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2. KAPITEL Jim Lovells magischer Teppich

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Charles Darwin (1809–1882) schrieb, »dass der Mensch mit allen seinen hohen Eigenschaften noch immer in seinem Körper den unauslöschlichen Stempel seines niederen Ursprungs trägt«.1 Doch sogar Darwin würde darüber staunen, dass unsere Augen derselben uralten Abstammung sind wie die der Würfelqualle, des Tintenfischs, der Spinnen und Insekten.2

Das unerbittliche Versuchsfeld der natürlichen Selektion hat über Hunderte Millionen Jahre jene Augen und Gehirne entstehen lassen, die es uns (und anderen Spezies) ermöglichen, mühelos diejenigen Dinge wahrzunehmen, die wir wirklich sehen müssen – und uns an sie zu erinnern. Dank ihrer Augen können Lebewesen nicht nur Nahrung und Partner finden sowie Gefahren umgehen; anders als die übrigen Sinnesorgane liefern sie zudem außergewöhnlich detaillierte Informationen über nahe wie ferne Gegenstände. Für viele Tiere sind die Augen das wichtigste Orientierungshilfsmittel, und wir Menschen benutzen sie ständig, um uns zurechtzufinden.

Verglichen mit vielen anderen Lebewesen ist der typische urbane Mensch kein besonders begabter Navigator, doch mit ein wenig Übung können sich die meisten Stadtbewohner anhand von markanten Punkten ziemlich gut orientieren. Unser visuelles Gedächtnis funktioniert im Grunde einwandfrei – wenn wir uns Mühe geben. Wir können uns beispielsweise an mindestens zehntausend Bilder erinnern, die wir nur ein Mal kurz gesehen haben.3

Selbst leistungsstarke Computer können da kaum mithalten. Sie so zu programmieren, dass sie recht einfache Aufgaben der visuellen Erkennung ausführen können, hat sich als äußerst schwierig erwiesen. Ein Computer, der zwei Fotos von Ihrem Haus miteinander vergleichen soll – eines zeigt es an einem sonnigen Morgen, das andere in einer verregneten Nacht –, wird sich schwertun, Übereinstimmungen zu finden. Bereits die veränderte Position eines Schattens oder eine unvermittelte, helle Reflexion eines Fensters reicht aus, um ihn heillos zu verwirren. Reine Rechenleistung ist nicht die Antwort, zumindest nicht die ganze. Ein Supercomputer hat Probleme mit visueller Erkennung, es sei denn, er lernt – wie der Mensch –, sich auf konstante und relevante Merkmale zu konzentrieren und jegliches optische »Rauschen« auszuklammern. »Maschinelles Sehen« ist immer noch für einfache Fehler anfällig, die dem Menschen nie unterlaufen würden; Unfälle mit fahrerlosen Autos haben das nur allzu deutlich gezeigt.

Wir wissen alle, wie markante Orientierungspunkte typischerweise aussehen – zum Beispiel der Eiffelturm oder der Hollywood-Schriftzug in Los Angeles. Aber manchmal haben sie ganz unterschiedliche und sogar überraschende Formen. Sie können so groß sein wie der Lake Michigan und die Cheopspyramide oder auch so klein wie ein einzelner Fußabdruck. Eine Route mag absichtlich markiert sein, indem etwa Kieselsteine ausgestreut (wie in Der kleine Däumling) oder mit einem Beil Wegmarkierungen in die Rinde von Bäumen geschlagen wurden. Das Garnknäuel, das Theseus von Ariadne bekam, kann man als eine Art erweitertes Orientierungszeichen betrachten, das den Helden sicher aus dem Labyrinth hinausführte.

Visuelle Orientierungspunkte können nicht nur ein Ziel kennzeichnen oder als Wegmarken entlang einer Route dienen, sondern auch wertvolle Informationen bezüglich Richtungen liefern. Nehmen wir als Beispiel die Freiheitsstatue im Hafen von New York: Weil ihre Figur nicht symmetrisch ist, lässt sich nach der Form ihrer Silhouette die Richtung bestimmen, aus der man sie sieht.

