Читать книгу Der Serienmörder von Paris - David King - Страница 9

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DEN GANZEN ABEND ÜBER HABE ICH TELEFONANRUFE UND BERICHTE ERHALTEN. MITTLERWEILE IST ES OFFENSICHTLICH, DASS WIR IN EINEM MERKWÜRDIGEN FALL ERMITTELN, DESSEN TRAGWEITE NOCH NICHT ABZUSEHEN IST.

(Amédée Bussière, Polizeipräfekt)

Am Nachmittag des 12. März 1944 schlug der erste Zeitungsartikel über die grausige Entdeckung in der Rue Le Sueur auf den Straßen von Paris wie eine Bombe ein. Der knappe Bericht in der Paris-Midi fasste die wenigen zu der Zeit bekannten Fakten zusammen. Dem Artikel nach waren Angestellte der Gaswerke bei der Suche nach der Quelle eines eigenartigen Geruchs in das Haus eingedrungen und hatten „die verkohlten Überreste zweier Menschen“ in einem Ofen gefunden. Der Bericht enthielt keine näheren Details bis auf die weitere Falschmeldung, dass man verschiedene Landstreicher auf dem Gelände aufgefunden und einer von ihnen das Feuer entzündet habe.

Vor dem Haus Nummer 21 fand ein regelrechter Massenauflauf statt. Der Geruch – beschrieben als ein ekelerregender, süßlicher Gestank, der alles durchdrang – war nun noch schlimmer als in der vorangegangenen Nacht. Ein sich außerhalb des Anwesens aufhaltender Veteran des Ersten Weltkriegs erinnerte sich daran, dass er einige Tage mit fünf Leichen in einem Granattrichter gelegen hatte. „Nach zwei Tagen“, berichtete er Jean-François Dominique, einem jungen Journalisten der Toulouser Zeitung La Républic du Sud-Ouest, „stank es genauso wie hier.“

Ungefähr zwei Dutzend Polizeibeamte, die Gesichter vor Angst kreidebleich, versuchten vergeblich, die Menge aufzulösen. Hinter den Absperrungen führte Massu hochrangige Beamte der Stadt und der Polizei durch das Anwesen und zeigte ihnen, wo er „einen Haufen von Schädeln, Schienbeinen, Oberarmknochen, gebrochenen Oberschenkelknochen und weiteren menschlichen Überresten“ gefunden hatte. Währenddessen widmete sich ein Team von vier Männern der entsetzlichen Aufgabe, die einzelnen Körperteile aus der Löschkalkgrube zu bergen. Da Massus angewiderte Assistenten die nervenzermürbende Arbeit nicht übernehmen konnten, hatte der Kommissar Totengräber vom Friedhof Passy damit beauftragt.

Petiots Nachbarn unterhielten sich ausschließlich mit der Polizei. Einige Anwohner behaupteten, nicht zu wissen, dass die Nummer 21 bewohnt gewesen sei, zumindest nicht von „ehrenwerten Bürgern“. Andere deuteten auf das befremdliche Verhalten des Besitzers hin. Der Concierge eines nahegelegenen Hauses beschrieb Petiot, der sein Grundstück stets mit dem Fahrrad und einem Anhänger verließ oder anfuhr: Jedes Mal habe der Arzt nervös über die Schulter geblickt, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand beobachtete. Die Concierge Marie Lombre aus Nummer 22 bekräftigte diese Aussage und fügte hinzu, dass der Mann fast täglich aufgetaucht sei und eine Baskenmütze und Arbeiterkleidung getragen habe. In dem Anhänger hätten sich häufig Möbel, Kunstgegenstände und weitere wertvolle Utensilien befunden. Allerdings konnte man es ihrer Aussage nach manchmal „nicht mit Genauigkeit“ sagen.

