Читать книгу Der Serienmörder von Paris - David King - Страница 8
ОглавлениеAUCH DAS WAHRHAFT BÖSE GRÜNDET IN DER UNSCHULD.
(Ernest Hemingway, Paris – ein Fest fürs Leben)
Dr. Marcel André Henri Félix Petiot erweckte den Eindruck eines respektablen Hausarztes mit einer gutgehenden Praxis. Er vergötterte seine Frau Georgette Lablais Petiot, eine attraktive 39-jährige Brünette, die er vor fast 17 Jahren geheiratet hatte. Sie spielten Bridge, besuchten häufig das Theater oder Kino und waren ganz vernarrt in ihren einzigen Sohn Gérard (Gerhardt Georges Claude Félix), den damals nur noch ein Monat von seinem 16. Geburtstag trennte. Diese Informationen machten die Leichenfunde in der Rue Le Sueur nur noch unverständlicher.
Der Arzt war in Auxerre aufgewachsen, einer mittelalterlichen Stadt, rund 150 Kilometer von Paris entfernt. Im Zentrum, zwischen all den Fachwerkhäusern mit Steinfundament und den sich dahinschlängelnden Straßen mit Kopfsteinpflaster, standen die beeindruckende gotische Kathedrale von St. Étienne und das große Benediktinerkloster von Saint-Germain mit seinem Glockenturm aus dem späten 15. Jahrhundert. Die Yonne verlief durch das für seinen Chablis berühmte Weinanbaugebiet und erstreckte sich auch in die umliegenden Waldgebiete der Region, die den zweitwichtigsten Exportfaktor lieferten – Nutzholz.
Petiots Vater, Félix Iréné Mustiole, war im Post- und Telegraphenamt von Auxerre angestellt. Seine Mutter, Marthe Marie Constance Joséphine Bourdon – oder Clémence, wie sie sich am liebsten nannte –, hatte bis zu Petiots Geburt ebenfalls als Postangestellte gearbeitet. Petiot, der ältere von zwei Söhnen, wurde am 17. Januar 1897 geboren. Sein Bruder Maurice kam fast zehn Jahre später zur Welt, im Dezember 1906. Petiot verbrachte die ersten zehn Lebensjahre in der Mietwohnung der Familie, im obersten Stock des Hauses Rue de Paris Nummer 100.
1912 verstarb die Mutter aufgrund von Komplikationen bei einem chirurgischen Eingriff. „Nach dem Tod meiner Schwester“, erklärte Henriette Bourdon Gaston der Polizei im März 1944, „zog ich meinen Neffen auf.“ Viele Dorfbewohner behaupteten hingegen, dass die Brüder schon wesentlich länger bei ihr lebten. Petiot soll schon ab dem Alter von zwei Jahren längere Zeitabschnitte bei seiner Tante verbracht haben. Schämte sich Gaston für den Mann, den sie großgezogen hatte? Spielte sie deshalb ihre Rolle bei seiner Erziehung herunter?
Für Massu und für Historiker stellte es eine schwierige Herausforderung dar, sich durch den Wust von Gerüchten, Tratsch und Mythen durchzuarbeiten, die Petiots Kindheit umgaben. Wie bei anderen Mordangeklagten auch überschlugen sich die Nachbarn förmlich mit Geschichten über sein vermeintlich sadistisches und asoziales Verhalten. Der junge Petiot soll angeblich Insekten gefangen und ihnen die Beine und Köpfe ausgerissen haben. Er soll junge Vögel aus ihren Nestern gestohlen, ihnen die Augen ausgestochen und gelacht haben, als sie vor Schmerzen kreischten und sich verängstigt in eine Ecke des Käfigs verkrochen. Dann verweigerte er ihnen Wasser und Nahrung und beobachtete, wie die misshandelten Tiere langsam verhungerten.
