Читать книгу Booklove - Daphne Mahr - Страница 6
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»Ich zittere jetzt schon vor Aufregung.« Leona hielt mir ihre ausgestreckte Hand mit den abgeknabberten, schwarz lackierten Fingernägeln unter die Nase. »Ist das ein Traum? Schlafe ich noch? Emma, zwick mich mal.«
Es war kurz vor achtzehn Uhr, wir hatten es uns in der letzten Stuhlreihe gemütlich gemacht. Zwei Stunden hatte ich gebraucht, um den Raum für heute Abend in Schuss zu bringen. Hin und wieder waren Kunden durch die bereits ordentlich zurechtgerückten Reihen spaziert und hatten alles durcheinandergebracht, aber jetzt war es geschafft. Die viele Arbeit hatte mir dabei geholfen, nicht mehr an den Thriller denken zu müssen. Wirklich widerlich, was man in so einem Staubsauger alles findet – von rosaroten Kinderhaargummis, halbgelutschten Pfefferminzbonbons bis zu Giacomo Casanovas Hundehaaren. Und neuerdings eben auch einen verbogenen Thriller. Mein Plan lautete, Pa zu erzählen, Philippa hätte das Buch versehentlich aufgesaugt. Das hätte zwei Vorteile mit sich gebracht: erstens Ärger für Philippa (die konnte ich sowieso nicht leiden), zweitens keinen Ärger für mich. Allerdings waren mir, noch während ich mit den Händen in diesem superekeligen Staubhaufen gewühlt hatte, bereits die ersten Zweifel gekommen. Wirklich glaubwürdig klang das alles ja nicht gerade, denn wie sollte der fette Schinken durch das Saugrohr gepasst haben …? Blöderweise blieb keine Zeit, den Plan zu perfektionieren. Mit jeder verstreichenden Minute wurde die Anspannung größer. Um in Ruhe letzte Vorbereitungen für die Veranstaltung treffen zu können, hatte Pa vorübergehend den Laden geschlossen. Doch jetzt war es fast achtzehn Uhr. Bald würde die Menschenmasse, die sich bereits den halben Nachmittag draußen auf der Kopfsteinpflasterstraße vor dem Eingang tummelte, hereinströmen.
»Nein, Leo, das ist die Realität«, brummte ich genervt. Sie erzählte mir jetzt bestimmt schon zum hundertsten Mal, wie aufgeregt sie war. »Und wenn nicht, dann ist es ein Albtraum. Mein Tag war der absolute Horror. Mir tut jetzt noch alles weh!« Ich rieb mir den Rücken dort, wo ich beinahe von dem Thriller gepfählt worden war. Bestimmt prangte an dieser Stelle bereits ein blauer Fleck in der Größe einer Wassermelone.
Leona schenkte mir ein mitleidiges Lächeln. Sie trug ihre rabenschwarz gefärbten Haare heute zu einem knubbeligen Dutt hochgesteckt, aus dem links und rechts einzelne Strähnen ragten, und blinzelte mir durch die Gläser ihrer eckigen Brille mit den breiten Rändern entgegen. Wie immer wurden ihre smaragdgrünen Augen von einem dicken, schwarzen Kajal umrahmt, seit ein paar Wochen durchlebte Leona nämlich ihre »schwarze Phase«. So nannte Pa das zumindest jedes Mal, wenn er sie zu Gesicht bekam. Es bedeutete nicht nur, dass Leona sich schwarz schminkte, sondern auch nur noch schwarze Kleidung trug. Heute war es ein pechschwarzes Kleid, das bis knapp über die Knie reichte. Ihre Füße steckten in plumpen Doc Martens mit rosa Blümchenaufdruck, der einzige Farbklecks an ihrem Outfit. Sie sah ein bisschen aus wie Grufti-Schneewittchen.
»Hast du den ersten Band dann doch noch bis zum Ende gelesen?«, lenkte Leona ungerührt von meiner Verletzung ab und schob sich dabei einen Kaugummi in den Mund. Ein erfrischender Pfefferminzgeruch verbreitete sich. Das bisschen Mitleid, das sie eine Sekunde gezeigt hatte, war wohl schon wieder verflogen.
»Die Frage meinst du wohl nicht ernst?« Ich gähnte demonstrativ.