Victor Avenelle, ein 53-jähriger Professor der Romanistik, der im sechsten Stock der Rue Le Sueur Nummer 23 lebte, berichtete davon, dass er häufig beunruhigende Schreie und „Hilferufe“ gehört habe. Seit Weihnachten sei das drei oder vier Mal vorgekommen, meist zwischen 23 Uhr und Mitternacht, vielleicht auch gegen 1 Uhr morgens. Die Stimme habe immer weiblich geklungen. Count de Saunis, ein Bewohner des Hauses, konnte wegen der Schreie aus dem Gebäude oder einem merkwürdigen Geräusch, das wie das Schlagen mit einem Hammer anmutete, manchmal nicht schlafen. Andere Anwohner behaupteten, Frauengelächter und ein Geräusch, das an das Knallen von Champagnerkorken erinnerte, gehört zu haben, ja, sogar das Geräusch eines alten Pferdefuhrwerks, das die Straße um 23.30 Uhr passiert und direkt vor dem Haus Nummer 21 gehalten habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei nicht den blassesten Schimmer, wie die Aussagen zu bewerten waren.

Massus Detektive nahmen im gesamten Gebäude Fingerabdrücke und durchsuchten jeden Winkel nach Beweisen für die Verbrechen oder nach Hinweisen auf die Opfer. In einem der kleinen Schuppen auf dem Hof fanden sie eine kleinere zweite Grube mit Löschkalk. Sie war ca. 4,50 bis sechs Meter tief, 1,80 Meter breit und 1,80 bis 2,70 Meter lang. [Wegen der Vermengung des Löschkalks mit dem Untergrund konnten die exakten Maße nicht ermittelt werden, Anm. A. T.] Auch in dieser Grube befanden sich menschliche Knochen. Daneben stand ein Fuhrwerk mit einem fehlenden Rad. Hatten die Nachbarn dieses Vehikel gehört? An verschiedenen Stellen im Hauptgebäude entdeckten die Ermittler Arbeiterkleidung, verdreckt mit Löschkalk. Im Eingang stand ein brauner, mit dunklen Flecken verunreinigter Koffer, der eine Nagelfeile enthielt, einen Wimpernformer, die Hülle eines Regenschirms und elf Paar Frauenschuhe. Die dunklen Flecken rührten mit hoher Wahrscheinlichkeit von Blutstropfen her.

In Dr. Petiots Behandlungszimmer fand man eine in der Tschechoslowakei hergestellte Gasmaske, die der Arzt, wie die Polizei mutmaßte, wegen des Gestanks der verwesenden Leichen aufsetzte, wenn er sie zum Ofen transportierte. Darüber hinaus entdeckten sie eine „Injektionsnadel“ und eine aus Wachs gefertigte kleine Büste einer Frau.

Die Ermittler Petit und Renonciat fanden ein schwarzes Seidenkleid mit einem tief ausgeschnittenen Dekolleté, verziert mit zwei goldenen Schwalben. Es stammte aus dem Hause Silvy-Rosa in der Rue Estelle in Marseille. An dem Stoff ließ sich noch deutlich der Geruch von Parfüm wahrnehmen. Einem anderen Ermittler fiel ein kleiner runder und aus der Mode gekommener Damenhut in die Hände, überzogen mit braunem Samt und geschmückt mit einer Pfauenfeder, hergestellt von Suzanne Talbot in der Pariser Rue Royal 14. In dem Behandlungszimmer lag zudem ein Frauennachthemd, bestickt mit dem Buchstaben „T“, und ein edles graues Männerhemd mit roten Streifen und den roten, kunstvoll aufgenähten Initialen „K. K.“, die jemand versucht hatte abzureißen. Die Beamten fanden noch weitere Kleidungsstücke mit denselben Initialen: ein weißes Hemd mit dunkelblauen Streifen und zwei Unterhosen.

Ein weiterer Fund unterstrich jedoch das wahre Ausmaß der menschlichen Tragödie, die sich hier abgespielt hatte. Versteckt in einem Wandschrank in Petiots Keller lagerten 22 Zahnbürsten, 22 Fläschchen Parfüm, 22 Kämme und Taschenkämme, 16 Lippenstifte, 15 Etuis mit Gesichtspuder und 36 Fläschchen mit Make-up, Mascara und weiteren Schönheitsprodukten. Darüber hinaus lagen dort zehn Skalpelle, neun Fingernagelfeilen, acht Handspiegel, acht Eistaschen, sieben Brillen, sechs Puderquasten, fünf Zigarettenspitzen, fünf Gasmasken, fünf Pinzetten, zwei Regenschirme, ein Spazierstock, ein Taschenmesser, ein Kopfkissenbezug, ein Feuerzeug und ein Damenbadeanzug. Offensichtlich befanden sich viele Frauen unter den Opfern. Der Mörder schien darauf versessen gewesen zu sein, ihre persönlichen Habseligkeiten zu horten. Hatte er die Frauen wie ein Sadist gequält oder sie missbraucht, bevor er sie in Stücke hackte und die Körperteile in der Löschkalkgrube entsorgte? Diese Frage nahm an Bedeutung zu, als die Polizei einen weiteren grausigen Fund in der Rue Le Sueur machte: zwei Gläser mit männlichen Genitalien, konserviert in Formaldehyd.