Ein guter Orientierungspunkt zeichnet sich offenkundig vor allem dadurch aus, dass er deutlich hervorsticht und lang genug an Ort und Stelle bleibt, um seinen Zweck zu erfüllen. Doch kurioserweise muss es sich nicht unbedingt um einen massiven Gegenstand handeln.

In dem Film Apollo 13 befindet sich der Astronaut Jim Lovell, gespielt von Tom Hanks, auf seiner Raumfahrtmission zum Mond in großer Gefahr. Zu Hause auf der Erde tröstet sich seine besorgte Frau mit einem alten Fersehinterview, in dem Lovell erzählt, wie er in den 1950er-Jahren als junger Marineflieger von einem Flugzeugträger zu einem Lufteinsatz über dem Japanischen Meer gestartet war. Es war Nacht, und er hatte fast keinen Kraftstoff mehr; wenn er nicht bald sein Mutterschiff ortete, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf dem »großen schwarzen Ozean« notzulanden. Von dem Flugzeugträger waren jedoch keine Lichter zu sehen, Lovells Radar war ausgefallen, und das Anflugfunkfeuer des Schiffs wurde unglücklicherweise von einem Lokalsender gestört.

Als Lovell die Cockpitbeleuchtung anschalten wollte, um eine Karte zurate zu ziehen, gab es in der Stromanlage einen Kurzschluss, und alle Instrumente fielen aus. Er befand sich nun in vollkommener Dunkelheit und fing an, über eine Notwasserung nachzudenken – ein riskantes Unterfangen, selbst bei Tageslicht. Es muss ein sehr beängstigender Moment gewesen sein. Als er auf das Meer hinabschaute, sah er plötzlich einen langen, leuchtenden »grünen Teppich« aus biolumineszierendem Plankton, der das aufgewühlte Kielwasser jenes Schiffes markierte, das er suchte: »Er führte mich geradewegs nach Hause.« Wenn Lovells Cockpitbeleuchtung nicht ausgefallen wäre, hätte er den Teppich überhaupt nicht entdeckt.

Ein paar indigene Völker haben ihre traditionellen Orientierungsmethoden noch nicht aufgegeben. Während die Seefahrer der pazifischen Inseln stets die Sonne und die Sterne nutzen, verlassen sich die Inuit im hohen Norden hauptsächlich auf Landmarken, um sich zu orientieren – aus dem einfachen Grund, dass sie nicht mit einem klaren Himmel rechnen können. In einigen Gebieten, etwa an den Küsten Grönlands, mangelt es nicht an imposanten natürlichen Gebilden, die aus großer Entfernung zu erkennen sind: Berge, Felsklippen, Gletscher und Fjorde. In Gegenden mit einem einheitlicheren Landschaftsbild errichten die Inuit jedoch eigene Wegweiser, sogenannte Inuksuk. Diese Steingebilde, die menschlichen Figuren ähneln, stehen normalerweise auf Erhebungen und geben die Richtung zu bestimmten wichtigen Orten an.

Laut Claudio Aporta, einem Kenner der Inuit-Kultur, der lange Überlandreisen in der Arktis unternommen hat, sind erfahrene Wegfinder der Inuit mit Tausenden Kilometern angelegter Pfade vertraut und können zahllose Orientierungspunkte entlang dieser Routen wiedererkennen. Vielleicht haben die Inuit ein ungewöhnlich gutes visuelles Gedächtnis, aber sie greifen auch intensiv auf ein Hilfsmittel zurück, das uns allen zur Verfügung steht – das gesprochene Wort:

Da die Inuit auf ihren Reisen oder zur Darstellung geografischer Information keine Karten verwendeten, wurde ihr riesiger Wissensschatz seit undenklichen Zeiten mündlich überliefert und durch Reisen weitergegeben.

Diese mündlichen Schilderungen stützen sich auf »genaue Begriffe zur Beschreibung besonderer Merkmale von Land und Eis, Windrichtungen, Zuständen von Schnee und Eis sowie Ortsnamen«.

Die Reisen der Inuit können extrem beschwerlich sein. Langes Ausharren bei Nebel und Whiteouts sind nicht ungewöhnlich, doch für die ältere Generation, die vor dem Aufkommen des GPS zu navigieren lernte, war »die Vorstellung, sich zu verirren oder sich nicht zurechtzufinden, ohne jede Grundlage, denn in ihrer Erfahrung, Sprache und ihrem Verständnis gab es sie schlichtweg nicht«.4 Diese Menschen sind vollkommen eins mit ihrer Umgebung und ziehen den größtmöglichen Nutzen aus jedem Orientierungshinweis, der ihnen zur Verfügung steht.