»Eigentlich schon.«
»Du weißt doch, dass ich den ersten Teil abgebrochen habe, als Esmeralda im Ententeich mit Phil geknutscht hat. Ich wusste bereits vier Kapitel früher, was aus den beiden wird. Und ich hasse es, wenn Storys so vorhersehbar sind.«
»Du kannst das gar nicht wissen, weil es noch nicht mal am Schluss von Band zwei geklärt wurde«, entgegnete Leona. »Wir erfahren es erst heute. Außerdem war es ein Badeteich!«
Sie pustete eine Kaugummiblase und ließ sie mit einem lauten Knall wieder platzen.
»Dann verrate ich es dir gerne schon einmal.« Ich lehnte mich lässig zurück und sah meiner Freundin direkt in die Augen. »Esmeralda und Phil werden nach Möglichkeit A: heiraten, natürlich erst, nachdem sie herausgefunden haben, dass doch auch Esmeralda durch den Zeitschrank gehen kann, weil die Zeitreisefähigkeit bei zu viel Körperkontakt ansteckend wirkt und sie in der Lage ist, eine umgedrehte Zeitschleuse zwischen dem einundzwanzigsten und dem neunzehnten Jahrhundert zu öffnen. Oder Möglichkeit B: gemeinsam durchbrennen, weil Phil dem Streit mit Vinzenz entkommen möchte. Möglichkeit B hat allerdings dann auch wieder Möglichkeit A zur Folge. Es besteht aber auch noch eine winzige Chance auf Lösung C: Sie sterben. Mein Favorit, dann gibt es nämlich sicher keine Fortsetzung. Passiert aber leider nicht, weil es ein Happy End geben muss.«
»Schwachsinn.«
»Du wirst schon sehen. Vielleicht bekommt Esmeralda aber auch noch vorher ein magisches Zeitreisebaby. Das wird der Protagonist vom vierten Band.«
»So ein Quatsch.« Leona stupste mich gegen die Schulter. »Esma ist fünfzehn! Und es muss sich jetzt erst einmal klären, wie die Sache zwischen ihr und dieser rätselhaften Ballbegleitung weitergeht.«
Ach ja. Das hatte ich glatt vergessen. Der miese Cliffhanger von Band zwei, bei dem Esmeralda auf einem Maskenball von einem geheimnisvollen Jungen – bei dem es sich nur um Oberfiesling Vinzenz handeln konnte – zu einem Tanz verführt worden war.
Leona hatte sich tagelang darüber aufgeregt, wie die Autorin ihren Fans so ein gemeines Ende hatte antun können, wenn sie doch genau wusste, dass die ein Jahr auf die Fortsetzung warten mussten.
»Ich hätte auch gern so ein aufregendes Leben wie Esmeralda, vielleicht sollte ich nächsten Sommer Au-pair in England werden«, schwärmte Leona weiter. Sie seufzte verträumt und knabberte am Nagel ihres Daumens, was nicht so klug war, da der Lack dadurch noch mehr bröckelte.
Ich schmunzelte. »Dann müsstest du aber erst der Schminke und den schwarzen Klamotten abschwören, sonst nimmt dich keine versnobte Adelsfamilie. Sie würden dich für eine teufelsanbetende Gruftibraut halten, die sich nachts auf Friedhöfe schleicht, um dort mit den Toten zu sprechen. Kann ja niemand ahnen, was für ein Hosenscheißer du in Wahrheit bist.«
Ausgerechnet in diesem Moment betrat Pa den Raum. Er musterte mich mit kritischer Miene, und es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, weshalb er so übertrieben streng guckte, obwohl er ganz genau wusste, dass Leona und ich nur miteinander herumalberten. Er war nicht alleine.
Das Erste, was ich von ihr wahrnahm, war ein pudriger Rosenduft, der sich innerhalb kürzester Zeit im ganzen Raum verbreitete. Ich kannte dieses Parfum von meiner Oma Frieda. Offenbar hatte Hannah Ruderer eine Vorliebe für Alte-Frauen-Parfums. Seltsam für jemanden, der aussah wie Mitte dreißig, romantische Schnulzen schrieb und dann auch noch einen derartig wild gemusterten Blazer über einer knallpinken Bluse mit weißen Tupfen trug. Minnie Maus wäre bestimmt vor Neid erblasst!