Am Morgen des 12. März – über den exakten Zeitpunkt wird spekuliert – hielt dann ein schwarzer Citroën vor dem Haus. Darin saßen vier hochrangige deutsche Offiziere. Sie betraten das Gebäude, kehrten aber schnell wieder zum Auto zurück. Am frühen Nachmittag, hier liegt ebenfalls keine genaue Zeitangabe vor, wurde ein Telegramm vom Oberkommando der deutschen Besatzungsmacht in Massus Büro am Quai des Orfèvres abgegeben. In dem Schriftstück stand Folgendes: „Befehl von den deutschen Behörden. Unverzüglich Petiot verhaften. Gefährlicher Wahnsinniger.“

Während Kommissar Massu den Haftbefehl ausstellte, rief ein Polizeibeamter in der Kriminalpolizeibehörde an, der eine Entdeckung in Petiots Heimatregion gemacht hatte. 1926, also ein Jahr, bevor Petiot Georgette geheiratet hatte, war seine Geliebte Louisette Delaveau unter mysteriösen Umständen verschwunden.

Louisette Delaveau, oder Louis, wie er sie nannte, hatte als Haushälterin bei einem Patienten von Petiot gearbeitet. Sie und der Doktor hatten einander bei einem Abendessen kennengelernt, wo Delaveau, eine 24-jährige Brünette mit dunklen Augen, die Mahlzeit serviert hatte. Petiot hatte sich augenblicklich zu der Frau hingezogen gefühlt. Sein Freund René Nézondet hatte ihn niemals in so einer Hochstimmung erlebt.

Petiot nutzte seine zahlreichen Kontakte in der Stadt, um mehr über die Frau herauszufinden. Er erfuhr, dass sie gerne in der Rue Carnot einkaufte, die Messe in Notre Dame besuchte und gelegentlich in Frascots Bistro ausspannte. Der Besitzer der Gaststätte, Léon Fiscot, auch genannt „der alte Frascot“, gehörte zufällig zu Petiots Patienten. Überrascht und über die Gelegenheit erfreut, hier als Kuppler zu agieren, stimmte Frascot der Rolle des Vermittlers zu. Petiot schrieb der jungen Frau einen Brief und bat seinen Freund darum, ihn zu überbringen. Louise sollte ihn, im Fall, dass sie interessiert wäre, in der Praxis anrufen oder ihn in seinem Haus in der Rue Carnot besuchen.

Als sie Petiot am darauffolgenden Tag anrief, verabredeten sich die beiden zu einem abendlichen Rendezvous in Frascots Bistro. Das Treffen verlief vielversprechend und endete mit einem romantischen Spaziergang zu Petiots Haus. Die beiden trafen sich von nun an heimlich und arrangierten spontane Schäferstündchen. Schon kurz darauf zog Louisette beim Doktor ein. Um den Schein zu wahren, wurde sie seine Köchin und Haushälterin.

Die Schwierigkeit, mit einem Menschen wie Petiot zusammenzuleben – obsessiv, zwanghaft und schon damals dazu neigend, sich bei Auktionen „Schnäppchen“ zu sichern –, forderte schon bald seinen Tribut. Weitere Spannungen zeigten sich, nicht zuletzt, da Petiot eine Affäre mit einer Patientin begonnen hatte. Möglicherweise war Delaveau schwanger, wie sie einer Freundin anvertraute, sie versicherte dabei aber, dass sich Petiot darum kümmern würde. Man vermutete schon länger, dass der junge Arzt sich mit illegalen Abtreibungen einen Nebenverdienst sicherte.

