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4. KAPITEL Von Wüstenkriegen und Ameisen

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Bei einer Atlantiküberquerung Richtung England saß ich einmal etliche Tagesetappen von Halifax in Nova Scotia und Hunderte Kilometer von jeglichem Festland entfernt am Steuer einer Jacht, als ein kleiner brauner Vogel aus dem Nichts auftauchte und sich unsicher auf der Reling neben mir niederließ. Er war so erschöpft, dass er nicht versuchte wegzufliegen, als ich mich ihm näherte. Anders als die Eissturmvögel, die mühelos über die Jacht segelten, war dieses arme Geschöpf auf dem Meer offensichtlich nicht zu Hause; doch der Winzling schlug das Angebot von Nahrung und Wasser aus und flatterte schließlich verzweifelt davon. Es könnte durchaus ein Streifenwaldsänger gewesen sein, der durch den Wind von seinem Kurs abgekommen war. Oder er hatte einen verhängnisvollen Navigationsfehler gemacht und war deshalb in die vollkommen falsche Richtung aufgebrochen.

Jeder Navigator, ob Mensch oder Tier, muss als Allererstes sicherstellen, dass er die richtige Richtung einschlägt; hier kommt die Orientierung ins Spiel. Visuelle Zeichen liefern normalerweise die nötigen Hinweise, aber wenn man sich in unvertrautem Terrain aufhält oder auf dem offenen Meer, wo es keine Landmarken gibt, braucht man irgendeine Art von Kompass.

Die Sonne ist nicht immer sichtbar, aber sie geht zuverlässig im Osten auf und im Westen unter. Wenn sie am Mittag ihren höchsten Stand erreicht, steht sie vom Betrachter aus immer entweder genau im Norden oder genau im Süden; in den Tropen manchmal auch senkrecht über ihm.1 Zumindest theoretisch könnte man also anhand der Sonne feststellen, in welche Richtung man blickt oder geht.


Typische Sonnenläufe während des Tages auf der nördlichen Halbkugel (mittlerer Breitengrad)

Allerdings ergibt es keinen geradlinigen Kurs, wenn man die Sonne als Kompass nutzt. Während sich die Erde um ihre Achse dreht, zeichnet die Sonne einen Bogen über den Himmel; die Punkte am Horizont, an denen sie auf- beziehungsweise untergeht, und die Höhe des Laufs, dem sie folgt, hängen von der Jahreszeit und dem Breitengrad ab. In den Tropen geht die Sonne beispielsweise am Vormittag fast senkrecht auf und am Nachmittag ebenso senkrecht wieder unter. In mittleren Breiten hingegen beschreibt sie eine längere und tiefere Bahn über den Himmel.2 Und in Polarregionen bleibt die Sonne monatelang entweder über dem Horizont (dann spricht man von der Mitternachtssonne) oder aber darunter.

Der Lauf der Sonne über den Himmel wird nach dem sich verändernden Azimut bestimmt – dem Winkel zwischen rechtweisend Nord und dem Punkt am Horizont, der senkrecht unter ihr liegt.

Angenommen, Sie sind in England, es ist September, und Sie wollen wie eine Schwalbe nach Süden ziehen. Was passiert, wenn Sie Ihren Kurs nach der Sonne ausrichten? Nehmen wir an, dass Sie bei Tagesanbruch mit der Sonne zu Ihrer Linken aufbrechen (Azimut 90 Grad) und somit in die richtige Richtung starten. Doch während der Tag fortschreitet und sich der Azimut der Sonne allmählich ändert, krümmt sich Ihr Kurs nach rechts. Steht die Sonne am Mittag genau im Süden (Azimut 180 Grad), würden Sie nach Westen gehen; und wenn sie am Abend im Westen untergeht, bewegen Sie sich plötzlich in nördliche Richtung. Sie sind faktisch einem annähernd u-förmigen Kurs gefolgt – kein besonders befriedigendes Ergebnis.

Nur indem Sie den konstant sich verändernden Azimut der Sonne berücksichtigen, können Sie darauf hoffen, dass ihre Route geradlinig verläuft. Aber wie funktioniert das?

Die Lösung liefert der sogenannte Sonnenkompass mit Zeitausgleich. Es mag vielleicht überraschen, doch dieses Instrument hat den Verlauf des Zweiten Weltkriegs beeinflusst.