Ich konnte fühlen, wie sich Leonas gesamter Körper neben mir anspannte.
Hannah Ruderer stand direkt hinter Pa und hielt einen nagelneuen Mitternachtsroman in ihren Händen. Sie drückte das Buch so fest gegen ihren Oberkörper, als hätte sie Angst, es würde jede Minute runterfallen. Dabei musterte sie uns neugierig mit ihren dunkelbraunen Augen.
»Sind das die Mädchen, Cornelius?« Ihre Stimme hatte einen zuckersüßen Klang. Viel zu süß für meinen Geschmack. Wie jemand, der davon ablenken möchte, dass er eigentlich irgendeinen ganz bösen Plan verfolgt. Das machte mich sofort misstrauisch.
Wieso nannte sie Pa überhaupt ›Cornelius‹? Normalerweise taten Geschäftskontakte das nicht. Und wieso hatte er ihr von Leona und mir erzählt? Obwohl sich natürlich eigentlich viel mehr die Frage stellte, was Pa ihr gesagt hatte.
Gut, was Leona betraf, gab es da schon einige Dinge, die bestimmt nützlich waren, wenn man sich bei Hannah Ruderer einschleimen wollte. Mir fielen auf Anhieb hundert Sachen ein: Der größte Fan, den die Welt jemals gesehen hat, hat die ersten beiden Bände schon so häufig gelesen, dass sie selbst nicht mehr sagen konnte, wie viele Male es nun wirklich gewesen waren, und, und, und … Aber über mich?
Pa neigte sich zu Hannah Ruderers Ohr. »Ja, jetzt lernst du meine Emma kennen.«
Huch. Was hatte das denn zu bedeuten? Vermutlich hätte ich dieses Getuschel gar nicht hören sollen, so verschwörerisch klang es. Doch Heimlichtuerei war noch nie Pas Stärke gewesen. Schon als Vierjährige war mir keines seiner Geheimnisse entgangen, weshalb Weihnachten, Ostern und meine Geburtstage immer ein bisschen langweilig gewesen waren. Auf der anderen Seite mochte ich Überraschungen sowieso nicht.
»Wie aufregend«, machte Hannah Ruderer meine Verwirrung noch schlimmer.
Im Gegensatz zu Pa versuchte sie gar nicht erst zu flüstern. Ihr Blick durchbohrte mich, als wäre ich ein besonders wertvoller Gegenstand – zum Beispiel die letzte Zitrone auf Erden, die sie sich dringend in den Tee pressen wollte.
Ich spielte bereits mit dem Gedanken, mich aus dem Staub zu machen – die Sache wurde mir langsam, aber sicher zu bunt –, als sie näher kam und sich völlig unvermittelt direkt neben Leona und mich auf einen der Klappstühle plumpsen ließ. »Ach.« Sie sah uns an und schälte ihre Füße aus den rosaroten Pumps. »Diese Schuhe bringen mich um.«
Kein Wunder. Das waren ja echt Mörderabsätze!
Verwundert beobachtete ich, wie sie ihre Beine lässig auf die Lehne des vorderen Stuhles platzierte und sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, zurücklehnte. »Herrlich.« Jetzt wackelte sie zufrieden mit ihren großen Zehen herum. Ihre dunkelroten Nägel waren absolut perfekt lackiert, so bekam das bestimmt nur eine professionelle Pediküre hin.
»Seid ihr so nervös wie ich? Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan«, sagte sie. »Es ist immer wieder eine Zerreißprobe für mich, bis ich die Reaktionen meiner Leser kenne. Wer weiß, vielleicht werdet ihr mich nach diesem Band alle hassen?« Sie lachte leise.
Was sollte ich darauf erwidern? Ich konnte Hannah Ruderer schlecht sagen, dass sie sich, was meine Meinung zu ihren Texten betraf, keine Sorgen machen brauchte, da ich ihre Geschichten schon immer gehasst hatte und für den Rest meines Lebens hassen würde. Und zwar, weil sie nicht nur unrealistisch, einfallslos und kitschig waren, sondern auch vor Klischees nur so trieften.
Deshalb verpasste ich Leona einen sanften Seitenhieb mit dem Ellenbogen. Es war besser, wenn sie das Sprechen übernahm.
