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Der Kiefernhäher
ОглавлениеVögel können über weite Strecken fliegen und müssen daher besonders schwierige Navigationsaufgaben bewältigen. Doch sie verfügen über ein erstaunliches Sehvermögen – und verschiedene andere Hilfsmittel. So wie der Mensch manchmal GPS nutzt oder gelegentlich eine Landkarte verwendet, wechseln auch Vögel ganz pragmatisch zwischen den unterschiedlichsten Methoden hin und her.
Die einzelnen Orientierungsmechanismen, auf die Vögel zurückgreifen, sind nur schwer zu durchschauen. Bis heute ist noch vieles ungeklärt – ein großes Dilemma, das alle Zweige der Verhaltensforschung betrifft. Die Ergebnisse von Experimenten mit komplexen Tierarten lassen sich nur selten klar deuten. Man denke nur an Intelligenztests beim Menschen. Wenn ein kleines Kind schlecht abschneidet, muss das nicht unbedingt heißen, dass es nicht besonders klug ist. Vielleicht war es einfach nur nervös, abgelenkt oder sogar gelangweilt – oder der Test war schlecht konzipiert.
Trotz dieser Probleme ist es vollkommen klar, dass die visuelle Wiedererkennung eine für Vögel wichtige Orientierungsmethode darstellt. Ein spezieller Vogel ist ein regelrechtes Genie auf diesem Gebiet.
Der Kiefernhäher gehört der hochintelligenten Familie der Rabenvögel an. Er lebt in den Hochgebirgen im westlichen Nordamerika. Erstmals beschrieben wurde er von William Clark, dem Begleiter von Meriwether Lewis, der Anfang des 19. Jahrhunderts die legendäre Überlandexpedition von St. Lewis zum Pazifik und zurück leitete und unterwegs Karten anfertigte.
Diese Spezies kann die langen, kalten Winter in den Bergen nur überleben, indem sie, ähnlich wie das Eichhörnchen, in den Sommermonaten Samen bunkert. Da der Kiefernhäher alles andere als dumm ist, versteckt er nicht alle an einem einzigen Ort; das wäre viel zu gefährlich, denn andere Tiere (selbst die eigenen Artgenossen) würden sie stehlen, wenn sie die Möglichkeit hätten. Und natürlich müsste der Vogel verhungern, wenn er sein geheimes Lager nicht mehr finden würde.
Es ist erstaunlich, was sich der Kiefernhäher beim Bunkern seiner Vorräte alles einfallen lässt. Er versteckt jeweils nur ein paar Samen an diversen Stellen, die über ein Gebiet von ungefähr 260 Quadratkilometern verteilt sind. Einige vergräbt er beispielsweise an windumtosten Steilhängen, andere in dichten Wäldern oder auf kahlen Berggipfeln. Ein einziger Kiefernhäher kann mehr als 30 000 Samen in nicht weniger als 6000 verschiedenen Verstecken einlagern. Die Vögel müssen in der Lage sein, sich über viele Monate hinweg an diese Orte zu erinnern. Ihr Gedächtnis ist zwar nicht lückenlos, aber sehr beeindruckend, und sicherlich mehr als ausreichend, um in ihrem unwirtlichen Habitat zu überleben.
Das Verhalten des Kiefernhähers beim Anlegen von Samenverstecken veranschaulicht ein wichtiges Grundprinzip, das für die Navigation besonders bedeutsam ist: Die Evolution begünstigt die Entwicklung von Systemen, die »gut genug« und nicht unbedingt perfekt sind. Die Natur selektiert jene Eigenschaften, die es dem Organismus ermöglichen, lange genug zu leben, um sich fortzupflanzen. Es hat keinen Sinn, eine komplexere Methode zu entwickeln, wenn eine einfachere diese Grundanforderung erfüllt – zumal für eine höhere Leistung ein größeres Gehirn erforderlich wäre. Und da der Energiebedarf bei einem größeren Gehirn enorm ist, wäre weit mehr Nahrung nötig, um es zu versorgen. Es zahlt sich folglich nicht aus, ein größeres Gehirn zu haben, als man wirklich braucht.
