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WARUM DIESES BUCH SO WICHTIG FÜR DIE OSTEOPATHIE IST
ОглавлениеFragt man Osteopathen, was Osteopathie ist, erhält man eine Vielzahl von Antworten: Medizinphilosophie, Sonderform der Chiropraktik, medizinisches Verfahren zur Behandlung des muskuloskelettalen Systems, Erweiterung des physiotherapeutischen Systems, energetisches Heilverfahren, Handauflegen, bis hin zu Aussagen wie etwa „Osteopathie ist das, was man daraus macht.“ – alles ist geboten. Diese offenkundige Identitätskrise der zeitgenössischen Osteopathie erscheint umso erstaunlicher, als die gerade einmal ein gutes Jahrhundert alte klassische Osteopathie der Gründerväter A. T. Still, J. M. Littlejohn und W. G. Sutherland ein in sich geschlossenes, vollkommen von der Systematik der regulären Medizin und den auf ihnen aufbauenden Verfahren/Methoden (z. B. Manualmedizin = Chirotherapie) oder Begleitberufen (z. B. Physiotherapie) unabhängigen Medizinsystem beschreibt. Die Abgrenzung der klassischen Osteopathie gegenüber der regulären Medizin jener Zeit ist in der Literatur der Gründerväter bereits deutlich nachzuvollziehen: Während die reguläre Medizin (bis heute) überwiegend nach Pathologien sucht und diese zu bekämpfen versucht, vertraut die klassische Osteopathie den inherenten Selbstorganisationsmechanismen des Organismus als Ausdruck vollkommen harmonisch agierender Naturgesetze. Still bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt:
„Gesundheit zu finden sollte die Aufgabe des Arztes sein.
Jeder kann Krankheit finden.“ 1*
Es gilt also nicht mehr ‚böse Wesen‘ in Form von Krankheiten bzw. ‚Pathologien‘ zu suchen, zu klassifizieren und durch ‚heroische‘ Eingriffe zu bekämpfen; vielmehr lag der therapeutische Fokus der klassischen osteopathischen Medizin ausschließlich auf jenen Mechanismen, die Zeit unseres Lebens Gesundheit generieren und allein das Recht besitzen, sich ‚Drachentöter‘ zu nennen – und denen folglich auch der alleinige Preis des Siegers gebührt. Hier sei aber explizit erwähnt, dass Still sich bei seinen Ausführungen stets auf allgemeinmedizinische Beschwerdebilder im hausärztlichen Kontext bezieht.
Stills streng salutogenetische2* Behandlungsansatz der klassischen Osteopathie stand also von Beginn an im Gegensatz zur pathogenetisch orientierten Basisphilosophie weiter Teile der regulären Medizin und ihren Ablegern, wie etwa der Physiotherapie. Sie widerspricht aber auch vielen Strömungen innerhalb der Alternativ- oder Komplementärmedizin, bei denen zwar von Selbstheilungskräften gesprochen wird, diese Begriffe bei genauerem Nachfragen aber häufig dann doch wieder als Abwesenheit von Pathologien verstanden werden und zu deren Überwindung wieder ein ‚heldenhafter Behandler‘ auf seinem weißen Schimmel angeritten kommen muss. Nebenbei sei erwähnt, dass die klassische Osteopathie auch im Gegensatz zu unserem heutigen Kassensystem steht, da dieses fast ausschließlich auf pathologiebezogener Diagnostik vergütet. Um die für das Therapeuten-Ego so bedrohliche und in das Kassensystem nicht so recht passende klassische Osteopathie gefügig zu machen, wird daher immer wieder versucht, diese passend zu machen, was zur vieldeutigen Verzerrung und damit zwingend zur bereits erwähnten Identitätskrise führen muss. Ein Blick in den aktuellen Wikipedia-Eintrag beweist dies eindrücklich. Dort finden wir:
„Die Begriffe Osteopathie […], osteopathische Medizin und osteopathische Behandlung beschreiben im Bereich der Alternativmedizin verschiedene Krankheits- und Behandlungskonzepte.
In Europa werden darunter unterschiedliche befunderhebende und therapeutische Verfahren verstanden, die manuell, also mit den bloßen Händen des Behandlers ausgeführt werden.“ [Unterstreichungen nachträglich eingefügt]
Seien Sie also kritisch, wenn Sie Definitionen zur Osteopathie lesen, da diese zumeist ohne ausreichende Kenntnis der klassischen Osteopathie erstellt und von starken Interessensgruppen überwacht werden. Besonders deutlich wird dies, wenn immer wieder von Stills angeblichen ‚Prinzipien der Osteopathie‘ gesprochen wird. Diese wurden von der American Osteopathic Association in den 1950ern festgelegt und spiegeln nur bedingt die Philosophie der klassischen Osteopathie wider.
Will die Osteopathie eine echte Zukunft haben, wird sie wohl kaum umhin kommen sich wieder auf die Philosophie der klassischen Osteopathie zu besinnen. Dort – und nur dort – wird sie jene Identität und Kohärenz finden, die fundamental für eine homogene und kraftvolle Weiterentwicklung und damit für das authentische Überleben sein wird. Schon bei Sutherland können wir ganz richtig nachlesen:
„Wir müssen zur Wissenschaft der Osteopathie zurückkehren. Wir können nirgendwo anders hingehen.“ 3*
Und um gleich Missverständnissen in diesem Zusammenhang vorzubeugen: Es geht bei diesem Zurückkehren nicht um die Idealisierung bzw. Dogmatisierung der klassischen Osteopathie und Ihrer Gründerväter – Still selbst hat die Verehrung seiner Person stets vehement kritisiert –, sondern um eine (selbst-)kritische, sachliche und umfassende Rückbesinnung auf das ehemals einheitliche Fundament der Osteopathie. Und diese Rückbesinnung auf die klassische Osteopathie ist naturgemäß nur durch vertieftes Studium der Gründerliteratur und jener dazugehörigen Brückenliteratur möglich, die uns ihr Entstehen, ihre Sprache und ihre Deutung erschließen. Aus den bisher zwei im deutschsprachigen Raum erhältlichen Titeln besagter Brückenliteratur4* erfahren wir dabei skizzenhaft, dass Stills Philosophie der Osteopathie maßgeblich von vier Geistesströmungen geprägt wurde: Dem Methodismus, der schamanistisch geprägten Weltsicht der Shawnee-Indianer, der Evolutionstheorie und vom Amerikanische Transzendentalismus, mit seinem wohl stärksten Seitenast, dem Spiritismus und dessen besonderen Heilsystem. Gerade dieser Spiritismus aber, welcher die Menschen in den noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika im Zuge der großen Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert maßgeblich prägte, geht in weiten Teilen auf den schwedischen Naturwissenschaftler, Philosophen und Mystiker Emanuel Swedenborg (1688 – 1772) zurück.
Osteopathie und Swedenborg setzt sich somit als erstes Werk überhaupt mit einer der für die Entstehung der klassischen Osteopathie wichtigsten Geistesströmungen auseinander und ermöglicht dem interessierten Leser damit einen besseren Zugang zu Stills Philosophie der Osteopathie. Allein deshalb ist Fullers Werk schon jetzt ein bedeutender Eckstein in jenem Gebäude, das aus medizinhistorischer Sicht alleinig dazu legitimiert ist, sich als ‚Osteopathie’ oder ‚Osteopathische Medizin’ zu betiteln.