»S… solange Esmeralda nicht mit Vinzenz zusammenkommt«, stammelte sie heiser.
»Mmmh.« Hannah Ruderer ließ die Stirnfalten tanzen. »Das wäre schlimm, nicht wahr? Wir werden sehen.«
»Aber …«, setzte Leona an, doch sie konnte nicht aussprechen, weil Pa ihr zuvorkam.
Er tippte unruhig auf seine Armbanduhr. »Hannah, hättest du etwas dagegen, wenn wir langsam anfangen? Es ist schon fünf vor. Sonst zertrümmern mir deine Fans am Ende noch das Schaufenster.«
»So spät?« Hannah Ruderer rutschte mit den Beinen von der Lehne des Stuhles, im Aufstehen strich sie sich den zerknitterten Blazer glatt. »Na gut, lasst uns loslegen. Schade, ich hätte mich gerne noch ein bisschen mit den Mädchen unterhalten. Das holen wir nach, okay?« Ein breites Lächeln bildete sich auf ihren Lippen.
Ich brummte ein verhaltenes »Mhm«, was glücklicherweise niemand hören konnte, da Leona mich mit einem lautstarken »Jaaa, das wäre so krass!« übertönte.
Hannah Ruderer nickte. »Wird gemacht. Ach, ihr zwei Süßen, zieht niemals Schuhe an, die ihr vorher noch nie getragen habt. Das ist absolut tödlich.« Sie schaukelte abwägend mit dem Kopf. »Ich werde wohl barfuß lesen müssen.«
Der Raum war rappelvoll mit Leuten, es waren mehr, als eigentlich in die Buchhandlung passten. Viele mussten stehen oder hockten auf dem Fußboden. Ich weiß nicht, ob der Laden schon jemals zuvor so viele Menschen gesehen hatte. Aber dieses unfreiwillige Gruppenkuscheln schien kaum jemanden zu stören.
Ich rutschte mit dem Oberkörper ein wenig tiefer und musterte Hannah Ruderer kritisch. Unter dem Tisch konnte man deutlich ihre übereinandergeschlagenen, nackten Füße erkennen, mit denen sie immer wieder herumwackelte.
Dabei war sie die ganze Zeit damit beschäftigt, das kleine Mikrofon vor sich zurechtzurücken. Als es endlich ihrer Vorstellung entsprach, goss sie sich Wasser in ein Glas.
Auf Pas Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Hier drinnen war es durch die vielen Menschen aber auch echt so heiß wie in einer Sauna.
Nachdem er sich einige Male mit einem Stofftaschentuch das Gesicht abgetupft hatte, griff Pa ebenfalls nach einem Mikrofon, beugte sich nach unten und flüsterte Hannah Ruderer irgendwas ins Ohr. Sie lächelte ihn an und nickte. Ich bekam das komische Gefühl, ihre Augen wären dabei für eine Sekunde in meine Richtung gewandert. Zugegeben, in diesem Moment hätte ich schon gerne gewusst, was die beiden da Wichtiges zu tuscheln hatten. Es wirkte so geheimnisvoll, als würden sie einen Plan aushecken. In Wirklichkeit ging es wahrscheinlich nur um total langweiliges Zeug, die Lautstärke des Mikrofons oder so.
Dann begann Pa mit einer Vorstellung der Autorin. Ziemlich überflüssig. Wahrscheinlich wusste jeder Anwesende, wer Hannah Ruderer war. Aber anscheinend störte es auch niemanden, noch einmal aufgezählt zu bekommen, welche Meilensteine sie im Laufe ihrer Karriere schon erreicht hatte.
»Es ist mir eine große Freude, diesen außergewöhnlichen Gast bei uns begrüßen zu dürfen. Bitte einen großen Applaus für die einzigartige, tolle, wunderbare Hannah Ruderer«, beendete Pa nach gefühlt fünfundneunzig Minuten seine Lobeshymne. Mir war jetzt schon sterbenslangweilig.
Die Leute applaudierten. Ich klatschte ein bisschen mit, aber eigentlich nur, weil ich nicht auffallen wollte. Außerdem konnte ich bei Leos Begeisterung direkt neben mir gar nicht anders. Nach dieser persönlichen Begegnung zuvor war sie innerhalb von nur wenigen Sekunden vom Mega-Fan zum Hyper-Fan mutiert. Soweit das überhaupt noch möglich gewesen war.