Seine Grausamkeit machte noch nicht mal vor der Lieblingskatze Halt. In einer von mehreren Versionen dieser Geschichte wollte Henriette Gaston Wäsche waschen, stellte eine große Schüssel Wasser auf die Herdplatte und holte das Leinen. Marcel spielte mit der Katze auf dem Küchenboden. Als Gaston zurückkehrte, hielt der Junge das Tier am Fell des Halses fest und versuchte, die Pfoten der Katze ins mittlerweile siedende Wasser zu tauchen. Seine Tante schrie auf vor Entsetzen, woraufhin Marcel sein Verhalten sofort änderte, die Katze schützend an die Brust drückte und Henriette anschrie, dass er sie hasse und sich wünsche, sie wäre tot. Am nächsten Morgen bot sich der Frau ein Bild des Grauens: Henriette wollte ihrem Neffen eine Lektion in Mitgefühl erteilen und erlaubte, dass die Katze bei ihm schlief. Am nächsten Morgen aber war der Junge mit Biss- und Kratzwunden regelrecht übersät. Er hatte die Katze erwürgt.
Der Tratsch über den zukünftigen Arzt brachte eine Fülle verschiedenster Geschichten ans Tageslicht, die allerdings schwierig zu verifizieren waren. Die meisten Erzählungen beschrieben Petiot als frühreif und hochintelligent. Er las schon früh für eigentlich ältere Leser geeignete Literatur und soll später ein Buch pro Nacht verschlungen haben. Seine literarischen Interessengebiete hatten angeblich eine beträchtliche Bandbreite, obwohl man das an seiner Bibliothek nicht ablesen konnte, in der sich eine übermäßig große Anzahl von Polizeiromanen fand, Studien zur Kriminologie und Bücher über berühmte Mörder wie Henri Landru, Jack the Ripper und Dr. Crippen.
Als Schulkind langweilte sich Petiot schnell und zog oft den Ärger der Lehrer auf sich. Wie die französische Polizei später herausfand, musste er sich in der Grundschule einem Disziplinarverfahren stellen, da er pornographische Heftchen mit in die Klasse gebracht hatte. Wie mehrere seiner Klassenkameraden den Inspektoren berichteten, las der junge Petiot gerne etwas über das Sexualverhalten berühmter Persönlichkeiten und fokussierte das Thema, wenn es sich nach damaliger Auffassung um ein abnormes Sexualleben handelte. Mit Genuss sprach er über die Homosexualität von Julius Cäsar und Alexander dem Großen und der Bisexualität von Giacomo Casanova. Der Chevalier d’Eon zählte zu seinen Lieblingsfiguren, ein Fechter, Transvestit und Spion, der in den aristokratischen Zirkeln des 18. Jahrhunderts in Frankreich für reichlich Wirbel sorgte.
Petiots Vater wollte, dass beide Söhne ihm in den Postdienst folgten. Doch Marcel war – wie er es ausdrückte – nicht interessiert daran, sein Leben in einem Büro zu verbringen und auf das Greisenalter zu warten. Er wollte hoch hinaus und etwas Besseres werden.
Er war ein ambitionierter Junge, der nach Macht, Wohlstand und Ruhm strebte, verbrachte die Jugend aber größtenteils als Einzelgänger. Im Rahmen der Polizeirecherchen fanden sich nur wenige Freunde aus der Kindheit. Ein Freund erlaubte Petiot ein Messerspiel zwischen den Fingern seiner auf einem Tisch ausgestreckten Hand oder Wurfspiele, vergleichbar denen in einer Zirkusvorstellung. Die Beamten machten eine ehemalige Geliebte ausfindig, eine Kabaretttänzerin mit dem Namen Denise, der er als Jugendlicher in Dijon begegnet war. Sie hatte ihn aus heiterem Himmel verlassen, was Petiot später mit der schnippischen Bemerkung honorierte, dass sie die einzige Vermisste war, die ihm weder Polizei noch Presse anlastete.
Jean Delanove, ein einstiger Klassenkamerad, erinnerte sich daran, dass Petiot manchmal eine Pistole mit in die Schule brachte und damit vor den anderen Kindern auf dem Spielplatz angab, indem er auf streunende Katzen zielte. Da er die Waffe sogar in den Klassenraum mitnahm und während einer Unterrichtsstunde in die Decke feuerte, wurde er schließlich von der Schule geworfen.
Athanise Berthelot, Lehrkraft in Auxerre, kannte Petiot im Alter von 13 bis 16 Jahren und beschrieb ihn als „intelligent, doch seine mentalen Fähigkeiten nicht ausschöpfend. Zusammengefasst war er ein bizarrer Charakter.“
Der stellvertretende Direktor Marcel Letrait stimmte dem zu. Petiot konnte als schlau bezeichnet werden, doch wenn er sich auf seine Aufgaben konzentrieren sollte, war er „nicht in der Lage, eine regelmäßige Leistung“ abzuliefern.