Im Mai 1926 verschwand Louisette Delaveau. Freunden erklärte Petiot ihre „Abreise“ als Folge eines turbulenten Streits, der sie quasi aus der Stadt stürmen ließ, ohne einen Zielort anzugeben. René Nézondet erinnerte sich an die Gemütsverfassung des Freundes, der wie am Boden zerschlagen wirkte. Bei einem gemeinsamen Mittagessen kurz nach dem Vorfall begann Petiot zu weinen. Dann starrte er ziellos in die Ferne. Sogar seine Hände zitterten stärker als gewöhnlich.

Wie sich herausstellte, hatte sich Louisette weder von ihrer Freundin noch von anderen Bekannten verabschiedet. Sie hinterließ keine Nachsende-Adresse. Auch verzichtete sie auf die Mitnahme von persönlichem Besitz. „Falls sie in meiner Abwesenheit zurückkehrt“, beauftragte Petiot Suzanne, die die Stelle Louisettes zwischenzeitlich eingenommen hatte, „dann erklären Sie ihr, wo sie ihre Sachen finden kann, und überreichen ihr diesen Brief“. Die neue Angestellte erfuhr nicht, was in dem Brief stand. Louisette kehrte jedoch niemals zurück.

Nur wenige vermuteten damals ein Verbrechen. In einem an die Polizei gerichteten Schreiben wurde Petiot zwar des Mordes an seiner Geliebten beschuldigt, doch die Ermittler fanden keinerlei Hinweise auf eine solche Tat. Daraufhin stellte man die offizielle Suche nach wenigen Monaten ein.

Berichten zufolge wurde Petiot nicht lange nach Louisettes Verschwinden dabei gesehen, wie er einen großen Rattankorb in den Kofferraum seines Sportwagens lud. Die Zeugenaussage gewann wenige Tage später an Bedeutung, als der Leichnam einer jungen Frau in den Mittzwanzigern in einem ebensolchen Korb außerhalb von Dijon gefunden wurde. Kommissar Massu konnte den Stellenwert des Fundes besser einschätzen als seine Kollegen damals, denn ihm standen zusätzliche Informationen zur Verfügung. Die Leiche in dem Korb war geköpft worden, der Körper zerstückelt und die inneren Organe waren herausgeschnitten worden …

Massu führte seine Ermittlungen immer methodisch und mit so geringer emotionaler Beteiligung wie möglich durch. Er versuchte nicht, zwischen „großen“ und „kleinen“ Verbrechen zu unterscheiden, oder wie er es nannte: interessanten und uninteressanten Fällen. Bei jedem Fall handelte es sich im Grunde genommen um Opfer und Täter – die erste Gruppe musste identifiziert und die zweite festgenommen und der Justiz zugeführt werden. Nicht mehr und auch nicht weniger. „Mord ist Mord“, sagte er nüchtern.

Massu war ein gebürtiger Pariser, der am 9. Dezember 1889 zur Welt gekommen war. Der Vater starb in seinem zweiten Lebensjahr, und die Mutter musste die Familie daraufhin allein ernähren. Sie arbeitete in einem Lebensmittelgeschäft. Im Alter von 13 Jahren begann Massu die Arbeit bei einem Fleischer in der Rue des Capucines. Er verbrachte die nächsten sechs Jahre mit dieser Tätigkeit und schuftete bei verschiedenen Arbeitgebern in der Stadt. Im Januar 1908, kurz nach dem 18. Geburtstag, meldete er sich freiwillig für die Armee und trat dem 117. Infanterieregiment bei. Massu erreichte den Rang eines Sergeants und wurde zwei Jahre später entlassen. Schließlich fand er eine Anstellung im Kreditbüro des großen Kaufhauses Galeries Lafayette, nur wenige Schritte von Dr. Petiots zukünftigem Heim entfernt. Massu blieb dort, bis die Polizei seine Bewerbung positiv beschied.

Am 16. Dezember 1911, im Alter von 22 Jahren, begann Massu die Laufbahn in der Brigade Mobile unter Charles Vallet, die gegründet worden war, um die Sicherheit der Pariser auf der Weltausstellung 1900 zu garantieren. Seine ersten Arbeitstage fielen zufälligerweise mit der Verfolgung der berüchtigten Anarchisten zusammen, bekannt als die Bonnot-Bande.