»Hannah ist selbstverständlich nicht ohne Anlass zu uns gekommen«, nahm Pa seine Rede wieder auf. »Heute ist ein ganz besonderer Tag.«
»O ja, und wie!«, pflichtete Hannah Ruderer ihm strahlend bei. Wieder hatte ich das Gefühl, ihr Blick würde sich auf mich richten. Mann, warum machte sie das die ganze Zeit?
Pa lächelte ins Publikum. »Wir feiern gemeinsam das Erscheinen des großen Finales der grandiosen Romantrilogie Zwanzig Minuten vor Mitternacht – und da ich sicher bin, dass ihr alle kaum erwarten könnt, wie es mit Phil und Esmeralda weitergeht, will ich euch gar nicht länger auf die Folter spannen. Hannah, der Abend gehört dir.«
Sie bedankte sich in ihrer zuckersüßen »Ich tu ganz freundlich, aber werde euch anschließend alle töten«-Tonlage für die nette Vorstellung, bevor sie das vor ihr liegende Buch irgendwo in der Mitte aufklappte und mit einem verschwörerischen Lächeln sagte: »Ihr wisst noch, dass Esmeralda am Ende von Band zwei gemeinsam mit einem geheimnisvollen Jungen mit düsterer, venezianischer Maske auf den traditionellen Sommernachtsball der Familie Brandfair gegangen ist. Und wir alle können ahnen, wer das war. Esmeralda findet es kurz nach dem Tanz ebenfalls heraus. Was auf dem Ball passiert, müsst ihr selbst lesen. Aber eines, das kann ich euch verraten«, sie begann zu flüstern, »Esmeralda zerfrisst das schlechte Gewissen.«
Ich rollte unauffällig mit den Augen. Was denn sonst? War doch klar, dass sie mit dem »geheimnisvollen Jungen« (also Vinzenz) herumgeknutscht hatte, nur damit im dritten Band nun für mindestens die ersten hundert Seiten ordentlich Drama herrschen konnte.
Hannah Ruderer trank einen Schluck, bevor sie loslegte. Ihre Lesestimme war ein leises Säuseln, wahrscheinlich sollte das die Romantik fördern. Während sie sprach, wackelten die Spitzen ihres hellbraunen Bobs so sehr hin und her, dass sie gegen ihr Kinn stießen. Das kitzelte schon alleine beim Zusehen.
Ich merkte, wie Leona immer stiller wurde. Eigentlich war ich nicht einmal sicher, ob sie vor lauter Spannung nicht völlig zu atmen vergaß.
Phil saß gegenüber, zerschnitt das Stück Truthahn auf seinem Teller und hob immer wieder den Blick. Esmeralda war wie elektrisiert. Seine wunderschönen, hellblauen Augen funkelten. Die Bilder ihres gemeinsamen Augenblicks im Badeteich schlichen sich in ihren Kopf. Wie sollte sie ihm nur sagen, dass sie mit Vinzenz getanzt hatte? Er würde ihr das niemals verzeihen. Aber sie wusste ja nicht einmal, ob sie selbst jemals wieder den eigenen Anblick im Spiegel ertragen konnte. Ihr Herz war zerrissen. Diese beiden Jungen brachten sie mit der Magie, die sie glitzernd umspielte, völlig um den Verstand. Esmeralda fühlte eine Sehnsucht in dem Ausmaß schierer Unerträglichkeit durch ihren ganzen Körper rasen. Sie wollte Phils Arm über den Tisch hinweg berühren, doch sie wagte es nicht. Sie war sicher, er würde ihre schändliche Begegnung mit Vinzenz einzig und alleine durch das heiße Pulsieren ihrer Fingerspitzen wahrnehmen.
Ich gähnte und beobachtete neugierig die Gesichter im Publikum. Alles war interessanter als Esmeraldas pulsierende Fingerspitzen. Plötzlich erspähte ich den alten Mann mit dem Monokel in der ersten Reihe. Verwundert kniff ich die Augen zusammen. Er hielt ein Notizbuch mit braunem Ledereinband auf seinem Schoß und schrieb konzentriert etwas hinein. Wer ging denn auf eine Lesung, um selbst zu schreiben? Oder notierte er sich etwa jedes Wort mit?