Im Alter von 17 Jahren verhaftete man Petiot. Die Straftat muss seinen Vater, immer noch Angestellter bei der Post, besonders verärgert haben. Petiot wurde dabei ertappt, wie er Briefe mit einer Art Angelrute, versehen mit einem haftfähigen Stoff am Ende der Leine, aus einem Postbüro herausfischte. Man glaubte, dass er auf Bargeld, Geldanweisungen oder einfach Briefe mit verfänglichen Inhalten aus war. Diese Informationen wollte er möglicherweise mit anonymen Schreiben verbreiten, eventuell begleitet von Erpressungen. Wie es das französische Gesetz verlangte, wurde der junge Delinquent von einem berufenen Psychiater untersucht, der die Schlussfolgerung zog, dass Petiot an einer vererbten Geisteskrankheit litt. Sein Vater protestierte und stritt die Diagnose als unzutreffend ab.
Anscheinend wollte der junge Petiot um jeden Preis die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Als die Mutter starb, wandte sich der trauernde Vater von den beiden Jungen ab. Marcel Petiot äußerte später die Vermutung, kein Wunschkind gewesen zu sein, sondern das Resultat eines Seitensprungs. Eines war sicher: Er fühlte sich einsam, zurückgestoßen und ungeliebt. Seine erste engere Beziehung knüpfte er zum Bruder Maurice. Die Brüder Petiot hatten fast ihr ganzes Leben lang ein enges Verhältnis.
Nach einigen weiteren erfolglosen Schulbesuchen in Joigny und Dijon, erhielt Petiot am 10. Juli 1915 ein Diplom, das den Abschluss einer höheren Schulausbildung (Bachot d’Enseignement Secondaire) attestierte. Den dafür notwendigen Unterricht erhielt er von seinem Onkel Vidal Gaston, einem Mathematiklehrer, zu Hause in Auxerre. Anschließend – der Erste Weltkrieg wütete in Europa – meldete sich Petiot freiwillig zur Armee und erhielt in Auxerre eine der ersten Rekrutierungsnummern (1097). Am 11. Januar begann die militärische Grundausbildung in Sens, einem idyllischen und verschlafenen Dorf, dessen Kathedrale von William of Sens entworfen worden war, der berühmt war für seine Arbeit an der Canterbury Cathedral.
Zehn Monate später musste Petiot in den schlammigen, blutigen und von Ratten heimgesuchten Gräben der Westfront seine Feuertaufe bestehen. Es war der Beginn von vier grauenhaften Monaten voller Luftangriffe, permanentem Artilleriebeschuss und brutalstem Einzelkampf. Um den jungen Petiot herum, er gehörte zum 89. Infanterieregiment, wurden Menschen verstümmelt, Knochen zerschmettert und Eingeweide aus den Körpern gerissen. Das schreckliche Gemetzel des Stellungskriegs war kaum in Worte zu fassen. Der Pariser Arzt Sumner Jackson, der in dem Gebiet, in dem Petiots Regiment kämpfte, einen Rettungswagen fuhr, schätzte vorsichtig, dass die französische Armee 100 Männer in der Minute verlor. Am 20. Mai 1917 wurde Petiot in einem Schützengraben in Craonne, nahe des Höhenzugs Chemin des Dames gelegen, einem strategisch wichtigen Zugang zum Fluss Aisne, verwundet. Eine Handgranate riss eine fast sieben Zentimeter tiefe Wunde in seinen linken Fuß.
Es war eine merkwürdige Verletzung. Eine in einen Schützengraben geworfene Handgranate würde die Explosionskraft in der Regel nach oben freisetzen und einen Fuß nicht an der Unterseite treffen. Und tatsächlich – mindestens ein Soldat von Petiots Regiment behauptete, er habe sich die Verletzung selbst zugezogen. Petiot hatte laut dessen Aussage ein Mörsergeschoss ins Rohr des Werfers eingeführt und den Fuß vor die Öffnung gehalten. Petiot widersprach der Aussage hartnäckig und in aller Schärfe und tat sie als niederträchtiges Ammenmärchen eines Mannes ab, der ihn um seinen Bildungsstand beneidete.