Man mag sich fragen, ob der Geruchssinn bei dem erstaunlichen Verhalten des Kiefernhähers eine Rolle spielt, doch das scheint nicht der Fall zu sein. Stattdessen prägt sich der Vogel kleinere Orientierungshinweise um jedes der Verstecke ein; er kann sich auch die geometrischen Beziehungen zwischen diesen merken.7 In freier Natur mögen Steine oder Büsche als Erkennungszeichen dienen, aber in Labortests geben sich die Vögel auch mit künstlichen Gegenständen zufrieden. Wenn die Forscher die Zeichen heimlich verändern, dabei aber deren Gesamtmuster beibehalten, suchen die Vögel häufig an der Stelle, die durch die verschobene Anordnung angezeigt wird.
Doch hinter der Methode, mit der Kiefernhäher ihre Verstecke finden, steckt offenbar noch mehr. Die jüngste Forschung deutet darauf hin, dass sich die Vögel eher auf größere, weiter entfernte Landmarken verlassen. Diese dürften aus der Entfernung leichter zu erkennen sein und unterliegen dank ihrer Größe auch weniger den Auswirkungen von Wind und Wetter.8
Es ist noch nicht genau geklärt, auf welche Zeichen die Vögel in freier Natur achten, aber sehr wahrscheinlich nehmen sie hervorstechende Merkmale in der Umgebung ihres Verstecks wahr – etwa Bäume oder große Felsbrocken – und machen vielleicht eine Art »Panoramaschnappschuss« der betreffenden Stelle. Das Auffinden eines Verstecks dürfte also in zwei Schritten erfolgen. Zuerst identifiziert der Vogel die Umgebung durch einen – wie auch immer gearteten – Bildabgleich, wobei größere Landschaftsmerkmale einbezogen werden, um sich dann auf kleinere Objekte zu konzentrieren, die näher am Versteck liegen und dessen genaue Position zu bestimmen helfen.
Seit Tausenden von Jahren hat sich der Mensch das außergewöhnliche Heimfindevermögen der Tauben zunutze gemacht, um Nachrichten schnell und häufig über große Entfernungen zu übersenden. Das Militär hat Tauben seit der Zeit der Römer eingesetzt, wenn nicht schon früher; und diverse Kombattanten haben allein im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende verwendet. Einigen Tauben wurden sogar Tapferkeitsmedaillen verliehen, weil sie unter Feindfeuer zuverlässig Nachrichten überbrachten.
Im Jahr 1815 machte die Rothschild-Bank einer Legende zufolge ein Riesengeschäft, weil sie lange vor den Börsen per Taubenpost vom Ausgang der Schlacht von Waterloo erfuhr. Eine nette Geschichte, die aber wohl jeder Grundlage entbehrt. Allerdings entwickelten die Rothschilds tatsächlich ein Verständigungssystem mittels Brieftauben; es war ab den 1840er-Jahren in Betrieb9, einige Jahre bevor die ersten elektronischen Telegrafensysteme verfügbar waren.
Tauben wurden in großem Umfang eingesetzt, als Paris 1870–1871 von der preußischen Armee belagert wurde. Um sie aus der Stadt zu bringen, nutzte man Ballons, die außer Reichweite des Feindes sicher landeten. Die Tauben wurden gefüttert und durften ausruhen, bevor sie aus eigener Kraft mit mikrofotografischen Nachrichten für die umzingelten Stadtbewohner zurückflogen.
Weil Tauben sehr leicht aufzuziehen sind und (im Gegensatz zu den meisten anderen Vögeln) beinahe jederzeit bereit sind, große Entfernungen zurückzulegen, wurden und werden sie seit Langem verwendet, um unterschiedliche Theorien über das Orientierungsvermögen von Vögeln zu testen. Mithilfe elektronischer Peilsender konnten Forscher in den vergangenen Jahren ihr Heimfindeverhalten sehr detailliert studieren. Es überrascht nicht, dass Tauben sich an visuellen Anhaltspunkten orientieren, allerdings können sie auch erlernten »Kompasskursen« folgen.10
Junge Brieftauben erkunden die Umgebung ihres Schlags gründlich und lernen dabei die räumliche Anordnung des heimischen Landstrichs kennen, häufig über recht weite Gebiete. Die auf diese Weise gesammelten Informationen nützen ihnen nichts, wenn sie sich in einer Gegend wiederfinden, in der sie noch nie zuvor waren; aber sobald sie in vertrautes Gebiet zurückkehren, orientieren sie sich an auffälligen Landschaftsmerkmalen wie Straßen, Bahntrassen und Flüssen. Auf den letzten Abschnitten ihrer Flüge folgen Brieftauben in der Regel gewohnten und nicht immer den direktesten Routen.11 Aber wir sollten uns nicht überlegen fühlen; Brieftauben verhalten sich in dieser Hinsicht wie die Millionen menschlicher Pendler, die als Gewohnheitstiere häufig genau das Gleiche tun.
