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DIE HERRSCHAFT DER TIERE HAT BEGONNEN.

(Albert Camus, Tagebuch, 7. September 1939)

Marcel Petiot hatte tatsächlich Drogen verkauft. Im März 1944 nahmen nicht weniger als 95 registrierte Drogenabhängige an seinem „Entgiftungsprogramm“ in der Rue Caumartin teil, angeblich, um durch eine graduell abnehmende Dosierung des toxischen Stoffs Heilung zu erfahren. Petiot hatte sich aufgrund der Behandlungsmethoden einen guten Ruf erworben und galt als sympathischer, mitfühlender Arzt, der auf seine Patienten einging. Das Wartezimmer war ständig überfüllt. Georgette, für die Buchhaltung der Praxis zuständig, hatte niemals zuvor so viel arbeiten müssen.

Wie Massu nun erfuhr, hatte die Brigade Mondaine, eine Spezialeinheit der Kriminalpolizei, die sich neben anderen Delikten mit Prostitution, Beschaffungskriminalität, Pornographie und Drogenmissbrauch auseinandersetzte, eine stattliche Akte über den Arzt angelegt. Zu Beginn des Jahres 1942 hatte man bei einem weiteren Versuch, gegen den blühenden Drogenhandel in dem Pariser Viertel vorzugehen, mehrere vermeintliche Drogensüchtige verhaftet. Unter den in Gewahrsam genommenen Personen war auch ein Patient Petiots. Das an die Verhaftung anschließende Verhör warf einige Fragen zum Verhalten des behandelnden Arztes auf und stellte im Licht der späteren Ermittlung ein bedeutendes Schlüsselelement in der Beweiskette dar.

Der Patient war der 41-jährige Kohlelieferant Jean-Marc Van Bever. Erst wenige Monate zuvor hatte er seine erste geregelte Arbeit gefunden, denn der steigende Bedarf an Kohlen zum Heizen von Büros und Appartements stellte eine sichere Einnahmequelle dar. Davor hatte der Mann sein großes Erbe in einige Druckereien investiert, die alle den Bankrott erklären mussten. Van Bever verbrachte einen Großteil der dreißiger Jahre in bitterer Armut und hielt sich nur mit Hilfe der Wohlfahrt und verschiedener Wohltätigkeitsverbände über Wasser. Für einen Mann, der einstmals solch einen Wohlstand genossen hatte, stellte das eine unerwartete Entwicklung dar.

Nach seinem Abschluss am prestigeträchtigen Lycée Louis-le-Grand hatte Van Bever an der Universität verschiedene Fächer studiert, darunter zwei Semester Jura. Er sprach Englisch und einige Brocken Spanisch und Italienisch. Sein Vater, Adolphe Van Bever, war der Mitherausgeber einer Anthologie französischer Dichter, die viel Beachtung fand, und sein Großonkel der bekannte Maler La Quintinie.

Bei der Festnahme protestierte Van Bever und behauptete, selbst kein Süchtiger zu sein. Er habe sich wegen der Beziehung zu der Prostituierten Jeannette Gaul lediglich in dem Milieu herumgetrieben. Die 34-jährige Gaul wiederum litt unter einer schweren Morphiumsucht. Darüber hinaus war sie abhängig von Heroin, also von einem der stärksten Derivate des Morphins. Heroin gehörte in Paris zu den beliebtesten Drogen, nachdem die ursprüngliche Nutzung zur Unterdrückung des Hustens und zur Behandlung verschiedener Krankheiten der Lungenwege, die von der Bronchitis bis zur Lungenentzündung reichten, fast schon in Vergessenheit geraten war. Sowohl Morphium als auch Heroin zirkulierten in der zwielichtigen Halbwelt, besonders unter Prostituierten, die damit der brutalen Realität des Gewerbes entfliehen wollten.