Zu dem Zeitpunkt zeigten sich die ersten deutlichen Anzeichen von Petiots psychischer Instabilität. Wie viele Soldaten litt er unter einer Kriegsneurose – ein Begriff, der aus dem Ersten Weltkrieg stammt: Er konnte weder schlafen noch essen und litt an quälenden Kopfschmerzen und Schwindel. Petiot verlor an Gewicht. Schon bei dem leisesten Geräusch begann er zu zittern oder er zuckte zusammen. Er litt an unkontrollierbaren und plötzlich auftretenden Weinanfällen und Bronchialbeschwerden. Letztere ließen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf einen früheren Giftgasangriff zurückführen. Der Oberarzt des Krankenhauses in Orléans diagnostizierte folgende Krankheiten: „Mentale Instabilität, Neurasthenie, Depressionen, Anflüge von Melancholie, Obsessionen und Phobien.“
Während der letzten 24 Monate des Krieges verlegte man Petiot ständig – von Krankenhäusern in Armeebaracken weiter in Psychiatrien und aufgrund von Diebstahl sogar in ein Militärgefängnis. Ihm wurde das Entwenden von Decken, Morphium und weiteren Armeevorräten zur Last gelegt, wie auch von Brieftaschen, Fotos und Briefen.
Ein Soldat erinnerte sich an die erste Begegnung mit Petiot: Er kehrte in die Baracke zurück und sah einen lächelnden Fremden ausgestreckt auf einem Klappbett, ein Buch in den Händen haltend. Der Neuankömmling las bei Kerzenlicht. Bei näherem Hinschauen erkannte der Soldat, dass sowohl das Buch als auch die Kerze ihm gehörten. Petiot schien es überhaupt nicht peinlich zu sein, sondern er meinte lapidar: „Was dir gehört, gehört auch mir.“ Der Soldat wollte wissen, ob das Prinzip auf Gegenseitigkeit beruhe, und machte sich nach der Bestätigung daran, Petiots Brotbeutel zu durchstöbern. Er fand lediglich ein Miniatur-Schachspiel vor.
Nach Petiots Ankunft durfte sich die Einheit über eine Vielzahl verschiedener Nahrungsmittel freuen, wie Räucherwurst, diverse Käsesorten, Süßigkeiten, Wein und andere durch den Krieg rar gewordene Gaumenfreuden. Ohne Zweifel stammten sie von bei Tag und Nacht stattfindenden Beutezügen. Der Soldat erinnerte sich an ein Gespräch über das Moralische am Diebstahl, den Petiot durch die These rechtfertigte, er sei völlig normal. „Was glaubst du wohl, wie die riesigen Vermögen zustande gekommen sind und wie es zu den Kolonien kam? Durch Diebstahl, Krieg und Enteignung.“ Gab es überhaupt eine Moral? Nein, antwortete Petiot. „Es herrscht immer das Gesetz des Dschungels. Die Moral wurde für die Reichen kreiert, damit man ihnen nicht die Güter nimmt, die sie durch ihre Raubzüge anhäuften.“ Später behauptete Petiot, dass er durch den Krieg viel gelernt habe.
Nur noch ein Mal kehrte er in den aktiven Dienst zurück, und zwar im September 1918 als Maschinengewehrschütze des 91. Infanterieregiments in Charleville in den Ardennen. Es war die zweite Schlacht an der Marne. Wie bei dem ersten Gefecht an der Marne vor vier Jahren standen die Deutschen kurz davor, nach Paris durchzubrechen. Doch auch hier gab es Zerwürfnisse mit seinen Vorgesetzten, woraufhin sich bei Petiot wieder Panikattacken einstellten. Ein Arzt vertrat später die Ansicht, dass er die psychischen Probleme nur vorgespielt habe, um sich vor dem Gefecht zu drücken. Angeblich soll er sich – um perfekt zu simulieren – Wissen in der Bücherei des Krankenhauses angeeignet haben, besonders in den dort vorhandenen medizinischen Fachbüchern. Jedoch waren die behandelnden Ärzte überzeugt, dass keine Täuschungsabsichten vorlagen und die Diagnose korrekt war.