Den Tauben scheint es leichter zu fallen, eine neue Route zu lernen, wenn die überflogene Landschaft eine gewisse Abwechslung bietet – allerdings nicht zu viel.12 Richard Mann, der Hauptautor der Studie, erklärt das folgendermaßen:
Wenn wir beobachten, wie schnell sie sich unterschiedliche Routen einprägen, erkennen wir, dass visuelle Orientierungspunkte eine entscheidende Rolle spielen. Tauben fällt es schwerer, sich an Routen zu erinnern, wenn die Landschaft zu eintönig ist, wie etwa ein Feld, oder aber zu unruhig, wie ein Wald oder ein dichtes Stadtgebiet. Das Optimum liegt irgendwo dazwischen: relativ offenes Gelände mit einzelnen Hecken, Bäumen oder Gebäuden. Die Grenzgebiete zwischen ländlichen und urbanen Räumen sind ebenfalls günstig.13
Fledermäuse zeichnen sich ebenfalls durch ein erstaunliches Orientierungsgeschick aus. Entgegen der allgemeinen Auffassung sind sie nicht blind; viele verfügen über ein sehr gutes Sehvermögen. Einige wandernde Fledermausarten legen Tausende von Kilometern zurück; für sie ist die Fähigkeit, ferne Landmarken wahrzunehmen, offenbar enorm wichtig.
Vor ein paar Jahren statteten israelische Wissenschaftler Flughunde mit GPS-Peilsendern aus und brachten sie von ihrer heimischen Höhle zu einem etwa 84 Kilometer entfernten Krater in der Wüste. Einige Flughunde wurden am Boden des Kraters freigelassen, andere oben am Rand. Obwohl allen ausgesetzten Tieren die Gegend um den Krater nicht vertraut war, fanden die meisten wieder zurück zu ihrer Höhle.
Beide Flughundgruppen waren dabei gleich erfolgreich, doch zu Beginn ihres Fluges verhielten sie sich recht unterschiedlich. Diejenigen, die auf dem Grund des Kraters freigelassen wurden und die umgebende Landschaft zunächst nicht sehen konnten, waren desorientiert und flogen erst einmal eine Zeit lang im Kreis herum, bevor sie Richtung Heimat steuerten. Die Gruppe, die am Kraterrand ausgesetzt wurde, nahm direkt Kurs auf ihre Höhle. Die Flughunde schienen sich an größeren Landmarken wie fernen Bergen zu orientieren und ihren Standort anhand dieser zu bestimmen – wie ein Wanderer mit Karte und Kompass.14
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Der winzig kleine Streifenwaldsänger fliegt jeden Herbst vom nordöstlichen Nordamerika nach Süden, bis in die Karibik und manchmal sogar bis Kolumbien und Venezuela. Sichtungen an Bord von Schiffen deuteten zwar darauf hin, dass die Zugvögel einer Route folgten, die direkt über den Atlantik führte, doch lange Zeit war unklar, wie lange sie über dem Ozean unterwegs waren. Das Rätsel wurde inzwischen gelöst. Mithilfe extrem kleiner Peilsender haben Wissenschaftler vor Kurzem nachgewiesen, dass die Vögel ohne Unterbrechung von Long Island bis nach Hispaniola oder Puerto Rico fliegen können – eine Entfernung von 2770 Kilometern über das offene Meer.
Selbst wenn sich die Streifenwaldsänger für ihren Wanderzug gemästet haben, wiegen sie normalerweise nur rund 17 Gramm – das entspricht etwa fünfzig Aspirintabletten. Der Rubinkehlkolibri, der nur drei bis vier Gramm wiegt, fliegt zwar auf seiner außergewöhnlichen Wanderung vermutlich über den Golf von Mexiko, doch das entspricht einer Distanz von nur 850 Kilometern. Laut den Autoren der genannten Studie ist der Nonstop-Überseeflug des Streifenwaldsängers »eine der ungewöhnlichsten Wanderleistungen auf dem Planeten«.15