Читать книгу Booklove - Daphne Mahr - Страница 5

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Eins

An diesem ganz speziellen Mittwoch in der letzten Woche der Sommerferien war von Anfang an irgendetwas faul. Es begann mit dem nervigen Läuten meines Handys. Quak, quak, quak.

Wäre es nicht mein total süßer Sitznachbar Jonas gewesen, der mir den Klingelton kurz vor den großen Ferien heimlich von Shawn Mendes’ There’s Nothing Holdin’ Me Back zu Quarks, der Frosch umgestellt hatte, hätte ich es längst wieder geändert. Doch so erinnerte mich jedes Quaken an Jonas’ honigbraune Augen, den knuffigen Leberfleck auf seiner linken Wange und vor allem an die Zeit vor seiner Erdbeer-Knutsch-Aktion … Als ich eine letzte Hoffnung gehabt hatte.

Seufzend vergrub ich mich unter der Bettdecke, bis nur noch meine Nasenspitze hervorblitzte, und ignorierte das Läuten. Leider war Quarks, der Frosch, ziemlich hartnäckig. Quak, quaak, quaaak, quaaaak.

Irgendwann reichte es mir. Wie automatisch tastete meine Hand nach dem Smartphone auf dem Nachttisch. Ich schaute gar nicht, wer mich anrief, sondern nahm einfach ab. Genau als ich es gegen mein Ohr drückte und dazu ansetzte, etwas zu sagen, musste ich laut gähnen.

»Ähm, Emma, du schläfst doch nicht ernsthaft immer noch?«, fragte die Stimme meiner besten Freundin Leona.

Ich riss die Augen auf. Immer noch? Es war gerade einmal acht! Das ist eine menschenunwürdige Zeit für die Ferien.

Aber das sah Leona anders. Sie hörte sich an, als würde sie einen Hochleistungsmarathon laufen, wahrscheinlich war sie wieder einmal mit ihrer frühmorgendlichen Joggingrunde beschäftigt. Was Sport betraf, konnte Leo einem echt ein schlechtes Gewissen machen. Ich war meistens froh, wenn ich es morgens schaffte, ohne Stress meine Cornflakes zu essen. Sie hingegen lief sogar vor Unterrichtsbeginn stets eine halbe Stunde durch den Park UND aß anschließend supergesunde, vollwertige Bio-Granola-Flocken mit frischem Obst.

Einmal mitlaufen hatte mir für den Rest meines Lebens gereicht. Neben Leona hatte ich mich wie eine Achtzigjährige gefühlt, die es höchstens mit den Nacktschnecken im Schrebergarten meiner Großeltern aufnehmen konnte.

»Nee, ein Frosch hat mich geweckt«, murmelte ich und rieb mir Schlafsand aus den Augen.

»Ein Frosch?« Leona kicherte. Den Geräuschen nach zu urteilen, machte sie gerade Dehnübungen an einer Parkbank. »Hast du diesen doofen Klingelton etwa immer noch nicht umgestellt? Hm, er passt natürlich wirklich gut zu Jonas, diesem Frosch. Aber man sagt ja, die werden zu Prinzen, wenn die richtige Prinzessin sie küsst.«

»Bestimmt«, murrte ich zerknirscht. »Betonung auf richtige

»Vielleicht kannst du ihn beim Back-to-School-Ball doch noch erlösen«, entgegnete Leona.

»Hast du vergessen, dass er mit Megan hingeht?«

»Na und? Ich komm übrigens gleich nach dem Joggen bei euch vorbei.«

Langsam rappelte ich mich auf, während Leona weiterkeuchte: »O Mann, ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen. Es ist so aufregend und cool! Heute erfahre ich das Ende. Kannst du dir das vorstellen? Darauf warte ich seit zwei Jahren!«

Ich kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. Welches Ende? O Gott, das Ende!

»Scheiße, Leo, sorry, aber ich muss jetzt sofort runter in den Laden. Also wenn du mich suchst, ich bin dort. Bis später!«, rief ich und pfefferte das Handy in hohem Bogen auf mein Kissen. Dann presste ich die Hände vor mein Gesicht und quiekte einmal laut: »Ahhhh!«

Mist. Mist. Mist. Heute war dieser verdammte Tag und ich war noch nicht unten in der Buchhandlung. Mit einem Schlag war die Müdigkeit verflogen. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und trat dabei mit dem nackten Fuß direkt auf die Kante eines am Boden liegenden Buches. Autsch. Das fing ja wirklich gut an. Warum hatte ich mich auch darauf eingelassen, für ein bisschen zusätzliches Taschengeld bei meinem Vater im Laden mitzuhelfen? Aber ich wollte Pa nun mal nicht im Stich lassen, nachdem seine zickige Aushilfe Philippa wieder einmal krank war. So wie jedes Mal, wenn wichtige Dinge bevorstanden.