Im Laufe der nächsten drei Jahre wies man Petiot in verschiedene Anstalten ein, darunter Fleury-les-Aubrais, Bagnères, Évreux und Rennes. Fünf Monate nach dem Waffenstillstand lag Petiot auf der psychiatrischen Station des Militärhospitals in Rennes. Sein Leiden diagnostizierte man als „mentale Instabilität im Zusammenhang mit Schlafwandeln, Melancholie und Depression, bestimmt durch eine suizidale Tendenz und Verfolgungswahn“. Petiot verließ die Armee im Juli 1919 und erhielt eine 40-prozentige Versehrtenrente, wurde aber im September 1920 vollständig krankgeschrieben. Untersuchende Ärzte glaubten, dass er arbeitsunfähig war, und schlugen daraufhin eine Einweisung mit „ständiger Überwachung“ vor.
Nach weiteren medizinischen Untersuchungen reduzierte man im März 1922 die Arbeitsunfähigkeit erneut auf 50 Prozent. Diese Diagnose wurde bei einer Nachuntersuchung im Juli 1932 bestätigt.
Bei der Einschätzung von Petiots psychischer Gesundheit befragten Ermittlungsbeamte der Armee verschiedene Familienmitglieder. Seine Großmutter Jeannquin Constance Bourdon erklärte ihnen gegenüber, dass man ihn in seiner Kindheit als „empfindlich und nervös“ hätte beschreiben können. Bis zum Alter von zehn oder zwölf Jahren war er Bettnässer und kotete ein. Nachts wollte er nicht schlafen, sondern immer „spazieren gehen“. Sein Onkel und Lehrer Vidal Gaston beschrieb ihn als einen „sehr intelligenten Jungen, der schnell verstand“, doch er fügte hinzu, dass er „ein bizarres Verhalten an den Tag legte“. Er bekam niemals Besuch von Freunden. Seitdem Gaston ihm bei den Abschlussprüfungen geholfen hatte, sah er Petiot kein einziges Mal mehr. Gastons Aussage nach konnte er „keine näheren Auskünfte über seinen psychischen Zustand geben“.
Der Armeeausschuss war damals nicht die einzige Institution, die den Patienten unter die Lupe nahm, denn Petiot hatte sich zu einem erstaunlich guten Medizinstudenten an der Universität von Paris gemausert und musste demzufolge ständig Prüfungen absolvieren. Nach der Entlassung aus dem Militär nahm er an einem Schnellkurs für Veteranen teil, der den ehemaligen Soldaten einen reibungslosen Wiedereintritt in das bürgerliche Leben ermöglichen sollte. In den ersten zwei Jahren studierte er Osteologie, Histologie, Anatomie, Biochemie, Physiologie und die Kunst des Sezierens. Sein drittes und letztes Jahr absolvierte er in Paris, er bestand die Prüfung am 15. Dezember 1921 mit Auszeichnung. In seiner Doktorarbeit Ein Beitrag zum Studium akuter progressiver Paralysen thematisierte er die „Landry’sche Paralyse“, benannt nach dem Arzt, der 1859 zuerst die Symptome der unterschiedlich verlaufenden Nervenkrankheit diagnostizierte.
Später kamen Zweifel an seinem Abschluss auf. Hatte er tatsächlich die Prüfungen nach einer so kurzen Studienzeit bestehen können? Der angesehene Psychiater Paul Gouriou drückte seine Skepsis aus und wies auf einen lebhaften Handel mit Doktorarbeiten ganz in der Nähe der Universität hin. Allerdings konnte er die Behauptung nicht mit Beweisen untermauern. Auch von anderer Seite kamen keine konkreten Anhaltspunkte. Der Dekan der medizinischen Fakultät der Universität von Paris bestätigte der französischen Polizei, dass bei Petiots Abschluss alles rechtens war. Ob er allerdings die darüber hinausgehende Belobigung für seine nur 26-seitige Arbeit, die von einem Arzt einige Jahre später als „sehr banal“ eingestuft wurde, verdient hatte, ist jedoch zweifelhaft.
Zumindest genoss Petiot damals einen Moment des Triumphs. Sein Vater organisierte aufgrund des Abschlusses ein Festessen, lieh sich dafür ein Silberbesteck von den Nachbarn und holte ein Service aus dem Schrank, das seit dem Tod der Mutter nicht mehr benutzt worden war. Der jüngere Maurice wartete voller Spannung auf die Rückkehr des Bruders, den er sehr verehrte. Petiot, immer noch der Meinung, dass sein Vater nicht viel auf ihn gehalten hatte, reiste pünktlich an und verhielt sich eher steif, kalt und distanziert. Er suchte nicht das Gespräch und beantwortete die meisten Fragen mit knappen Sätzen. Kurz bevor der Nachtisch serviert wurde, gab Petiot bekannt, dass er noch anderswo einen Termin wahrnehmen müsse, und verließ den Raum.
