen Sinn. Aber wann sind Morde schon sinnvoll … Nein, Xaver, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, obwohl die Symptome passen könnten. Bei dem Russen war es Polonium, 210Po. Je nachdem, wie viel man von dem Zeug verabreicht, liegen die Halbwertzeiten in etwa zwischen 3·10−7 Sekunden für 212Po bis zu 103 Jahren für das künstlich hergestellte 209Po, wenn dir das was sagt!«

»Das heißt was?«

»Wie lange man auf so einen Tod warten muss, wenn man das Zeug verabreicht bekommt? Es hängt natürlich von der Menge ab. Und von der Art und Weise, wie das Polonium in den Körper gelangt. Vorausgesetzt, wir haben es hier überhaupt mit Polonium zu tun. Das kann der Doc erst feststellen, wenn er die beiden Leichen auf dem Tisch hat. Wenn Polonium-210 in den Körper gelangt – entweder über das Essen, über Getränke oder durch Einatmen –, kann das wahnsinnig schnell gehen. Dann entfaltet die Strahlung je nach Menge oft blitzartig ihre zerstörerische Wirkung. Zwar wird ein großer Teil des aufgenommenen Poloniums direkt wieder ausgeschieden, doch über den Blutstrom erreicht der Rest verschiedene Gewebe und Organe. Dort hat die Alphastrahlung eine so große Energie, dass sie Zellstrukturen geradezu in Sekundenschnelle zertrümmern kann. Das muss hier geschehen sein. Immer vorausgesetzt, wir haben es mit Polonium zu tun. Ist ja nur eine Vermutung. Einfach crazy, verdammt noch mal …«

»Du machst mir Angst, Toxi!«, erwiderte Kriminalrat Franz-Xaver Bleiling vom LKA. Er nahm den mit „Toxi“ angesprochenen Kollegen am Arm und sagte:

»Komm, lass uns was essen gehen. Könnte ja sein, dass das nicht vergiftet ist …«

Dekadent

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