Diese Sache heute Abend war sogar verdammt wichtig. Pa drehte seit Wochen völlig am Rad, weil die berühmte Bestsellerautorin Hannah Ruderer ausgerechnet in seiner kleinen Buchhandlung ihren neusten Fantasykitsch vorstellen würde. Ich hatte ja wirklich keinen blassen Schimmer, wie es dazu gekommen war, denn bei Bücher Grünwald handelte es sich eigentlich nicht um einen dieser Läden, in denen normalerweise große Events stattfanden. Dafür war der Laden viel zu winzig, altmodisch … unbedeutend. Pas Geschäft lebte vor allem von treuen Stammkunden und Touristen, die sich auf der Suche nach Briefmarken (obwohl Pa die gar nicht verkaufte) durch die Eingangstür verirrten.

Doch heute war alles anders. Hannah Ruderer las nämlich nicht aus irgendeiner ihrer Geschichten vor, sondern aus dem heiß ersehnten finalen Band der seit Monaten gehypten Fantasytrilogie Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Die Meute würde uns also heute Abend die Bude einrennen. Mir graute jetzt schon davor!

Das lag nicht nur daran, dass ich grundsätzlich nicht besonders gerne im Laden aushalf – jeder, der meinen Vater schon einmal bei der Arbeit erlebt hatte, verstand das –, ich konnte die Begeisterung für diese kitschigen Romane einfach nicht nachvollziehen.

Alles drehte sich darin um den blonden Lackaffen Phil Brandfair, einen adeligen Zeitreiseschnösel aus dem britischen Sussex des neunzehnten Jahrhunderts, der mithilfe des Wandschrankes seines Opas eines Tages im einundzwanzigsten Jahrhundert landet – genauer gesagt, direkt im Zimmer des ahnungslosen Au-pair-Mädchens Esmeralda. Sie ist auf dem riesigen Landhaus der stinkreichen Familie Brandfair (Phils Nachfahren) dafür zuständig, sich um die dreijährigen Teufelsbraten William und Dorian zu kümmern. Ungefähr zehn Seiten später sind Phil und Esmeralda unsterblich ineinander verliebt, gäbe es da nicht ein Riesenproblem: Vinzenz, Phils hinterhältiger Ziehbruder, der ebenfalls über die besonderen Fähigkeiten dieses Wandschrankes informiert ist. Schlimmer noch, wie es sich für einen echten Fiesling gehört, setzt er alles daran, Phil die wunderschöne Esmeralda auszuspannen. Außerdem will er der mächtigste Zeitreisende der Welt werden, weshalb er Phil erst einmal aus dem Weg schaffen muss. Und das war es auch schon. Sehr viel mehr Handlung gab es nicht. Doch mit seinen blauen Augen, coolen Machosprüchen und vor Kitsch triefenden Liebesbekundungen brachte Phil auch ganz ohne Tiefgang tagtäglich Tausende von lesewütigen Mädchenherzen zum Schmelzen – eines dieser Herzen gehörte leider Leona.

Für einen Phil aus Fleisch und Blut hätte sie alles gegeben. Seitdem der erste Band erschienen war, erzählte sie mir ständig, dass ihr einzig wahrer, heiß ersehnter Mr Right genau diese Art Junge sein müsse. Blond, groß, muskelbepackt, strahlend blaue Augen und natürlich im Idealfall auch noch ein britischer Lord mit irgendwelchen magischen Fähigkeiten. Eine ziemlich verfahrene Sache, weil Phil nun einmal eine Romanfigur war und Pickel-Tommy aus der Schule, der Leona ungefähr seit der sechsten Klasse anhimmelte, diese Anforderungen nicht einmal annähernd erfüllte. Auch wenn ich verstand, dass Leona nicht scharf drauf war, herauszufinden, wie sich eine Zahnspange beim Rumknutschen anfühlte, hatte ich manchmal ein bisschen Mitleid mit Tommy. Besonders, wenn er Leo wieder einmal bereitwillig die Mathehausaufgaben zum Abschreiben zusteckte oder ihr die Schultasche trug. Kurz vor den großen Ferien hatte er sie sogar gefragt, ob sie im Herbst mit ihm auf den Back-to-School-Ball gehen würde. Allerdings war das ein wirklich schwacher Moment gewesen, nämlich fünf Minuten nachdem Leona ihre versiebte Matheklausur zurückbekommen hatte, weshalb ihr ein genuscheltes »Okay« über die Lippen gerutscht war (sie wollte ihm nicht das Herz brechen, immerhin gab er ihr gratis Nachhilfe).