Der 25-jährige Marcel Petiot eröffnete die erste Praxis in der traditionsreichen Stadt Villeneuve-sur-Yonne, ungefähr 120 Kilometer südöstlich von Paris und ca. 40 Kilometer von Auxerre entfernt gelegen. Er bezog ein kleines Haus an der kopfsteingepflasterten Rue Carnot, das an einer Seite an die im gotischen Stil erbaute Kirche von Notre Dame angrenzte, deren Bau Papst Alexander 1163 zu Ehren von Ludwig VII. initiiert hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich das „Haus der sieben Köpfe“, ein Wohnhaus mit gespenstischen, aus Marmor gemeißelten Köpfen, angebracht über den Fenstern des zweiten Stockwerks.
Petiot hatte sich das kleine Städtchen ausgesucht, da es in der Nähe seines Zuhauses lag und dort wenig ansässige Ärzte praktizierten. Tatsächlich waren es nur zwei Kollegen, nicht mehr weit von der Rente entfernt. Petiots Anzeigen und Flugblätter, die er kurz nach der Ankunft platzierte, stellten sein Talent zulasten der Rivalen heraus. „Dr. Petiot ist jung, und nur ein junger Arzt kann die neuesten Methoden umsetzen, die durch den Fortschritt entstehen, einen Prozess, der mit Riesenschritten vorwärts drängt.“ Petiot versprach, die Patienten zu behandeln und nicht auszubeuten. Schon bald lief die Praxis mehr als zufriedenstellend und zog unterschiedlichste Patienten an, die alle seine Arbeit lobten.
Der junge Arzt war liebenswürdig, höflich und charmant. Er konnte gut zuhören und schien laut Aussagen vieler Patienten eine außergewöhnliche Fähigkeit bei der Diagnose verschiedenster Krankheiten zu besitzen. „Ich weiß genau, was Sie meinen“, sagte er häufig. „Mir ist klar, was Ihnen fehlt“, lautete eine weitere Antwort, wenn er die Beschwerden des Patienten mit erstaunlicher Treffsicherheit beschrieb. Ein ständig wiederkehrendes Gerücht besagte, dass er ein kleines Mikrofon unter dem Tisch im Wartezimmer versteckte hatte. Petiot tröstete die Patienten mit seinen beinahe schon unheimlichen diagnostischen Fähigkeiten und überzeugte viele Einwohner Villeneuve-sur-Yonnes davon, dass er der beste Arzt in der Stadt war.
Madame Husson erklärte später, wie er mit Hilfe einer selbst hergestellten Salbe ein Geschwür an der Stirn eines Kindes entfernt habe, das bis zu diesem Zeitpunkt auf keine Behandlung reagiert hätte. Monsieur Fritsch erinnerte sich an Petiot, dass er angeboten habe, einen seiner Nachbarn zu behandeln, bei dem eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden sei. Petiot habe behauptet, ein neues, riskantes Medikament zu kennen, das sich noch im Erprobungsstadium befand. Es verspreche Heilung, könne aber genauso gut den Tod bringen. Er habe gefragt, ob der Patient es auf einen Versuch ankommen lassen wolle, und dieser habe natürlich den sich ihm bietenden Strohhalm gegriffen und dann noch ein Viertel Jahrhundert lang gelebt.
Der junge Arzt engagierte sich zunehmend intensiver in seinem Beruf. Er öffnete die Praxis sogar am Sonntag, und zwar für Arbeiter, die ihn unter der Woche nicht konsultieren konnten, er machte Hausbesuche und fuhr auf dem Fahrrad lange Wege, um Kranke zu behandeln, speziell Kinder. Er gewährte älteren oder ärmeren Patienten Preisnachlässe und verzichtete in einigen Fällen komplett auf sein Honorar. Weltkriegsveteranen zahlten weniger, wenn sie überhaupt etwas entrichten mussten. Schon bald nannte man Petiot den „Arbeiterarzt“ oder den „Arzt der einfachen Leute“. Bald stieg er von seinem Fahrrad auf einen gelben Sportwagen um, einen Renault 40 CV. Im Laufe der nächsten Jahre legte sich Petiot zahlreiche Fahrzeuge zu, darunter ein Amilcar, ein Salmson und ein Butterosi.