Das Gleiche gilt auch für die Aborigines im heutigen Australien. Sie kamen vor ungefähr 50 000 Jahren auf dem Seeweg dorthin und entwickelten, wie die Inuit, ein feines Orientierungsgeschick, das sich hauptsächlich auf Landmarken stützt. Anhand langer, komplexer Gesänge können sie weitläufigen Routen durch das Outback folgen.

Diese Gesänge helfen den Aborigines dabei, Naturmerkmale entlang ihrer Pfade wiederzuerkennen, indem sie mythologische Bilder aus der »Traumzeit« wachrufen. Ein kompetenter (europäischer) Beobachter hat das gekonnt umschrieben: Die Orientierungsmethoden der Aborigines beruhen auf dem »Glauben an eine spirituelle Kraft, die materielle Gegenstände erfasst und ihnen eine zeitlose Bestimmung verleiht, die dem Menschen das Gefühl gibt, irgendwo hinzugehören«.5

Die engen Beziehungen der Aborigines und der Inuit zu ihren heimischen Landschaften werden Stadtbewohner der westlichen Welt wohl nie begreifen können. Doch unsere eigenen entfernten Vorfahren dürften ähnliche Orientierungsmethoden angewandt haben, und es ist ein trauriger Gedanke, dass diese ein für alle Mal in Vergessenheit geraten sind. Daher ist es umso wichtiger, das Wissen jener, die noch über solch außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, zu bewahren.

Einige Menschen sprechen Sprachen, die sie dazu zwingen, ständig zu überdenken, in welche Richtung sie gehen oder sehen. Die australischen Ureinwohner des Stammes Guugu Yimithirr in Queensland – von denen James Cook (1728–1799) offenbar das Wort »Känguru« lernte – benutzen niemals Begriffe wie »links« oder »rechts«. Sie verweisen ausschließlich auf die Himmelsrichtungen. Der Linguist Guy Deutscher beschreibt ihre Sprache wie folgt:

Wenn Sprecher des Guugu Yimithirr möchten, dass jemand in einem Auto zur Seite rückt, um Platz zu machen, dann sagen sie naga-naga manaayi, was »rück ein bisschen nach Osten« bedeutet. […] Als man älteren Stammesmitgliedern auf einem Fernseher einen kurzen Stummfilm zeigte und sie dann aufforderte, die Bewegungen der Protagonisten zu beschreiben, hingen ihre Antworten davon ab, wie der Fernseher gestanden hatte, als sie den Film sahen. Wenn er nach Norden gerichtet war und ein Mann auf dem Bildschirm näher zu kommen schien, sagten die älteren Männer, der Mann »geht nach Norden«. […] Wenn Sie ein Buch lesen und dabei nach Norden blicken und ein Guugu-Yimithirr-Sprecher Sie auffordert vorzublättern, dann wird er sagen »geh weiter nach Osten«; denn die Seiten werden von Osten nach Westen umgeblättert.6

Der Sprachwissenschaftler erklärt weiter:

Wenn Sie Ihre Position kennen müssen, um auch nur die einfachsten Dinge zu verstehen, welche die Leute in Ihrer Umgebung sagen, dann werden Sie die Gewohnheit entwickeln, in jeder einzelnen Sekunde Ihres Lebens die Himmelsrichtungen zu berechnen und sich an sie zu erinnern. Und da diese geistige Gewohnheit schon fast vom Säuglingsalter eingeprägt wird, wird sie dann bald zu einer zweiten Natur werden, mühelos und unbewusst.7

Diese sprachlichen Eigenheiten spiegeln wohl die zentrale Rolle wider, die Orientierung im Alltag der Guugu Yimithirr einnimmt. Für ihr Überleben war es wahrscheinlich unerlässlich, sich ständig der eigenen räumlichen Ausrichtung bewusst zu sein, denn dieses Bewusstsein war und ist in der Struktur ihrer Sprache verankert.

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