Pickel-Tommy war aber allemal besser als gar keine Begleitung! Damit versuchte ich sie schon die ganzen Ferien hindurch zu trösten. Traurig war nur, dass ich diejenige war, auf die genau das zutraf, weil ich völlig unnötig auf Jonas’ große Frage gewartet hatte. Der hatte mir nur Blätter aus meinem Collegeblock geklaut und mich in der Bushaltestelle auf die Wange geküsst, um eine Woche später mit Megan Jonson (dem Mädchen mit dem hollywoodreifen Namen, dem amerikanischen Vater und alljährlichen Flugreisen zu ihren Großeltern nach Kentucky) in der Eisdiele rumzumachen. Dabei hatte er sie sogar mit Erdbeeren gefüttert … MIT DEM MUND. Am Ende blieb mir also nichts von Jonas außer Quarks, dem Frosch auf dem Handy.

Ich hetzte ins Badezimmer, spritzte mir kaltes Wasser in mein sommersprossiges Gesicht und versuchte den schulterlangen, fuchsroten Wirrwarr auf meinem Kopf in einen streng geflochtenen Zopf zu bändigen. Mit mäßigem Erfolg, meine Haare machten immer nur, was sie wollten – was leider bedeutete, dass sie mich heute wie eine wild gewordene Räubertochter aus dem Wald aussehen ließen. Manchmal waren diese roten Haare und die vielen Sommersprossen wirklich eine Strafe, aber immerhin erinnerten sie mich an Mama. Sie war gestorben, als ich erst zwei Jahre alt gewesen war. Bis auf die haselnussbraunen Augen, die ich von Pa hatte, sah ich ihr zum Verwechseln ähnlich.

In der Küche begrüßten mich eine leere Packung Cornflakes und saure Milch. Großartig. Damit fiel heute also auch noch das Frühstück ins Wasser. Was für ein Katastrophentag!

Die Krönung war dann aber definitiv der stuntreife Sturz über die Wendeltreppe, die unsere Wohnung direkt mit der Buchhandlung verband. Als wäre das nicht schlimm genug gewesen, endete meine Flugbahn auch noch unmittelbar vor den perlmuttfarben lackierten Fußnägeln der Spinatwachtel, Pas treuster Stammkundin. So hieß die natürlich nicht wirklich, aber wegen ihrer giftgrünen Klamotten und der komischen Vogelnestfrisur hatte ich ihr irgendwann mal diesen Codenamen verpasst.

Die Spinatwachtel kaufte sich gerade einen Roman mit dem Titel »Die flammende Lust des Highlanders« (oder so ähnlich) und fragte mich allen Ernstes, ob eine Vierzehnjährige nicht zu alt für lustige Rutschpartien auf dem Geländer wäre. Dann faselte sie irgendwas von Erwachsenwerden und Pippi Langstrumpf, während sie Giacomo Casanova – ihren Langhaar-Chihuahua mit einem Stammbaum, der sich laut Spinatwachtel bis in die tiefsten Tiefen des dunklen Mittelalters zurückverfolgen ließ – von einem Arm auf den anderen wechselte.

Leider sprudeln einem die schlagfertigen Antworten nicht unbedingt über die Zunge, wenn man mit einer schmerzenden Pobacke am Boden sitzt und einen alle anstarren.

Über diesen peinlichen Auftritt beklagte sich mein Hintern auch zwanzig Minuten später noch, als ich in dem winzigen Eckschaufenster mit Blick auf die kopfsteingepflasterte Kleegasse herumkroch und mich bemühte, Pas Anweisungen von draußen zu verstehen. Schlagartig war er auf den Gedanken gekommen, dass ihm die Dekoration, die er vergangenen Sonntag gemacht hatte, nun doch nicht sensationell genug für ein Event wie dieses war … Er konnte fürchterlich pingelig sein. Manchmal stellte ich mir die Frage, was wohl aus ihm geworden wäre, hätte er nicht diesen Laden von Uropa Heinrich geerbt. Aber die einzige Antwort war wohl, dass er dann trotzdem eine Buchhandlung eröffnet hätte. Pa war nun einmal ganz und gar besessen von Büchern.