Er genoss seinen Erfolg. Petiot speiste regelmäßig im Hôtel du Dauphin in der Rue Carnot, vertiefte sich in die Geschichte seiner Wahlheimat und las Bücher ihrer berühmtesten Bewohner, etwa des Philosophen Joseph Joubert oder von François-René de Chateaubriand, einem Dichter der Romantik. Er sang, beschäftigte sich mit Bildhauerei, malte, spielte Schach und gewann in einem Jahr sogar ein Dame-Turnier. Voller Stolz trug er seine Krawatten, die einzigen Modeartikel, die er sich gönnte, und begab sich oft auf nächtliche Spaziergänge, meist in einen schwarzen Mantel gehüllt und den Hut über die Augen gezogen.
Trotz aller Erfolge stieß das Verhalten des dreist anmutenden jungen Arztes auf Widerstände und Besorgnis in der Bevölkerung. Die Bekanntgabe der Praxiseröffnung wurde von den Kollegen als unverfroren und würdelos empfunden. Hinzu kam noch, dass er sich auf Kosten der anderen Ärzte etablierte, was auf eine noch größere Missgunst stieß. Petiots Hang, starke und unorthodoxe Medikamente zu verschreiben, machte den Apothekern von Villeneuve-sur-Yonne Sorge. Dr. Paul Mayaud nannte seine Medikationen „Pferdekuren“. Unbeeindruckt antwortete Petiot, dass die Apotheker und pharmazeutischen Konzerne schon lange ihre Produkte verdünnen würden, um den Profit zu erhöhen, weshalb er die Dosierung erhöhen müsse, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Außerdem hätten Apotheker keinerlei Recht, die von einem zugelassenen Arzt verordnete Medikation zu kritisieren.
Ein Apotheker erzählte später, dass er sich einmal geweigert habe, das von dem Arzt verordnete, aber für ihn zweifelhafte Rezept anzunehmen – eine Dosis für ein Kind, „die sogar einen Erwachsenen umbringen konnte“. Petiots angebliche Antwort auf diese Weigerung war beängstigend, falls er es ernst gemeint hatte, was seine Feinde sehr wohl glaubten: „Ist es nicht besser, sich dieses Kindes zu entledigen, das nichts anderes macht, als seine Mutter zu verärgern?“
Es mutete eigenartig an, dass Marcel Petiot, der gerne dem Exzess frönte, in der Praxis den Patienten so viele Vergünstigungen einräumte und damit auf ein höheres Einkommen verzichtete. Tatsächlich aber hatte er einen Weg gefunden, um das System zu hintergehen, was ihn immens reizte. Während er nach außen hin den Ruf eines freigiebigen und großzügigen Menschen genoss, beantragte er für die Patienten ohne deren Wissen Zuschüsse und wurde demzufolge von staatlicher Seite für seine Arbeit entlohnt. Darüber hinaus bezahlten ihn einige Patienten in Naturalien, manchmal nur Plunder, aber oft Produkte wie Käse, Eier und Geflügel. Auch diese Personen trug er in das Sozialregister ein. Somit erhielt der „Arzt der einfachen Leute“ eine doppelte Vergütung für die erbrachten Leistungen.
Der Betrug zahlte sich in vielfacher Hinsicht aus.
René-Gustave Nézondet, Buchhalter im Rathaus von Villeneuve-sur-Yonne, war laut den Ermittlungen Petiots ältester Freund. Sie begegneten einander 1924 bei einer Auktion, wo Petiot Möbel für sein gerade erworbenes dreistöckiges Haus in der Rue Carnot ersteigern wollte. „Wir empfanden eine unbeschreibliche Sympathie füreinander“, versuchte Nézondet das augenblickliche Gefühl der Kameradschaft zwischen den beiden Junggesellen zu beschreiben. „Mir gelang es nie, den Grund für die wortlose Anziehungskraft zu finden, die auf mich wie ein Magnet wirkte – entgegen jeder rationalen Erwägung, die mich eigentlich vor ihm hätte warnen müssen.“
Als die Neugier erst einmal geweckt war, besuchte Nézondet den neuen Freund, um ihn näher kennenzulernen. Petiot war höflich, eloquent, charmant, ein exzellenter Gesprächspartner und darüber hinaus sehr intelligent. Nach Aussage Nézondets konnte seine übersprudelnde Vitalität jedoch schnell versiegen und ihn in kindliche „Wutausbrüche und eine große Verzweiflung“ stürzen. Die beiden Männer genossen Wochenendausflüge zum Mittagessen in umliegende Dörfer, die Nézondet bezahlte. Sie verbrachten lange Stunden in Cafés, wobei Nézondet stets Wein und Petiot einen kleinen schwarzen Kaffee zu sich nahmen. Auch hier zückte Nézondet regelmäßig die Geldbörse.