Nachdem sie als Zimmermädchen bei einer Familie in Fontainebleau und später in verschiedenen Bordellen unter anderem in Nantes, Clamecy und Auxerre gearbeitet hatte, zog sie kurz nach der Besetzung nach Paris. Ihr letzter Zuhälter, Henri „der Knastbruder“ Baldenweek, ließ sie im Stich, woraufhin sie auf dem Straßenstrich anschaffen musste, eine der dominierenden Arten der Prostitution während der deutschen Besatzung und gleichzeitig die gefährlichste, da die Frauen praktisch schutzlos ihrem Geschäft nachgehen mussten. Im November 1941 begegnete Gaul Van Bever unweit der Kirche La Madeleine. Nach drei Wochen, in denen sie sich regelmäßig trafen, fragte er, ob sie zu ihm ziehen wolle, und zwar in ein angemietetes kleines Zimmer in der Rue Piat 56 im 20. Arrondissement. Sie versprach daraufhin, ihre Arbeit aufzugeben. Das war zwei Tage vor dem Weihnachtsfest 1941.

Gaul konnte sich trotz der Beziehung allerdings nicht von der Sucht losreißen. Um an Betäubungsmittel zu gelangen, trickste sie das Gesundheitssystem aus, das sich angesichts der Kriegswirren in einem chaotischen Zustand befand, und beschaffte sich von verschiedenen Ärzten Heroin-Rezepte. Petiot war einer von ihnen. In den ersten eineinhalb Monaten des Jahres 1942 stellte Petiot allein fünf Rezepte für sie und zwei für Van Bever aus.

Am 19. Februar nahmen die Inspektoren Dupont und Gautier von der Brigade Mondaine Gaul in dem Zimmer fest, das sie mit ihrem Partner teilte. Auch Van Bever wurde inhaftiert und nach einer fast vierwöchigen Haftstrafe auf Kaution entlassen. Nach der Entdeckung Petiots als verschreibendem Arzt übermittelte die Brigade Mondaine die Information an Achille Olmi, einen Untersuchungsrichter, der entscheiden musste, ob der Fall von staatlicher Seite her weiter verfolgt werden sollte. Olmi ließ Petiot zu sich rufen, um ihn zu verhören.

Petiot argumentierte, dass es sich bei den Rezepten um legale Verschreibungen gehandelt habe. Er habe lediglich den Versuch unternommen, die Patienten durch immer niedrigere Dosen von der Sucht zu entwöhnen. Diese Methode helfe den ihm Anvertrauten dabei, für ihre Sucht „nicht einfach auf Beutefang zu gehen und zu stehlen oder sogar einen Menschen umzubringen“. Zudem sei es „die einzige bekannte Therapie“. Der Staat beschuldige ihn zu Unrecht des Drogenhandels. Würde er tatsächlich Handel betreiben, wie wären dann die bescheidenen 50 Francs zu erklären, die er bei einer Visite erhalte, und wie die 200 Francs für das Heroin, das auf dem Schwarzmarkt doch wesentlich mehr Geld einbringe?

Zu den für Van Bever ausgestellten Rezepten meinte er, dass dieser ihm gesagt habe, er sei süchtig. Nach einer gründlichen Untersuchung habe er die Diagnose angeblich bestätigt gesehen. Später, anlässlich der dritten Visite, seien ihm dann aber Zweifel gekommen, denn Van Bever, der behauptete, taub zu sein, konnte eine Frage beantworten, nachdem sie ihm von seiner Freundin ins Ohr geflüstert worden war. Ab dem Moment habe er sich geweigert, weitere Rezepte auszustellen. Sowohl Van Bever als auch Gaul widerlegten dieser Aussage später.

Die beiden änderten dann ihre Aussagen in bestimmten Punkten und sorgten damit für eine solche Verwirrung, dass sich der Richter gezwungen sah, sie und den Arzt anzuklagen. Der springende Punkt bestand darin, dass Van Bever nun behauptete, Petiot habe die ganze Zeit über gewusst, dass er kein Süchtiger gewesen sei und die Drogen der Geliebten zukommen habe lassen. Falls die Schuld der Patienten nachgewiesen worden wäre, hätte das unweigerlich eine Haftstrafe für sie nach sich gezogen. Petiot wiederum hätte im Fall einer Verurteilung mindestens seine Zulassung als Arzt verloren. Der Prozess sollte am 26. Mai 1942 vor dem Tribunal Correctionnel stattfinden.

Zwei Monate vor der Verhandlung verschwand Van Bever jedoch.