Er zupfte sich unruhig am Kinn herum. »Emma, nimm noch etwas Glitzer für den Boden. Es soll richtig magisch wirken! Die Leute müssen in den Augen geblendet werden, wenn sie vorbeigehen. Ja, das kommt eher hin. Noch mehr! Ach nein, jetzt hast du das Bild verrückt. Man muss Phil und Esmeralda sehen können!« Seine Stimme drang dumpf durch die Scheibe hindurch. Er stand draußen auf der Straße, obwohl es in Strömen regnete. Sein graues Sakko war schon ganz nass und einzelne Regentropfen hatten sich in den Stoppeln seines hellbraunen Dreitagebarts verfangen.

Ich seufzte und zog eine Grimasse.

Pa tat, als würde er meine miese Laune gar nicht wahrnehmen, und rückte die runde Brille, die ihn immer ein bisschen wie eine Eule aussehen ließ, zurecht. »Karottenzwerg, ich mach das doch lieber selbst. Bau bitte die Stühle auf, da kann man nichts falsch machen.«

Das war der Grund, weshalb ich lieber nicht in der Buchhandlung aushalf. Was hatte ich denn, bitte schön, falsch gemacht? Als ob man mir nur Aufgaben für Kleinkinder zutrauen könnte. Außerdem verabscheute ich es, wenn Pa mir diesen absolut belämmerten Spitznamen gab, den mir der orange Flaum eingebrockt hatte, der mir als Baby auf dem Kopf gewachsen war. Karottenzwerg. Den würde ich wohl nie wieder loswerden.

Ich schnaubte und ließ die Hand energisch in dem Eimer voll Glitzerkonfetti versinken, wodurch er links und rechts überquoll. Dann stand ich so rasch auf, dass ich dabei mit dem Hinterkopf gegen den aufgeklappten Schaufensterrahmen donnerte. Erschrocken trat ich in den Glitzerkonfetti-Eimer und rutschte aus. Um das Gleichgewicht zu halten, ruderte ich noch eine Weile mit den Armen in der Luft herum, doch es war längst zu spät. Ich plumpste mit voller Wucht rücklings auf den Bestsellertisch hinter dem Schaufenster. Die spitze Kante des neusten Thriller-Megasellers bohrte sich zielsicher in meinen Rücken, mein rechtes Bein schoss reflexartig in die Luft und der Eimer wurde einmal quer durch den Verkaufsraum gekickt. Na super. Damit war mein Höchstmaß an peinlichen Aktionen in der Öffentlichkeit für die nächsten paar Jahre hoffentlich endgültig erreicht … Wäre ja eigentlich alles nicht weiter tragisch gewesen, hätte sich nicht das ganze Glimmerkonfetti über mich, die Bücher und den Boden verteilt. Beziehungsweise … wäre der Eimer nicht mitten auf dem Kopf eines alten Mannes gelandet, der eben neben die Kasse getreten war und sich eines der Zitronenbonbons, die dort in einem bauchigen Glas standen, in den Mund geschoben hatte. Zum Glück trug dieser Opa einen schwarzen Hut in Melonenform, so war er wenigstens ein kleines bisschen vor dem unerwarteten Wurfgeschoss geschützt. Es klapperte gewaltig, als der Eimer auf den Boden fiel, dort noch eine winzige Drehung vollführte und schließlich bewegungslos liegen blieb.

»Nanu?« Der Opa hob eine seiner dichten Brauen.

Wenige Sekunden später kam Pa zur Tür hereingestürmt.

Ich warf ihm einen unschuldigen Blick zu und pustete mir eine rote Haarsträhne, die sich aus meinem Flechtzopf gelöst hatte, von der Stirn. Ich wagte es nicht, mich auch nur einen winzigen Zentimeter vom Fleck zu rühren, denn ich konnte genau fühlen, wie sich der harte Buchdeckel des Thrillers unter mir immer mehr verbog. Bestimmt war es besser, wenn Pa davon erst mal nichts erfuhr. Seiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, stand er auch so schon kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

Er wandte sich an den alten Mann. »Entschuldigen Sie vielmals! Meine Tochter hilft aus, und sie ist wahrscheinlich der größte Tollpatsch, den die Welt jemals zu Gesicht bekommen hat. Haben Sie sich verletzt?«

»Ach was.« Der Opa schnippte ein Konfetti von seiner Schulter. »Ich finde, sie kann ruhig häufiger aushelfen. Ich bin ein großer Freund der Slapstick-Kunst im Stil des einzigartigen Charlie Chaplin.«