1926, bei einer ihrer gemeinsamen Mahlzeiten, wandte sich Petiot plötzlich an seinen Freund: „Ich möchte in die Politik gehen.“ Diese Mitteilung kam so abrupt und unerwartet, dass Nézondet die Ernsthaftigkeit des Freundes anzweifelte. Doch Petiot ließ sich als Kandidat für die Stadtratswahl im Frühling nominieren und führte den Wahlkampf mit unnachgiebiger Härte. Er hatte sich für die Sozialisten aufstellen lassen, eine Partei, die sich in Villeneuve-sur-Yonne und in anderen Landesteilen Frankreichs Mitte der Zwanziger großen Zuwachses erfreute. Petiot sah seine Zukunft in genau dieser Partei. Die zunehmende Macht der „Mittellosen“, mit denen er sich identifizierte, würde die rivalisierenden Gegner allein schon aufgrund der zahlenmäßigen Überlegenheit übertrumpfen.
Petiot war in seiner Praxis vielen Menschen der unteren Schichten begegnet. Aufmerksam nahm er ihre Sorgen wahr und ließ ihnen seine „kostenlose“ medizinische Versorgung zukommen. Im Fall seiner Wahl versprach er, die reichen und privilegierten Bürger stärker an den Kosten für das Gemeinwohl zu beteiligen, egal, ob es sich um ein neues Abwassersystem oder um Kinderspielplätze handelte. Seine Absichten und Pläne trafen auf offene Ohren. Petiot erwarb sich einen Ruf für seine lebhaften Vorträge, die sowohl inhaltlich ein weites Feld absteckten als auch eine offene Geisteshaltung ausdrückten. Sein Redefluss wurde jedoch manchmal durch ein bizarres, hemmungsloses Lachen gestört, das meist in unpassenden Momenten oder heiklen Situationen aus ihm herausbrach. Man verglich es mit dem gequälten Geheul eines Schiffbrüchigen, der alles verloren hatte.
Petiots exzentrisches Verhalten stand seinen Wahlchancen nicht im Weg, sondern stellte sich sogar als zweckdienlich heraus. Er war eine „Nachteule“, schlief wenig und hatte häufig Schwierigkeiten, sich nach einem aufgewühlten und euphorischen Stimmungshoch wieder zu beruhigen. Die ungebremste Energie nutzte er für den Wahlkampf. Häufig entstand der Eindruck, als würden seine Gedanken davongaloppieren und sich immer wieder auf ein neues Problem richten. Trotz der permanenten politischen Bemühungen führte er die Praxis weiter und ließ den Patienten nach außen hin kostenlose oder preiswerte medizinische Hilfe zukommen. Dabei verfeinerte Petiot seine Fähigkeiten als Arzt, sorgte durch sein Engagement für eine solide Basis ihm wohlgesonnener Bürger und ließ sich – wie bereits berichtet – insgeheim vom Staat dafür bezahlen.
Es überraschte niemanden, dass er schließlich gewählt wurde, allerdings verblüffte die große Zahl an Stimmen, die er bekommen hatte. Es war ein erdrutschartiger Sieg. Marcel Petiot, gerade mal 30, stand vor seiner Amtseinführung als Bürgermeister. Dieser Erfolg wurde dann allerdings noch von seiner Wahl zum Vertreter Yonnes im „Conseil Général“ (Generalrat) übertroffen, einem Amt, das dem Status eines amerikanischen Kongressmannes gleichkommt. Als ihm ein Freund gratulierte, meinte Petiot frei heraus: „Das ist noch gar nichts. Ich werde es weit bringen – sehr weit.“