Er wurde zuletzt am Morgen des 22. März in einem Café in der Rue Piat gesehen. Van Bever trank dort zusammen mit seinem Freund und Arbeitskollegen, dem Kohlelieferanten Ugo Papini, einem ehemaligen Hutmacher aus Italien, einige Biere. Während des Gesprächs verständigte der Ober Van Bever, der sich in einer Ecke des Cafés mit einem großen, sauber rasierten Mann in den Mittvierzigern unterhielt, der eine Baskenmütze trug. Kurz darauf kehrte er zurück, sich dafür entschuldigend, dass er den Fremden begleiten müsse. Papini empfand die Situation als hochgradig mysteriös. Van Bever sagte lediglich, dass es sich bei dem Fremden um einen Freund von Jeanette Gaul handle, oder genauer gesagt um den Mann einer ihrer Freundinnen. „Möglicherweise hat Jeanette Schulden, die ich nun begleichen soll“, entschuldigte sich Van Bever und versprach, nicht lange wegzubleiben.

Als Van Bever am Abend noch immer nicht zurückgekehrt war und auch am folgenden Tag nicht zur Arbeit kam, sorgte sich Papini so sehr, dass er sein Zimmer aufsuchte, das wie üblich äußerst unordentlich wirkte. Merkwürdigerweise lag der Tabak von Van Bever, einem starken Raucher, noch dort. Bei dem Gespräch im Café hatte er Papini etwas über einen dringlichen Brief erzählt, der sich im Zimmer befand, aber nicht auffindbar war. Papini setzte unverzüglich einen Brief an Van Bevers Rechtsanwalt auf, Maître Michel Menard, in dem er vorschlug, eine Vermisstenanzeige beim Procureur de la République, also dem Staatsanwalt, aufzugeben.

Am 26. März 1942 füllte Papini einen dementsprechenden Bericht aus, worin er seine Befürchtungen wegen der Sicherheit des Freundes klar ausdrückte. Weder er noch die Polizei verdächtigten jedoch Dr. Petiot, denn zu der Zeit gab es einen wahrscheinlicheren Täter.

Während der letzten Monate hatte Van Bever häufig France Mignot, ebenfalls eine Prostituierte, aufgesucht. Im November 1941 begleitete er sie zum Haus ihrer Familie in Troyes. Als er sich gerade auszog, um Sex mit ihr zu haben, griffen ihn die Brüder und die Mutter der Prostituierten tätlich an. Er erlitt Stichwunden, wurde zusammengeschlagen und ausgeraubt. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus erstattete Van Bever Anzeige. Die Polizei nahm das Mädchen, ihre Mutter und die Brüder in Gewahrsam, und man setzte den Prozess für den 24. März 1942 an. Da Van Bever dann nur zwei Tage vor der Verhandlung verschwunden war, mutmaßte Papini, dass der für das Verschwinden des Freundes Verantwortliche aus dem Familienumfeld der Mignots stammen müsse.

Aber dann überbrachte am 26. März, also exakt zwei Monate vor Petiots Prozess, ein unbekannter Mann zwei Briefe in das Büro von Jeannete Gauls Pflichtverteidiger Maître Françoise Pavie, der am Boulevard Saint-Germain eine Kanzlei besaß. Beide Schriftstücke stammten angeblich von Van Bever. Der erste, adressiert an seinen Rechtsanwalt Maître Menard, informierte diesen, dass seine Dienste nicht länger in Anspruch genommen werden würden. Es war eine sehr merkwürdige Art und Weise, die Geschäftsbeziehung zu einem alten Familienfreund zu beenden. Der zweite Brief richtete sich an Jeannette Gaul und wirkte noch unverständlicher.

„Es ist nicht länger nötig, irgendwelche Geschichten zu erzählen“, begann der Verfasser das Schreiben. Er behauptete, selbst ein Drogensüchtiger zu sein, der ein bis vier Injektionen täglich brauche, und er riet ihr dringlich, die Wahrheit zu erzählen. In dem Brief stand wenig über Bevers Freundin, jedoch umso mehr über seinen Arzt:

Du weißt, dass Dr. Petiot mich im angrenzenden Raum untersuchte. Das ist dadurch belegt, dass er den Wundschorf an den Einstichstellen bemerkte. Wenn ich falsche Aussagen gemacht habe, dann nur aus dem Grund, weil ich eine zeitweilige Auszeit benötigte, um mir anderswo ein neues Leben aufzubauen. Wir werden uns bei deiner Entlassung treffen und versuchen, ein gemeinsames Leben zu führen, weg von all dem Dreck. Ich küsse dich von ganzem Herzen.

