Читать книгу Booklove - Daphne Mahr - Страница 9

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Fünf

Das Licht der Handylampe ging wieder. Es leuchtete einen Jungen mit schwarzen Strubbelhaaren und einer kleinen, blutigen Beule auf der Stirn an. Bestimmt war er nur ein bisschen älter als Leo und ich. Sein Aufzug sah jedoch ordentlich schräg aus. Ein Frack über einem roten Hemd und dazu eine dunkle Stoffhose und kniehohe Reiterstiefel. Kein normaler Junge lief heutzutage freiwillig in diesem Outfit durch die Gegend.

»Du hast ihn erschlagen«, flüsterte Leona geschockt.

»Unsinn.« Ich ging in die Hocke, um ihn etwas näher zu betrachten, und befühlte seinen Hals. »Er hat noch Puls.«

Jetzt kniete auch Leona sich neben ihn. »Bist du sicher?«

»Ja, außerdem ist man nicht so schnell tot.«

»Aber schau mal, sein Gesicht glitzert.«

»Hm.« Das war wirklich seltsam. Ich legte den Kopf zur Seite und ließ zaghaft meinen Zeigefinger an seine Wange wandern, bis ich mit der Fingerkuppe dagegenstieß. Gerade als ich meine Hand wieder wegzog und den Glitzerstaub musterte, der nun an meiner Fingerkuppe klebte, riss der Junge schlagartig seine Augen auf. Ein knalliges Dunkelblau. Fast unecht, wie eingefärbte Kontaktlinsen. Jetzt erst merkte ich, dass seine Lider von dunklen Rändern umrahmt wurden, als hätte er sich großzügig Kajal drum herumgeschmiert.

Leona und ich machten synchron einen Satz nach hinten. Doch der Fremde wirkte nicht weniger erschrocken. Entgeistert starrte er uns an, richtete blitzschnell den Oberkörper auf und rutschte auf dem Hosenboden ein Stück davon, bevor er panisch auf die Füße sprang. Kurz wankte er, schaffte es aber gerade noch, sich an einem der Regale abzustützen, und tastete dann heftig atmend nach der Wunde an seiner Stirn. »W… was soll dieser Unfug? Ihr schlagt mich, um mich im Anschluss … unflätig … zu … zu betatschen? Seid Ihr noch bei Trost?«

Unflätig? Betatschen? Welche Schraube war denn bei dem locker? So sprach heutzutage doch kein Mensch unter neunzig. Außerdem war er wohl derjenige, der einfach hier eingebrochen und somit erst mal mit einer ordentlichen Rechtfertigung an der Reihe war. »Was suchst du in meiner Buchhandlung?«, fuhr ich ihn an.

»Eure Buchhandlung?« Der Junge musterte mich. Neugier blitzte in seinen Augen auf.

»Was meinst du mit eure? Meine.« Ich holte tief Luft und versuchte, möglichst ruhig zu klingen. Wenn der merkte, dass er mir Angst machte, kam er sich bestimmt gleich cool vor. »Eigentlich gehört der Laden natürlich meinem Dad … ist doch egal jetzt … ich wohne hier jedenfalls.«

»Ach, zwischen den ganzen Büchern? Charmant. Dann wohne ich jetzt auch hier, sehr schön. Das übertrifft meine Erwartungen ganz trefflich. Und wenn ich mir Euch kleinen Backfisch so ansehe … Ihr macht einen adäquaten Eindruck. Es hätte wahrlich schlimmer kommen können. Stellt Euch vor, ich wäre in den Fängen einer zwölfjährigen Satansanbeterin gelandet. Das einundzwanzigste Jahrhundert ist, was das betrifft, nicht unbedingt vertrauenerweckend.«

Backfisch? Der hatte echt ein Rad ab. Entsetzt schüttelte ich den Kopf. »Bist du irgendwo ausgebrochen? Vielleicht aus einem Irrenhaus?«

Der Junge rümpfte die Nase und rubbelte sich gleichzeitig an seiner Verletzung herum. »Ich bitte Euch, selbstverständlich nicht. Ganz im Gegenteil. Der Textsprung wurde vollbracht. Ein wahrhaft vortreffliches Glück. Alle Faktoren zugleich.«

»Was quasselst du da?« Ratlos wechselte ich einen Blick mit Leona, doch die schien leider das Sprechen verlernt zu haben. Super. Das nannte ich mal freundschaftlichen Beistand.

Und als wäre er nicht sowieso schon eigenartig genug, machte der Spinner jetzt auch noch einen großen Schritt auf mich zu und presste die Augenlider fest zusammen. »Gehe ich richtig in der Annahme, dass Ihr gelesen habt?« Er fuhr sich mit der Handfläche über die Wange, betrachtete sie und verzog die Lippen zu einer gequälten Schnute. »Uff. Weshalb bloß müssen diese Verlage immerzu diesen Glitzer auf unser Cover geben? Auf das Antlitz einer Fee könnte ich durchaus verzichten.«

»Wieso sollen wir gelesen haben?« Ich verstand kein Wort.