Jules-Joseph Bonnot und seine Männer sahen den Diebstahl als einen Akt der Befreiung und entwendeten Automobile und Schnellfeuergewehre. Weder Geschäfte noch Privatwohnungen waren vor ihnen sicher. Am 21. Dezember 1911 raubten sie eine Zweigstelle der Bank Société Générale aus und flohen in einem Automobil, was ihnen einen eindeutigen Vorsprung verschaffte, denn die Polizei verfolgte damals Kriminelle entweder auf Fahrrädern oder Pferden. Das Regime der „Automobil-Banditen“, wie die Presse sie nannte, endete während Massus erstem Jahr bei der Polizei. Sie wurden getötet oder gefangen genommen.

Massu verbrachte die ersten Jahre mit der Verfolgung von Taschendieben, was er als eine „gute Ausbildung“ bezeichnete, denn er lernte dabei, einem Verdächtigen zu folgen, diese Person genau zu observieren und ihn oder sie schließlich auf frischer Tat zu ertappen. Der zukünftige Kommissar hatte sich zu einem geduldigen Detektiv mit einer scharfen Beobachtungsgabe entwickelt, der die Mittel und Wege der Polizeiarbeit bis ins kleinste Detail kannte. Besonders lobte man ihn für seine empathischen Fähigkeiten, durch die er sich in die Lage eines Kriminellen hineinversetzte. Seine Vorgesetzten übertrugen ihm zunehmend größere Verantwortungsbereiche, und er wurde im August 1921 zum Sekretär befördert und schließlich – im Januar 1933 – zum Polizeikommissar. Dabei erntete er den Ruf eines Vorgesetzten, der die Stärken und Schwächen der Männer in seiner Einheit erkannte und dementsprechend einsetzte. Einige superbe Vernehmungsbeamte konnten im ungünstigsten Fall noch nicht mal einen Taschendieb festnehmen, wohingegen einige Beamte, die sich bei Verfolgungsjagden als wahre Bluthunde entpuppten, in einem Verhörraum hoffnungslos verloren waren. Massus Aufgabe bestand darin, die verschiedenen Fälle den dafür geeigneten Ermittlern zu übergeben.

Seine eigene Spezialität lag im Verhör. Er gewichtete die Bedeutung einer Befragung für ein Ermittlungsverfahren außergewöhnlich hoch. An einem Tatort sichergestellte Beweise und erste Verhöre vor Ort stellten sich später oftmals als durchaus fragwürdig heraus. Sie waren Spielball verschiedenster Interpretationen, und auch die Wissenschaft konnte im günstigsten Fall nicht als unfehlbar bezeichnet werden. Es war gut möglich, dass die Zeugen vor Ort logen, die Beamten in die Irre führten oder fehlerhafte Aussagen zu Protokoll gaben. Bei einem Verhör war es hingegen einfacher, detaillierte Informationen zu erlangen. Diese – wenn sie im Einklang mit verifizierbaren Beweisen außerhalb des Verhörraums standen – eröffneten den sichersten Weg im Rahmen einer Klärung der Schuldfrage, was letztendlich dazu führte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.

Der Erfolg bei einem Verhör setzte die Fähigkeit voraus, die eigene Strategie individuell auf den jeweiligen Verdächtigen zuzuschneiden, der auf einem Stuhl mit einem grünen Samtbezug in Massus Büro saß. Ob es sich nun um einen Schlägertypen handelte oder einen ausgebufften Schwindler, war zuerst einmal egal, denn das Wichtigste war eine ruhige, entspannte Ausgangsatmosphäre. Ein Glas Bier oder ein trockener Weißwein konnten sich laut Kommissar oftmals günstiger auf die Vernehmung auswirken, als einem Verdächtigen ins Gesicht zu schreien, ihn zu bedrohen oder im schlimmsten Fall sogar zu schlagen. Massu konnte nicht nur voller Stolz mit den meisten Geständnissen der Behörde am Quai des Orfèvres aufwarten, sondern sich auch damit rühmen, diese „ohne die Stimme oder die Hand zu erheben“ erlangt zu haben.