Der Brief war mit „Jean Marc Van Bever“ unterzeichnet worden.

Warum aber sollte Van Bever sich die Mühe machen, einen Brief zu schreiben, in dem er zwei Drittel des Textes für das Eingeständnis einer Drogenabhängigkeit aufwendete, die entweder gar nicht zutreffend war oder aber, träfe sie zu, keine Neuigkeit gewesen wäre. Und warum verschwendete er den knappen Platz, um Petiots Aussage zu erhärten? Warum unterzeichnete er einen Brief an die Geliebte mit seinem vollständigen Namen? Fragen über Fragen. Van Bevers Rechtsanwalt zweifelte deshalb sofort daran, dass die Briefe von seinem Mandaten geschrieben wurden.

Die Polizei setzte die Suche nach Van Bever fort und durchkämmte systematisch Bars, Gefängnisse, Krankenhäuser, Notunterkünfte, ja sogar Leichenhallen und weitere in Frage kommende Orte in der Hauptstadt und dem Umland, was aber erfolglos blieb. Die Verhandlung gegen die Angeklagten fand wie geplant am zehnten Polizeigerichtshof statt. Man erklärte Van Bever für schuldig in Abwesenheit und verurteilte ihn zu einem Jahr Gefängnis und einer Geldstrafe von 10.000 Francs. Doch er tauchte nie wieder auf.

Jeanette Gaul wurde zu einer sechsmonatigen Haftstrafe und einer Geldstrafe von 2.400 Francs verurteilt, doch sie kam schon im Mai 1942 wieder auf freien Fuß, also drei Monate später, gerechnet vom ersten Tag der Untersuchungshaft. Daraufhin verdiente sie sich den Lebensunterhalt wieder als Prostituierte, wurde rückfällig und suchte Dr. Petiot sogar erneut auf. Gaul verstarb drei Monate später an Wundstarrkrampf, verursacht durch eine verdreckte Injektionsnadel.

Petiot führte während der Verhandlung an, dass Van Bevers Verschwinden – „Er wagt es nicht, hier zu erscheinen“ – seine eigene Unschuld beweise. Er kam schließlich mit einer Geldstrafe von 10.000 Francs davon, gegen die sein Rechtsanwalt René Floriot Einspruch einlegte. Letztendlich reduzierte man sie auf 2.400 Francs, allerdings erst Monate später. Dr. Petiot hatte seinen Kopf aus der Schlinge gezogen und eine weiße Weste behalten.

Während sich die Wogen der „Van Bever / Gaul“-Ermittlung glätteten, zog für Petiot allerdings schon neues Unheil am Horizont herauf – ein zweites Drogendelikt. Die Begleitumstände waren ähnlich. Angeblich hätte er eine Patientin entgiftet, die daraufhin durch Tricks und Täuschung versuchte, an mehr Drogen zu gelangen. Als der Fall ans Tageslicht gelangte, zeigten sich sogar weitere verblüffende Parallelen:

Bei der Patientin handelte es sich um die 28-jährige Régine oder Raymonde Baudet. Anfang 1942 verschrieb ihr Petiot Soneryl, ein mildes Schlafmittel. Baudet versuchte das Wort „Soneryl“ durch „14 Violen Heroin“ zu ersetzen, ein allzu offensichtlicher Trick, der den Apotheker in der Rue des Écoles nicht täuschen konnte. Er benachrichtigte die Polizei. Baudet wurde am 16. März 1942 verhaftet, das insgesamt vierte Mal in Folge von Drogendelikten. Zweimal war sie bislang schuldig gesprochen worden.

Erneut vor Gericht gezerrt, gab Petiot offen zu, dass er Baudet von ihrer Sucht habe befreien wollen. Er hatte schon vier Rezepte für Heroin ausgestellt, und zwar unter dem von ihr angegebenen Namen Raymonde Khaït (den Nachnamen hatte sie sich von ihrem Stiefvater „ausgeliehen“). Wie er weiter aussagte, verweigerte er zusätzliche Rezepte und schlug stattdessen ein Sedativum vor. Es könne dann doch wohl kaum seine Schuld sein, wenn die Patientin gemeinsam mit einem ihrer Geliebten, einem gewissen Daniel Desrouët, versuchte habe, das Rezept zu fälschen.