»Nein, nicht ihr, sondern Ihr.«

»Sag ich doch.«

»Nein, sagt Ihr nicht! Ich meine Euch.«

»Äh … du meinst …«

»Nur Euch. Die junge Dame mit den feuerroten Haaren.«

Sollte das ein Kompliment sein? Dafür kapierte ich jetzt, dass der Typ nicht nur ein bisschen daneben war, sondern schlicht und ergreifend komplett crazy sein musste. Warum sonst quatschte er mich mit einer so steinzeitlichen Höflichkeitsfloskel an? Da qualmte einem ja Staub aus den Ohren.

»Du darfst ruhig Du zu mir sagen«, presste ich hervor und schluckte. »Mal davon abgesehen, dass du eigentlich ein mieser Einbrecher bist. Und was ist mit deinen Augen passiert?«, wich ich mit weichen Knien der Frage nach dem Lesen aus. Was ging es ihn an, ob ich vorher aus diesem verfluchten Buch gelesen hatte?

»Meine Augen?« Verwundert strich er sich mit dem Zeigefinger über den schwarzen Rand und musterte ihn. »Ach. Kohlestift. Wisst Ihr, meine Maske hatte große Löcher, deshalb musste ich nachhelfen. Sah anders nicht sonderlich gut aus. Es ist mir leider nicht möglich, Euch das zu zeigen, weil ich die Maske im Buch gelassen habe.«

Bei diesem Satz griff Leona mich plötzlich beim Arm. »Ach du heilige Scheiße … Vi… Vin…!«

»Hä?« Ich drehte mich mit verwirrtem Blick zu ihr.

Leona schnappte nach Luft. »Das ist Vinzenz!«

»Was? Wer?«, entfuhr es mir.

»Vinzenz Brandfair«, keuchte Leona.

Mir wurde flau. Großartig! Jetzt drehte Leo völlig durch. Fan einer Fantasytrilogie zu sein, das war die eine Sache. Zu glauben, der Fiesling – der offenbar am Anfang des drittens Bandes gleich mal die weibliche Protagonistin mit Lachshäppchen fütterte und anschließend abknutschte (Hallo? Fischmundgeruch?) – wäre schlagartig zum Leben erwacht, war eine ganz andere. Natürlich, vorher war es unheimlich zugegangen. Die Existenz von Geistern konnte ich mir durchaus vorstellen … eine real gewordene Romanfigur hingegen nicht. Geister ließen sich immerhin mithilfe einiger okkulter Ansichten erklären. Die Seele eines toten Menschen wechselt nicht ins Jenseits, oder so ähnlich. Aber ein Typ aus einem Buch? Wie sollte das funktionieren? Das waren doch nur schwarze Buchstaben auf weißem Papier, die zuvor irgendjemand in einen Computer getippt oder meinetwegen auch mit Tinte irgendwo draufgekritzelt hatte. So oder so, es gab absolut nichts daran, das zum Menschen werden konnte.

»Lord Vinzenz Richard Oswine George Brandfair, wenn Ihr es genau wissen wollt«, meinte der Fremde mit einem müden Lächeln in Leonas Richtung, während er immer noch damit beschäftigt war, sich das Gesicht abzureiben. Jetzt war es eine Mischung aus schwarzem Kohlestift und Glitzer. »Richard nach meinem Urgroßvater, Oswine nach meinem Großvater und das George steht für meinen Vater. Doch Ihr dürft mich Vinz nennen. Vinzenz mutet so ernst an. Und überhaupt, diese Variante mit den vielen Z, geradezu abscheulich. Wieso hat mich die alte Schabracke nicht englisch Vincent genannt? Oder Vince? Ich bin doch Brite! Aber was soll’s. Natürlich könnt Ihr auch Master Vinz sagen, falls Ihr Euch mit einer standesgemäßen Ansprache wohler fühlt. Es liegt bei Euch. Wer ist denn nun meine Leserin?« Aus einem unerfindlichen Grund glotzte er gezielt mich an, als wüsste er sowieso, dass ich vorgelesen hatte. Mir fiel vor Schreck das Buch, mit dem ich ihm eins über die Rübe gezogen hatte, aus den Händen.

»Ah. Ich dachte mir, dass ich Eure Stimme gehört hatte. Wie war doch gleich Euer werter Name?«

»Emma. Der werte Name ist Emma.« Verdammt. Wieso verriet ich ihm das überhaupt?