1937 war die Weltausstellung nach Paris zurückgekehrt, woraufhin Massu die „Brigade Volante“ gründete, eine mobile Polizeieinheit zur Bekämpfung des während des 185-tägigen Spektakels, das 31,5 Millionen registrierte Gäste anzog, wodurch ebenfalls Verbrechen rapide zunahmen. Massu wollte sicherstellen, dass die „Feier des Friedens und des Fortschritts“ nicht von Morden oder vergleichbaren Tragödien überschattet wurde. Durchschnittlich ließ er 300 Verhaftungen monatlich durchführen, doch in einem wichtigen Punkt blieben der Kommissar und die Kollegen erfolglos.

Ein deutscher Tagedieb namens Eugen Weidmann hatte Touristen in seine kleine Villa im Westen von Paris, nahe St. Cloud, gelockt, wo er sechs Menschen ermordete, ausraubte und sie danach im Keller vergrub. Weidmann wurde schließlich aber doch gefasst, zum Tod durch die Guillotine verurteilt und im Juni 1939 hingerichtet. Die riesige pöbelnde und krakeelende Menschenmenge, die sich an dem Tag vor dem Gefängnis St. Pierre in Versailles versammelte, veranlasste den französischen Präsidenten Lebrun neun Tage später dazu, öffentliche Hinrichtungen abzuschaffen.

Nun, fast fünf Jahre nach dem Fall Weidmann, sorgte in Paris ein weiterer Serienmörder für Schrecken und Entsetzen, doch diesmal handelte es sich augenscheinlich um einen weitaus „geschäftigeren“ und bedrohlicheren Mann.

Mit dem Befehl der deutschen Behörden in der Hand machte sich Massu unverzüglich daran, einen Haftbefehl zur Ergreifung von Marcel Petiot und seiner Frau Georgette auszustellen. Seine Gattin beschrieb man wie folgt: „Ungefähr 40 Jahre alt, zierlicher Körperbau, blasser Teint und schmales Gesicht.“ Dr. Petiot, nun 47, war „ungefähr 1,80 Meter groß, eher korpulent, hatte einen stark ausgeprägten Kiefer mit einem leichten Doppelkinn, dunkles, kastanienbraunes Haar, das er zurückkämmte, und Geheimratsecken, er war stets frisch rasiert und trug für gewöhnlich einen leichten Übermantel“. Massu beschrieb Petiot im Text als „gefährlich“.

„Die Schritte bei einer Ermittlung folgen stets den gleichen Mustern“, erklärte Massu. „Erfassen von Aussagen, Zeugenbefragungen, die Suche nach Hinweisen und Fingerabdrücken am Tatort oder überall, wo es notwendig erscheint.“ Die Ergebnisse mussten danach auf der Suche nach „dem, was zur Erlangung der Wahrheit dienlich sein kann, verglichen und wissenschaftlich unter die Lupe genommen“ werden. Massu war guter Dinge und sich sicher, den Verdächtigen zu verhaften. Egal, wie schlau ein Mörder auch gewesen war, wie perfekt er den Plan ausgeklügelt und wie vorausschauend er sich bei der Ausführung verhalten hatte, an irgendeinem Punkt verhielt er sich laut Massu immer „wie ein Idiot“. Letztendlich würde er einen Fehler machen, und der Kommissar könnte zuschlagen.

Der Ermittlungsbeamte Marius Battut und einige Detektive der Mordkommission machten sich also auf den Weg zu Petiots Appartement in der Rue Caumartin, das nicht weit von den Métro-Stationen Caumartin und Saint-Lazare entfernt lag. Es befand sich mitten im sogenannten Opern-Viertel. Am zentralen Boulevard Haussmann stieß man auf Hotels, Restaurants, Cafés, Theater, Nachtclubs, Bordelle und weitere kommerzielle Etablissements.

Die Beamten fanden schnell das fünfstöckige Gebäude Nummer 66. Im Erdgeschoss waren zwei Geschäfte: der Friseursalon Gaston Coiffure und das Bistro La Chope du Printemps. Im Keller hatte man einen Luftschutzbunker eingerichtet. Rechts neben der Eingangstür hing eine schwarze Marmortafel mit einem eingravierten goldenen Schriftzug, der auf die Praxis und die Öffnungszeiten von Dr. Petiot hinwies, Absolvent der Pariser Universität.