Beweise für eine Mitwisserschaft Petiots bei der Fälschung lagen nicht vor, doch sein nächster Schachzug war mehr als überraschend und verursachte neue Komplikationen hinsichtlich einer gerechten Urteilsfindung. Einer Zeugenaussage von Raymondes Halbbruder Fernand Lavie zufolge, einem 36-jährigen Buchhalter der Polizeipräfektur, suchte Petiot dann das Haus ihrer Mutter, der 53-jährigen Marthe Antoinette Khaït, auf. Es lag in der Rue de la Huchette im Quartier Latin. Nachdem er das im selben Haus untergebrachte und von der Abwehr kontrollierte Cabaret El Djezair passiert hatte, betrat Petiot das Appartement und machte ihr wegen der Verfehlungen der Tochter schwere Vorwürfe. Anschließend bot er seine Hilfe an. Zuerst müsse man einen guten Rechtsanwalt verpflichten, und er sei bereit, für die Kosten aufzukommen.

Der Arzt machte Madame Khaït den Vorschlag, sich selbst als Drogenabhängige auszugeben, um damit der Tochter eine lange Gefängnisstrafe zu ersparen. Die Behörden würden es sicherlich glauben, denn Raymonde habe der Polizei bereits berichtet, dass sie und die Mutter die verschriebenen Dosen, ausgestellt auf den Namen Khaït, untereinander geteilt hätten. Um diese Finte zu unterstützten, bot Petiot der Frau an, ihr ungefähr ein Dutzend Injektionen [wahrscheinlich Kochsalzlösung] in den Oberschenkel zu verabreichen, die im Fall einer medizinischen Untersuchung durch die Polizei den „eindeutigen“ Beweis der Sucht erbrächten. Wie Petiot versicherte, seien die Injektionen völlig harmlos.

Khaïts Sohn war von dem Vorschlag schockiert. Unter keinen Umständen – das riet er der Mutter – solle sie sich für so ein Täuschungsmanöver hergeben. Allerdings hatte Petiot Madame Khaït dank seiner augenscheinlichen Großzügigkeit und Hartnäckigkeit bereits auf seine Seite gezogen. Nach so vielen Jahren, in denen sie die Tochter unterstützt hatte, würde sie auch in so einer Situation nicht von ihrer Seite weichen. Petiot und Khaït gingen daraufhin in das andere Zimmer. Wenige Minuten später verließ der Arzt die Wohnung.

In dieser Woche, vermutlich ein oder zwei Tage später, kam ihr jedoch die späte Erkenntnis, das gemeinsame Täuschungsmanöver mit dem Ziel der absichtlichen Irreführung der Behörden nicht weiter verfolgen zu wollen. Khaïts Sohn hatte sie, wie auch ihr Mann und der Hausarzt Dr. Pierre Trocmé, der sich über das Verhalten des Kollegen zutiefst empörte, wegen der Mittäterschaft zurechtgewiesen. Zuerst konnte Trocmé gar nicht glauben, dass ein zugelassener Arzt solch einen Ratschlag gab. Er bedrängte Madame Khaït, den Vorfall der Polizei zu melden. Falls sie sich weigere, übernähme er es selbst.

Nachdem sie dem Gatten erzählt hatte, dass sie Dr. Petiot aufsuchen wolle und danach den Anwalt ihrer Tochter, verließ Madame Khaït am 25. März 1942 um etwa 19 Uhr die Wohnung. Es würde nicht allzu lange dauern, meinte sie. Über die Absicht des Besuchs machte sie keine näheren Angaben. Sie nahm weder den Ausweis noch Lebensmittelkarten oder ihr Portemonnaie mit. Auf dem Herd köchelte das Abendessen in einem großen Topf.