Ächzend schmierte er sich Glitzer in die Hose. »Nun, Miss Emma, begrüßt Ihr Eure Gäste immer auf diese schmerzhafte Weise? Vielleicht ist es Euch ja nicht bewusst, Ihr habt meiner Wenigkeit durch Euer Vorlesen zu einem Textsprung verholfen. Also bin ich jetzt Euer Gast. Genau genommen bin ich für die Dauer meines Aufenthaltes sogar an Euch gekettet. Seid jedoch völlig unbesorgt, ich bin ein angenehmer Gast. Wenn meine Mutter ansonsten auch wenig Wert auf mich legt, so doch auf meine gute Erziehung. Ich hatte von klein an die beste Gouvernante der britischen Insel, die gute Miss Marple.«

Ja, klar. Und Sherlock Holmes war sein Reitlehrer.

Ich stand im Türrahmen, der in den Kassenbereich führte, und sprach kein Wort. Ganz sicher wollte ich nicht, dass dieser Oberspinner »an mich gekettet« war. Wenn es hoch kam, dann kannte ich den Typen gerade einmal zehn Minuten. Und das reichte mir auch schon. Außerdem ließ sich leider nicht so ganz abstreiten, dass er wirklich zur Beschreibung des bösen Vinzenz passte. Man konnte sich durchaus vorstellen, dass er direkt von einem Maskenball kam. Und zuvor hatte schließlich ausgerechnet das letzte signierte Buch verrücktgespielt. Vielleicht war es tatsächlich kein Zufall, dass kurz darauf dieser Junge aufgetaucht war?

Zwanzig Minuten vor Mitternacht.

Doch das hätte auch bedeutet … Mir war schon wieder ganz schwindelig. Vinzenz war nun mal nicht gerade der Held seiner Geschichte, sondern derjenige, der …

… versuchte, hinter seinem charmanten Grinsen die Dunkelheit seines Charakters zu verbergen. Der es schaffte, den perfekten Gentleman zu spielen, um von seinen wahren Absichten abzulenken …

… der so hart im Nehmen war, dass ihn beim Knutschen nicht einmal Fischmundgeruch störte … und der es nun auf mich abgesehen hatte. Auf mich! Emma Grünwald, die mit diesen Romanen absolut nichts anfangen konnte. Nein, nein, nein. Ganz ruhig bleiben. So ein Schwachsinn. Vielleicht hatte ich mir bei dem Treppensturz heute Morgen einfach nur eine ganz heftige Gehirnerschütterung zugezogen? Ja, das musste es sein! Vinzenz war eine Halluzination. Leider wirkte er dafür aber erschreckend real. Er hatte sogar richtig menschliche Bedürfnisse.

»Habt Ihr ein Wasserklosett?«, riss er mich aus den Gedanken. »Dummerweise vergisst diese abgetakelte Fregatte immer, eine Pinkelpause in die Handlung einzubauen. Ein schreckliches Verhängnis. Vor allem habe ich auf diesem Ball überaus viel Champagner getrunken, ich wollte Esma bezirzen. Ein kleiner Schwips schadet nie, nicht wahr?« Er lachte und schien auf eine Antwort zu warten, doch als diese nicht kam, spitzte er überrascht die Lippen. »Oho. Das Wasserklosett?«

Leona schubste mich leicht an. »Ich glaub, der meint das Klo.«

»D… dort«, stammelte ich heiser, deutete in den Raum hinter der Kasse und beleuchtete mit dem Strahl meiner Handylampe die Bürotür. »Aber das Licht geht nicht.«

»Seid unbesorgt, ich stamme zwar aus dem 19. Jahrhundert, doch wie Ihr wisst, bin ich Zeitreisender und entsprechend im Besitz dieser höchst praktischen neuen Erfindung namens Taschenlampe.« Er atmete erleichtert auf und eilte davon.

Kaum dass er weg war, starrte ich Leona entgeistert an, die mit offenem Mund hinter ihm hersah.

»Leo, was machen wir jetzt?«

»Ich habe nicht den leisesten Schimmer.«

»Wir müssen ihn wieder loswerden, bevor er … er … etwas anstellen kann.«

»Ja.« Leona nickte. »Das ist Vinzenz. Er hat auf jede erdenkliche Weise versucht, Phil den Garaus zu machen. Zum Beispiel mit Gift, Feuer und …«

»Ich will das lieber nicht wissen«, entgegnete ich schnell und hoffte insgeheim immer noch, dass das in Wahrheit ein verdammt langer, abgefahrener Albtraum war, aus dem ich jede Sekunde in meinem Bett liegend aufwachen würde.

Nur irgendwie geschah das nicht und es fühlte sich leider auch nicht wie ein Traum an.