Nach dem Fall Frankreichs im Jahr 1940 drohte die britische Armee in Ägypten von einer weit überlegenen italienischen Streitkraft überrollt zu werden, die im Westen, in Libyen, stationiert war. Der Verlust sowohl Ägyptens als auch des gesamten Nahen Ostens schien damals kurz bevorzustehen. Ohne einen weiterhin gesicherten Zugang zum Sueskanal und zu den irakischen Ölfeldern hätte Großbritannien mit einer Niederlage rechnen müssen. Die Achsenmächte wären dann unbesiegbar gewesen, und die Weltgeschichte hätte einen gänzlich anderen Verlauf genommen.

In diesem kritischen Moment traf ein bemerkenswerter Mann namens Ralph Bagnold (1896–1990) rein zufällig in Kairo ein. Der meisterhafte Navigator hatte in den 1920er- und 1930er-Jahren mit umgerüsteten Ford-Automobilen das riesige und damals weitgehend unkartierte Innere der östlichen Sahara erkundet. Bagnold war zwar nur Major, doch er setzte sich mutig über die offiziellen Dienstwege hinweg und ließ dem neuen Oberbefehlshaber, General Sir Archibald Wavell, direkt eine Mitteilung zukommen.

Bagnold empfahl die Aufstellung von Spähtrupps, die aus speziell geschulten Freiwilligen bestehen und mit wüstentauglichen Fahrzeugen tief hinter die feindlichen Linien vordringen sollten, um Informationen zu sammeln und überfallartige Angriffe durchzuführen. Wavell ließ den Major sofort zu sich kommen und war sehr beeindruckt von dessen Vorschlägen.3 Mit der vollen Unterstützung des Generals rekrutierte Bagnold schnell die nötigen Männer und baute die Einheit auf, die etwas nüchtern als Long Range Desert Group (LRDG, Langstrecken-Wüstengruppe) bezeichnet wurde.

Als die Italiener kurz darauf entlang der Mittelmeerküste nach Osten vorzurücken begannen, brachen die ersten LRDG-Patrouillen 500 Kilometer weiter südlich durch die Wüste heimlich nach Westen auf. Ihre Überraschungsangriffe zeigten eine tief greifende Wirkung: Die Italiener wurden derart aus dem Konzept gebracht, dass ihr Vormarsch für etliche Monate ins Stocken geriet. Diese Pause gab den Briten Zeit, ihre Truppen zu verstärken, und schon bald konnten sie die italienische Armee zurückdrängen. Die LRDG spielte auch in den späteren Wüstenfeldzügen eine wichtige Rolle, wurde bei Kriegsende jedoch aufgelöst. Vielleicht werden ihre bemerkenswerten Leistungen deswegen weniger gefeiert als die des Special Air Service (SAS), einer Spezialeinheit der britischen Armee, die etwa zur selben Zeit aufgestellt wurde.

Die präzise Navigation in der Wüste war entscheidend für den Erfolg der LRDG. Um bei den extremen Bedingungen im Wüsteninnern zu überleben, waren die Spähtrupps auf eine genaue Orientierung angewiesen. Es gab jedoch ein Problem: Mit Magnetkompassen konnten sie kaum etwas anfangen. Diese reagierten höchst empfindlich auf störende Einflüsse und waren nicht immer zuverlässig, weil die Stahlrahmen der Lastwagen starke Abweichungen verursachten. Die Magnetkompasse lieferten nur dann unverfälschte Ergebnisse, wenn sie in einiger Entfernung von den Fahrzeugen zurate gezogen wurden. Da die Patrouillen schnell vorankommen mussten, durften sie nicht zu oft anhalten. Sie brauchten also unbedingt ein anderes Hilfsmittel – eins, das auch an Bord eines holpernden und schlingernden Lastwagens gut funktionierte.

Der Sonnenkompass mit Zeitausgleich war die Lösung; Bagnold hatte ihn für seine Wüstenreisen zu Friedenszeiten erfunden. Er bestand aus einer verstellbaren, am Rand mit Gradangaben markierten Scheibe, auf die eine vertikale Nadel ihren Schatten warf. Verschiedene Karten, eine für jeweils drei Breitengrade, zeigten den Azimut der Sonne zu bestimmten Zeitintervallen über den Tag hinweg an.