Am folgenden Morgen – Madame Khaït war noch nicht wieder zurückgekehrt – hatte ein Unbekannter zwei Briefe unter der Tür durchgeschoben. Der eine war an ihren Mann David gerichtet, einen jüdischen Schneider, und der andere an den Sohn Fernand. Beide waren angeblich von Madame Khaït verfasst worden. David öffnete den an ihn gerichteten Brief und las voller Überraschung:

Mach dir um mich bitte keine Sorgen. Sag bitte niemandem etwas, und geh auf gar keinen Fall zur Polizei. Ich mache das alles nur im Interesse von Raymonde. Dr. Petiot hatte recht. Es ist besser, wenn die Polizei glaubt, ich sei eine Drogenabhängige. Ich bin nicht in der Lage, eine Vernehmung durchzustehen. Ich werde versuchen, in die unbesetzte Zone zu entkommen. Du kannst auch dieselben Mittel einsetzen, um mir zu folgen. Später wird Raymonde zu uns stoßen.

Dann gestand sie – was ihr Gatte als sonderbar empfand –, schon seit Jahren schmerzlindernde Medikamente wegen eines Herzleidens genommen zu haben. Der an Fernand gerichtete Brief hatte einen ähnlichen Inhalt. Beide Briefe waren mit dem Schreiben im Fall von Van Bever nahezu identisch, denn sie enthielten ein Geständnis und eine Erklärung für das plötzliche Verschwinden (in beiden Fällen verschwanden die Personen schnell und ohne zu packen). Sogar die Methode und der Zeitpunkt der Zustellung waren nahezu identisch. (Beide Male gab die unterzeichnende Person ihren vollständigen Namen an.) Einige Experten würden später die Meinung vertreten, dass sich auch die Handschriften in graphologischer Hinsicht ähnelten und wahrscheinlich von ein und derselben Person stammten, doch diese Ansicht war anfechtbar.

David Khaïts Auffassung nach schien es die Handschrift seiner Frau zu sein, woraufhin er schlussfolgerte, dass sie die beiden Briefe geschrieben hatte. Der Hund der Familie, der immer anschlug, wenn sich ein Unbekannter der Wohnung näherte, war ruhig geblieben. Sogar der widerspenstige Riegel an der Tür zum Hof hatte offensichtlich keine Probleme bereitet. Folglich musste eine mit dem Gebäude vertraute Person die Briefe gebracht haben. Khaït erinnerte sich zudem an die Verbitterung seiner Frau wegen der Drogenabhängigkeit Raymondes und an einige Gespräche, in denen sie die Überlegung anstellte, für die Zeitdauer des Prozesses in die freie Zone zu fliehen. Doch gleichzeitig wusste er, dass sie niemals Drogen genommen hatte.

Am selben Morgen wurden Raymondes Rechtsanwalt, Maître Pierre Véron, zwei Briefe zugestellt. Beide – einer an ihn gerichtet, der andere an Raymonde – enthielten nahezu identische Informationen, verglichen mit den Schreiben an die Familie. Drei 100-Francs-Scheine lagen als Bezahlung dem Schreiben an den Rechtsanwalt bei.

Das Hausmädchen, das sie entgegennahm, meinte, sie seien von Marthe Khaït abgegeben worden. Sie war sich sicher, da sie die Frau von früheren Besuchen her kannte. Später änderte sie ihre Aussage und behauptete, die Briefe seien von einer Frau gebracht worden, die Madame Khaït zum Täuschen ähnlich gesehen habe. Wie auch bei den zwei anderen Schriftstücken war der Ton eher formal gehalten. Darüber hinaus sprach sie kein Familienmitglied mit dem Kosenamen an. Auch hier konnten die Graphologen kein eindeutiges Ergebnis vorlegen.

Und warum hätte Madame Khaït eigentlich überhaupt Dr. Petiot aufsuchen sollen? Wollte sie ihm erklären, dass sie bei der Täuschung der Behörden nicht mitmachte? Wollte sie bei Petiot das versprochene Geld für den Rechtsanwalt abholen, oder gab es einen anderen, bislang unbekannten Grund?