Das Bistro, der Friseur und auch die Praxis hatten allesamt geschlossen. Die Concierge Raymonde Denis hielt sich bei Ankunft der Polizei nicht in ihrer kleinen Wohnung auf. Die zwölfjährige Tochter berichtete den Beamten, Dr. Petiot und seine Frau um ungefähr 21.30 Uhr zuletzt gesehen zu haben, als sie zu Fuß nach Hause zurückkehrten. Sie glaubte, dass sich die beiden immer noch in ihrem Appartement aufhielten.

Die Beamten gingen zwei Treppen nach oben und klopften an die Tür. Schnell erkannten sie, dass die Wohnung unverschlossen war. Wie sie später erfuhren, verschloss Dr. Petiot niemals eine Eingangstür, denn seiner Meinung nach konnte sich ein geschickter Einbrecher überall Zugang verschaffen, was mit erheblichen Reparaturkosten einherging, die sich der Arzt ersparen wollte. Dennoch betrat die Polizei die Wohnung nicht.

Sie verfügten zwar über einen Haftbefehl für das Pärchen und eine Durchsuchungserlaubnis für die Rue Le Sueur, hatten allerdings kein Dokument, das ihnen den legalen Eintritt in das Appartement genehmigte. Die Deutschen mochten zwar das französische Recht missachten und mit Füßen treten, doch Battut zeigte sich fest entschlossen, exakt dem vorgegebenen Prozedere zu folgen. Auf dem Rückweg zur Zentrale, wo sie sich die notwendigen Papiere ausstellen lassen wollten, trafen sie Petiots Concierge.

„Gestern Abend“, erklärte die 39-jährige Raymonde Denis, „sah ich Dr. Petiot zum letzten Mal um 19 Uhr. Er verließ das Appartement und fuhr mit dem Fahrrad fort.“ Um ungefähr 20 Uhr klingelte Georgette an der Wohnungstür der Concierge, um Plätzchen für ihre Tochter abzugeben. Da sie sich schon zur Ruhe gelegt hatte, konnte sie zum weiteren Verlauf des Abends keine Angaben machen. Sie wusste aber, dass Marcel und Georgette nach Angaben der Tochter um 21.30 Uhr zurückkehrten.

Als die Ermittler am folgenden Morgen erneut in der Rue Caumartin eintrafen, hielt sich niemand in der Wohnung auf. Im Gegensatz zum Chaos in der Rue Le Sueur waren die Zimmer hier ordentlich, sauber und aufgeräumt. Auffälligerweise ließen sich weder Dokumente noch persönliche Habseligkeiten und andere Wertgegenstände finden. Die Beamten entdeckten jedoch größere Mengen an Kaffee, Zucker, Schokolade und hochprozentigen Alkoholika – alles Mangelware in Paris während des Kriegs. Massu bemerkte dazu ironisch, dass solche Mengen nur in der Vorkriegszeit im Lagerraum eines noblen Cafés zu finden gewesen wären. In der Wohnung stießen die Beamten zudem auf verschreibungspflichtige Medikamente und Narkotika, darunter sogar Peyote, eine halluzinogene Droge, beliebt in Pariser Nachtclubs, und sage und schreibe 504 Ampullen Morphium, die beim Verkauf auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen eingebracht hätten.

Sogar für einen Arzt, der Berichten nach Drogenabhängige in seiner Praxis behandelte, war das eine überaus große Menge an Violen. War Petiot vielleicht selbst süchtig? Handelte er womöglich insgeheim mit Drogen? Ersten Gerüchten zufolge belieferte er Patienten aus allen Bevölkerungsschichten, nicht zu vergessen die Tatsache, dass die Praxis in einem berüchtigten Stadtviertel lag, bekannt für den hohen Drogenkonsum. Die Ermittler wussten, dass Ärzte im besetzten Paris zu den am schnellsten verfügbaren Quellen illegaler Drogen zählten.

Den Beamten fielen zudem eine Sammlung bizarrer Kunstgegenstände und Masken auf, die sie als „diabolisch und teuflisch grinsend“ beschrieben. Auf einem Sockel im Behandlungszimmer des Arztes, in einer Ecke zwischen dem Schrank und der Wand, stand eine hölzerne Statue. Das Tier, der Teufel oder eventuell auch eine Pan-ähnliche Figur, hatte einen grotesk großen Phallus. Wie die Polizei später herausfand, war sie von Dr. Petiot selbst geschnitzt worden.

Der Serienmörder von Paris

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