Mithilfe dieser Karten wurde der Kompass kalibriert. Um die Mittagszeit im Sommer war das Instrument jedoch unbrauchbar, da der Schatten der Sonne zu kurz war, um die Skala am Rand der Scheibe zu erreichen. Dies war für die Männer ein willkommener Vorwand, um zu pausieren und sich vor der fast senkrecht stehenden Sonne zu schützen. Bei Nacht überprüften die Navigatoren ihre Position anhand der Sterne.4

In dem Bericht über seine Vorkriegsexpeditionen schilderte Bagnold sehr anschaulich, wie er den Sonnenkompass zur Navigation in der Wüste nutzte:

Wir hatten nur einen Gedanken: dass wir wach bleiben und den schmalen Schatten auf der Scheibe des Sonnenkompasses an dem Pfeil halten müssen, der den Sollkurs anzeigte. Denn ich wusste, dass die kleine Oase schwer zu finden sein würde, und war darauf bedacht, direkt auf sie zu stoßen. Vergleichbar war das mit dem Versuch, in Newcastle mit einer Kompasspeilung zu starten und irgendwo in einer unbestimmten felsigen Senke, die ungefähr die Größe Londons hatte und gleich weit entfernt war [ungefähr 450 Kilometer], einen kleinen Garten finden zu wollen …

Ich hatte den Kurs so bestimmt, dass wir uns der Oase von Südwesten näherten. […] Doch nun war uns alles fremd; nichts entsprach meiner Erinnerung an unseren früheren Anmarsch. Laut unserer Kartenposition lag [die Oase] acht bis zehn Meilen [etwa 13 bis 16 Kilometer] Richtung Nordost, aber nach einem solch langen Marsch konnten wir uns leicht um Meilen vertan haben. […] Im Halbdunkel des nächsten Morgens waren nur die vagen Umrisse nahe gelegener Hügel sichtbar. Der Wind wehte leicht von Nordost, und ich nahm deutlich Kamele wahr. […] [Daher beschloss ich,] in die Richtung zu fahren, aus der der Geruch kam, obwohl die Landschaft fremdartig aussah. Nach einigen Meilen erblickte ich die unmittelbare Umgebung der Oase direkt vor uns.5

Da andere Lebewesen natürlich nicht über die Navigationstabellen verfügen, die Bagnold zur Kalibrierung seines Sonnenkompasses benutzte, mag man vielleicht denken, dass sie sich unmöglich anhand des Sonnenstands orientieren können. Man sollte jedoch nie die Wirkkraft der natürlichen Selektion unterschätzen, besonders im Fall von Spezies, die bereits seit Hunderten Millionen Jahren existieren.

Den ersten Hinweis darauf, dass manche Tiere sich bei ihrer Wegfindung auf die Sonne verlassen, lieferten die Forschungsarbeiten des britischen Adeligen und Universalgelehrten Sir John Lubbock (1834–1913). Lubbock hatte zwar eine ganz andere Wesensart als der fast zeitgleich lebende Jean-Henri Fabre, aber auch er führte bahnbrechende Untersuchungen zu den Geheimnissen der Insektennavigation durch. Er war Bankier, Politiker, Archäologe, Anthropologe und Biologe sowie ein enger Freund, Nachbar und ergebener Schüler von Charles Darwin. Heute ist er beinahe vergessen, doch zu seiner Zeit war er eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.

Ameisen hatten es Lubbock besonders angetan; er hielt ganze Kolonien in seinem Landhaus und untersuchte deren Orientierungsvermögen eingehend, wie Fabre – allerdings viel systematischer. Manche Wochenendbesucher hatten Glück und bekamen die gläsernen Anlagen zu sehen, in denen seine geliebten Ameisenkolonien lebten.

Lubbock wollte dahinterkommen, wie Schwarze Gartenameisen zu ihrem Nest zurückfanden. Zunächst stellte er fest, dass sie – anders als Fabres rote Ameisen – einer Geruchsspur folgen konnten. Doch dann bemerkte er etwas Sonderbares: Auch die Kerzen, die er beim Arbeiten anzündete, schienen das Verhalten der Ameisen zu beeinflussen. Das machte ihn stutzig, und er führte weitere Experimente durch; schließlich kam er zu dem Schluss, dass die Orientierung der Ameisen »stark von der Einstrahlrichtung des Lichts bestimmt« wurde.6 Lubbock war zu vorsichtig, um eine allgemeinere These aufzustellen, doch wie spätere Untersuchungen ergaben, dienten die Kerzen eindeutig als Stellvertreter für die Sonne. Diese bemerkenswerte Entdeckung wurde 1882 veröffentlicht.

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