»Möglicherweise löst er sich in Luft auf, wenn es draußen hell wird«, überlegte Leona. »Wie eine Geistererscheinung.«

Zaghaft warf ich einen Blick auf die Uhr. Es war halb eins in der Nacht. Bis zum Sonnenaufgang konnten wir also noch lange warten.

»Emma …« Leona schluckte so laut, dass man es hören konnte. »Was ist, wenn das einer von Vinzenz’ bösen Plänen ist? Er versucht doch, auch andere Jahrhunderte zu bereisen, um der mächtigste Zeitreisende der Welt zu werden. Wer weiß, vielleicht hat er es jetzt mit der Realität versucht …«

Ich sah sie verzweifelt an. »Leo, das ist doch nur eine Geschichte und der Kerl existiert eigentlich gar nicht!« Mein Kopf rauschte. Leider blieb keine Gelegenheit mehr, um sich weiter Gedanken darüber zu machen, denn Vinzenz – oder wer auch immer, aber wenn nicht Vinzenz, wer dann? – kehrte schon zurück. Er schien sein Gesicht gewaschen zu haben, kein Fleck Farbe war mehr darin zu erkennen. In der einen Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen ein dickes Buch. O Mann! Das musste er irgendwo im Büro mitgehen lassen haben! »Gib das sofort zurück. Du darfst hier nichts anfassen«, rief ich entgeistert.

Vinzenz betrachtete es nachdenklich. »Ein Lexikon. Hättet Ihr die Güte, es mir zu leihen? Ich muss diese Welt näher verstehen.«

»Dann fang mal mit dem Sprechen an. Kein Teenager redet so schwülstig daher wie du.« Ich riss ihm das Lexikon aus der Hand. Bestimmt würde ich ihm nicht erlauben, einfach die Ware meines Vaters einzustecken.

»Nun, Ihr vergesst, meine Wenigkeit stammt aus dem Jahre 1880. Das lässt sich nicht ändern, meine Autorin wollte es so«, antwortete Vinzenz.

»Du meinst Hannah Ruderer?«, fragte ich. Wenn das wirklich kein Traum war, dann hatte dieser Typ ganz gewaltig einen an der Klatsche. Oder ich. Aber selbst wenn es ein Traum war, hatte ich anscheinend nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sonst würde sich mein Unterbewusstsein kaum so einen Unsinn ausdenken.

»Genau die.« Vinzenz verschränkte die Arme vor der Brust und wippte mit dem linken Fuß. »Ist Euch die Gute näher bekannt, werte Miss Emma?«

Die Sache mit der normalen Sprache schien er jedenfalls schon mal nicht hinzukriegen.

»Wir haben sie heute gesehen«, sagte ich. »Sie ist berühmt.«

»Ach?« Vinzenz wirkte ernsthaft überrascht.

»Na ja … sie hat schon Preise bekommen.«

»Tatsächlich? Wieso? Hat sie das Epsom-Derby gewonnen? Wohl kaum. Bei diesem fragwürdigen Verständnis für Pferde, wäre sie lange vor dem Startschuss aus dem Sattel gekippt. Sie hat mich in Band eins rücklings auf einem Shetlandpony reiten lassen. Wieso beim Popel der Queen sollte ich etwas derart Dummes tun? Nun, mit welcher Leistung hat sich diese Person also einen Preis verdient?«

»Ähm … sie hat euch gemacht?«, meinte ich irritiert.

Vinzenz hob perplex eine seiner dichten, schwarzen Brauen. »Ein Preis für meine Wenigkeit? Oho.«

»Eher für euch alle. Esmeralda, Phil und …«

»Phil«, knurrte Vinzenz. »Herzlichen Dank, ich habe genug gehört.« Unvermittelt drehte er sich um und verschwand im anderen Raum. Es klang, als würde er sich auf den Drehstuhl hinter der Kasse plumpsen lassen. Auch nach einigen Minuten kehrte er nicht mehr zurück.

»Was hat er denn jetzt?«, raunte ich Leona zu.

»Er kann Phil nicht leiden«, erklärte sie. »Sonst hätte er nicht ständig versucht, ihn abzumurksen. Obwohl ich ein bisschen komisch finde, dass Vinzenz so … na ja, ich hätte ihn mir noch viel wütender vorgestellt.«

»Ist bestimmt besser so. Lassen wir ihn einfach in Ruhe schmollen und warten hier, bis mein Vater den Laden öffnet. Morgen ist der Spuk ja hoffentlich vorbei und Vinzenz wieder in seinem Roman. Wir dürfen nur nicht einschlafen, damit er uns nichts antun kann. Eine von uns beiden muss immer Wache halten.«

Leona lachte nervös auf. »Ich schlafe sicher nicht ein, solange dieser Typ nebenan sitzt.«

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