Slapstick-Kunst? Charlie Chaplin? Was quasselte der denn für seltsames Zeug? Und so was musste ich mir von einem Kerl anhören, der mit seinem schwarzen Mantel aussah, als wäre er geradewegs dem neunzehnten Jahrhundert entsprungen! Warum trug der überhaupt mitten im Sommer einen Mantel? Ich war mir ganz sicher, ihn noch nie zuvor in der Buchhandlung gesehen zu haben. Seine schneeweißen Haare reichten bis knapp über die Ohren, wo sie sich zu dünnen Locken kringelten, und seine Oberlippe wurde von einem beachtlichen Schnauzbart geziert, der sich seitlich links und rechts zu zwei abstehenden Schnecken kräuselte. Am auffälligsten war jedoch das eigenartige Monokel, das er soeben aus der Brusttasche seines Mantels zog und sich mit einem komischen Brummgeräusch vor das linke Auge schob.

Wer trug denn im einundzwanzigsten Jahrhundert noch ein Monokel?

Aber der Kerl schien sich damit keineswegs seltsam vorzukommen. Er trat näher an mich heran und beäugte mich durchdringend durch das Glas. »Uns steht ein großer Abend bevor. Nicht wahr?«

Endlich schaffte ich es, mich aus meiner Schockstarre zu lösen. Während ich vom Bestsellertisch kletterte, ließ ich das zerquetschte Buch mit einem geschickten Handgriff hinter meinem Rücken verschwinden und setzte dazu an, etwas zu sagen, aber meine Zunge war wie gelähmt. Ich brachte keinen Ton heraus.

Der Mann schien keine Antwort zu erwarten. »Ein wirklich, wirklich großer Abend«, murmelte er leise. Noch mitten im Sprechen machte er sich auf den Weg zur Tür. Bevor er den Laden verließ, nahm er seinen Hut ab und deutete eine leichte Verbeugung in meine Richtung an. Dann verschwand er schnellen Schrittes auf die Straße. Ich konnte ihn nur noch wie einen dunklen Schatten am Schaufenster vorbeihuschen sehen.

Ich drehte mich zur Kasse, hinter der Pa so tat, als sei ihm nichts aufgefallen. Kein Wunder, eigenartige Kunden waren für ihn Alltag. Da musste man nur mal an die Spinatwachtel denken.

Pa summte leise die Melodie von O Tannenbaum und zog frisch gedruckte Mitternachts-Trilogie-Fan-Lesezeichen aus ihrer Verpackung. Phil umgeben von lila Glitzer. Kitsch pur.

»Kanntest du den?«, fragte ich und bemühte mich, den krumm gebogenen Thriller hinter meinem Rücken zu verstecken.

Pa sah von den Glitzerlesezeichen auf. »Nein, Karottenzwerg. Aber er schien sich für die Lesung heute Abend zu interessieren.«

»Der Typ war mindestens achtzig«, wunderte ich mich. »Seit wann lesen alte Opas Romane für Teenies?«

»Ach was.« Pa zuckte die Schultern. »Manche Geschichten sind in jedem Alter schön zu lesen. All Age.« Offenbar war er jetzt mit der Position der am Kassentisch aufgefächerten Lesezeichen zufrieden, nachdem er sie mindestens zehnmal von links nach rechts gerückt hatte.

Er ging zum Schaufenster und sein Gesumme wechselte zu Hänschen klein. Bei jedem seiner Schritte drehte ich meinen Oberkörper mit. Wie sollte ich dieses doofe Buch bloß wieder loswerden?

»Kümmerst du dich jetzt um die Stühle?«, erinnerte Pa mich an meine eigentliche Aufgabe. »Und das Glitzerkonfetti muss auch vom Boden gesaugt werden.«

Das war die Lösung. Der Staubsauger! Ich nickte schwach und machte mich rückwärts auf den Weg in das kleine Büro hinter der Kasse.

Pa sah mich verwundert an. »Denkst du nicht, dass es schneller geht, wenn du dich umdrehst?«

»Äh, das Schaufenster wird wirklich schön«, lenkte ich ab und setzte das fröhlichste Lächeln auf, das ich draufhatte. »Aber guck mal, Vinzenz geht’s wohl nicht so gut.«

Der kleine Pappaufsteller mit Oberbösewicht Vinzenz lag umgekippt neben Phil und Esmeralda.

»Oh!«, rief Pa. Er ließ sich wirklich leicht auf andere Gedanken bringen, das war gut. Sofort widmete er sich dem armen Vinzenz und kümmerte sich nicht weiter um mich.

Ich erreichte den Kassentisch, wirbelte herum und verschwand mit einem Affentempo im Büro.

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