Madame Khaïts Mann David wusste zuerst nicht, wie er sich verhalten sollte, gab dann aber der im Brief geäußerten Bitte nach und vermied die Polizei. Fernand benachrichtigte die Ordnungshüter erst am 7. Mai 1942. David Khaït hatte als Jude gute Gründe, den Kontakt zu den Behörden zu meiden, und suchte zuerst Petiot auf, der Madame Khaït am Tag der Verschwindens angeblich nicht gesehen hatte. Er beteuerte, er habe sie zuletzt bei dem Besuch im Appartement der Khaïts gesehen. „Ich weiß lediglich“, erzählte ihm Petiot in seiner Praxis, „dass sie sich in die unbesetzte Zone absetzen wollte.“

Petiot meinte, ihr schon früher einen Kontakt vermittelt zu haben, um fliehen zu können. Während David Khaït wartete, nahm Petiot eine Postkarte und adressierte sie an einen gewissen „Monsieur Gaston – Plage, nahe Loupiac, Cantal“ im südwestlichen Frankreich. Dann kritzelte er einen Satz darauf: „Hast du schon die Reisegruppe gesehen, die ich zu dir schickte?“ Der Arzt frankierte die Karte und überreichte sie Khaït, der sie einwarf.

Im folgenden Monat suchte David Khaït Petiot ein zweites Mal auf. Angeblich hatte der Doktor noch nichts von dem Kontaktmann gehört. Bei einer dritten Begegnung – und zwar Anfang Mai in Olmis Büro im Justizpalast – sagte Petiot, dass er gerade die Nachricht von seinem Bekannten erhalten habe, diese Madame Khaït nicht getroffen zu haben.

„Du Mistkerl! Du Krimineller!“, schrie Khaït. „Du hast meine Frau umgebracht!“ Er habe die Tat an den Augen des Arztes ablesen können. Petiot erwiderte in aller Seelenruhe, dass der Mann verrückt sei und eingesperrt gehöre.

Bei einer Befragung durch die Polizei gab Petiot zu Protokoll, nichts über den augenblicklichen Aufenthaltsort von Madame Khaït zu wissen, und verwahrte sich gegen die Anschuldigung, ihr Injektionen verabreicht zu haben. Angeblich hatte er einen Brief von der Tochter erhalten, die ihn bei der Polizei anschwärzen wollte, falls er nicht aussage, dass es sich bei den Rezepten um echte Dokumente gehandelt habe. Die Geschichte über die Injektionen war Petiots Aussage nach die Lüge einer Drogensüchtigen, die ihre eigene Haut retten wollte.

Baudet wurde am 15. Juli 1942 schuldig gesprochen. Petiot musste einen Urteilsspruch und eine Geldstrafe wegen Handels mit Drogen hinnehmen. Jedoch gelang es dem Rechtsanwalt René Floriot im Januar 1943 die Strafen in den Fällen Van Bever und Khaït zu kombinieren und auf eine Summe von insgesamt 2.400 Francs herunterzudrücken. Trotz des Schuldspruchs hegten viele an dem Fall beteiligte Personen Zweifel. Maître Véron zum Beispiel drängte Untersuchungsrichter Olmi, Petiot wegen Menschenraubes oder Mordes anzuklagen. Er sollte in den folgenden Jahren noch eine wichtige Rolle im Leben des Verdächtigen spielen …

Die Polizei hielt auch weiterhin Ausschau nach Madame Khaït, sowohl unter ihrem richtigen Namen als auch unter diversen von der Familie weitergegebenen anderen Namen, darunter der Mädchenname Fortin und Variationen des Familiennamens Lavie aus erster Ehe, wie Lavic, Laric und Lepic. Die Beamten fanden jedoch nicht die leiseste Spur von ihr. Drei Tage nach dem Verschwinden von Van Bever löste sich ein weiterer Belastungszeuge gegen Petiot also buchstäblich in Luft auf.

Schließlich durchsuchte die Polizei die Wohnung des Arztes in der Rue Caumartin, fand aber nichts, was sich in irgendeinen Zusammenhang mit den verschwundenen Personen bringen ließ. Allerdings entdeckten sie in einem Büroschrank eine erstaunliche Anzahl an Juwelen, feinsten Leinen und anderen wertvollen Gegenständen, die Petiot als „Geschenke“ von Patienten bezeichnete, die ihre Rechnung nicht bezahlen konnten. Nachdem bei der Wohnungsdurchsuchung nicht der kleinste Hinweis entdeckt wurde, wandte sich der leitende Beamte Achille Olmi beinahe entschuldigend an Petiot und sagte: „Sie können beruhigt sein. Niemand beschuldigt Sie, die Leute in Ihrem Ofen zu verbrennen.“

Der Serienmörder von Paris

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