Ich tippte Leona am Oberarm an. »Schau mal, der alte Typ da vorne, der mit dem Monokel …«
Leona reckte den Kopf und musterte ihn flüchtig.
»Was soll mit ihm sein?«
»Der war heute schon mal bei uns. Was macht der da?«
Leo zuckte mit den Achseln. »Wer weiß, vielleicht gehört er zu Hannah Ruderer. Da muss er eben was aufschreiben.«
»Und was?«
»Weiß ich doch nicht, könnte ihr Imageberater sein.«
»Imageberater? Haben so was nicht nur Politiker? Außerdem würde ich ihr eher eine Stilberatung empfehlen.«
Leona winkte ab. »Ist doch egal. Vielleicht ist er ja auch ein Journalist, immerhin geht es hier um etwas.«
»Den Eindruck hat er am Vormittag aber nicht gemacht.« Ich stützte die Ellenbogen seufzend auf meine Oberschenkel und schaute wieder nach vorne. Pa sah mit gerunzelter Stirn zu mir. Er war wohl ein bisschen böse, dass ich während der Lesung herumtuschelte. Wie immer erwartete er, dass ich diese Angelegenheit als eine echte Grünwald besonders ernst nahm. Aber das tat ich ja auch! Wenigstens fiel mir, im Gegensatz zu allen anderen, das kuriose Benehmen dieses Mannes auf. Die gesamte Lesung hindurch ließ er nicht ein einziges Mal von seinen Notizen ab. Erst als Hannah Ruderer das Buch zuschlug (endlich!!!) und verkündete, nun Exemplare zu signieren, unterbrach er sein konzentriertes Schreiben und der Notizblock verschwand in seiner Manteltasche. Die musste ganz schön geräumig sein, mindestens so sehr wie der Koffer von Mary Poppins, denn nicht einmal eine winzige Ecke des Ledereinbands schaute noch heraus.
Gespannt verfolgte ich, wie der alte Mann sich erhob. Jedoch reihte er sich nicht in die Schlange von Mädchen ein, die aufgeregt darauf warteten, der Autorin ihrer Lieblingsgeschichte ganz nahe zu kommen und ein Autogramm zu ergattern, sondern eilte stattdessen aus dem Raum.
Sofort sprang ich von meinem Sitzplatz auf und wirbelte herum. Die Menschenmasse verstellte mir die Sicht, sodass ich unmöglich erkennen konnte, ob er dabei war, die Buchhandlung zu verlassen.
Ich lief erst mal zu Leona, die sich natürlich längst in der Warteschlange eingereiht hatte, und packte ihren Arm. »Schnell, wir müssen ihm hinterher!«
Leona zuckte erschrocken zusammen. »Was? Wem?«
»Dem alten Opa! Er ist gerade abgehauen.«
»Vielleicht geht er ja auf die Toilette? Alte Leute müssen ständig«, mutmaßte Leona. »Zum Beispiel mein Großonkel Albert. Der hält es bei keiner Familienfeier länger als eine halbe Stunde aus. Obwohl ich mir bei ihm nicht sicher bin, ob er nicht nur versucht, sich vor Papas Reden zu drü…«
»Komm jetzt.« Ich hatte nun wirklich keine Nerven für weitere Diskussionen. Es war offensichtlich, dass hier etwas nicht stimmte. Also zog ich Leona einfach mit mir, was das Mädchen, das hinter ihr anstand, sofort ausnutzte, um einen Schritt vorzurücken. Leona registrierte das mit einem wütenden Blitzen in den Augen. »Wenn das eine von deinen Spinnereien ist, dann bist du mir mindestens fünf Schokomuffins schuldig«, drohte sie mir. »So wie vor den Ferien, als du dachtest, unser Direktor wäre ein Dealer, und wir deinetwegen Mathe verpasst haben. Verdammt, Mathe! Kein Wunder, dass ich mit Pickel-Tommy auf den Ball gehen muss. Wenn ich noch einmal eine schlechte Note in Mathe bekomme, kündigt Mama das Netflix-Abo.«
Ich reagierte gar nicht auf ihre Einwände, denn ich hatte längst entdeckt, dass die Bürotür hinter der Kasse einen Spalt offen stand.
»Der Kerl ist ins Büro!«, japste ich.