Читать книгу Der Serienmörder von Paris - David King - Страница 13
ОглавлениеHELFEN SIE UNS BEI DER SUCHE NACH IHREM MANN. WIR WERDEN SIE DABEI UNTERSTÜTZEN, DIE WAHRHEIT HERAUSZUFINDEN.
(Kommissar Massu im Gespräch mit Georgette Petiot)
Die Nachricht von der Verhaftung verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Als Massus Wagen das Büro am Quai des Orfèvres erreichte, wartete schon eine Meute von Reportern und Fotografen. Der Kommissar half Georgette und Maurice Petiot aus dem Automobil und versuchte, sie vor den Kameras abzuschirmen, deren Blitzlichtgewitter eine undurchdringliche grelle Wand blauen Magnesiumlichts bildete.
Massu hatte eine klare Vorstellung über das Prozedere der Verhöre. Er wollte sie allein befragen oder in Anwesenheit eines untergeordneten Beamten, der jedoch schweigen sollte. Ein Raum voller Ermittler und Zuschauer hätte viel zu viele Probleme verursacht. Dank der bei zahllosen Verhören gewonnenen Erfahrungen wusste er, dass eine unbedachte Frage eines aggressiven und unerfahrenen Beamten einen günstigen Gesprächsverlauf negativ beeinflussen konnte.
Darüber hinaus glaubte Massu an eindeutige Beweise und Deduktionen, die auf harten Fakten basieren. Er versuchte zuerst, so schnell wie möglich den Kontakt zu einem Verdächtigen herzustellen, egal wie unbedeutend das Gespräch war, um den von diesem bereits errichteten Schutzschild zu durchdringen. Dann arbeitete er sich so rasch wie möglich in der Sache voran, bis zu dem Moment, den er als „das Eindringen eines Elefanten in einen Porzellanladen“ beschrieb. Damit meinte er die Schlüsselfrage, die auf den Beweisen und den bereits gemachten Geständnissen des Verdächtigen beruhte und die nicht ohne einen Widerspruch zu dem früher Gesagten oder einem Verlust der Glaubwürdigkeit insgesamt pariert werden konnte.
Der Kommissar bat Georgette Petiot, in seinem Büro Platz zu nehmen, und bot ihr ein Getränk an, das sie aber ablehnte. Dann zögerte er die Zeit hinaus, indem er sich mit Nebensächlichkeiten beschäftigte, wonach er erst mit dem eigentlichen Fragen begann. Massu ordnete die Papiere auf seinem Tisch, ging zum Fenster und starrte auf den Pont Neuf. Er sah Fahrradfahrer die Brücke überqueren, einige der zwei Millionen in Paris. Für neue Drahtesel musste man mittlerweile die gleiche Summe hinblättern wie vor fünf Jahren für ein Auto. Massu dachte darüber nach, ob auch Petiot mit seinem Fahrrad die Brücke überquert hatte, in dem Anhänger möglicherweise eine grausige Fracht.
Massu drehte sich um und sah der Frau des Arztes direkt ins Gesicht. „Tja, Madame Petiot, was wissen Sie? Sie brauchen sich nicht zu beeilen mit Ihrer Antwort. Wir haben viel Zeit. Beginnen Sie einfach, wo es Ihnen beliebt.“
„Ich muss sagen, dass ich von dem allem nichts wusste“, antwortete Georgette Petiot, womit sie auf ihren Mann verwies. Sie saß auf dem Stuhl, stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab und starrte scheinbar gedankenlos ins Nichts. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Taschentuch. Mit einer leisen, kaum hörbaren Stimme erklärte Petiot, vom Kauf des Gebäudes in der Rue Le Sueur Nummer 21 durch ihren Mann vor zwei oder drei Jahren zu wissen (es war tätsächlich vor drei Jahren). Massu, der sich in einen in der Nähe befindlichen Stuhl niederließ, bemerkte die Schweißperlen auf ihrer Stirn. Er fragte, ob es ihr zu warm sei und ob sie den Mantel ausziehen wolle. Georgette legte ab. Sie trug einen eng anliegenden Pullover mit einem rot-weißen Muster.
Vor ungefähr zwei Jahren war sie einmal in der Rue Le Sueur gewesen, doch sie hatte das Haus nicht betreten. Sie hatte es nie gemocht. Es war viel zu groß und zu teuer und kostete ca. eine halbe Million Francs. Der Erwerb des Gebäudes bedeutete auch, dass ihr Mann sich noch seltener zu Hause aufhielt. Trotz ihrer Einwände hatte sie nicht gegen den Kauf protestiert, denn ihr Mann führte eine gutgehende Praxis und verdiente sehr viel Geld.
Was die Renovierungsarbeiten anbelangte, konnte Georgette lediglich berichten, dass Dr. Petiot handwerklich geschickt genug war, um einen Großteil der Innenarbeiten, wie das Anstreichen, die Installationen und die Dekorationen, selbst zu erledigen. Sie prahlte von seinem geradezu kunsthandwerklichen Talent, besonders in Bezug auf Holzarbeiten, konnte jedoch nichts Genaueres zu möglichen Renovierungsarbeiten in der Rue Le Sueur sagen.
Massu befragte sie als Nächstes zum Fahrrad und zu dem Anhänger. Georgette Petiot behauptete, sich nicht genau an den Kauf zu erinnern, glaubte aber, dass Petiot die beiden Dinge gleichzeitig gekauft hatte. Ihr Mann benutzte das Fahrrad zur Fahrt zu Auktionshäusern, wo er seinem Hobby, dem Ankauf „alter Bücher und Antiquitäten“ frönte. Generell reagierte Georgette auf Massus forschende Fragen mit einer Verteidigung ihres Ehegatten, den sie als einen „sehr sanftmütigen Mann“ beschrieb, der sich liebevoll um die Familie kümmerte. Seine Patienten vergötterten ihn regelrecht, und wenn sie zu den Armen zählten oder sich die Behandlungskosten nicht leisten konnten, nahm Petiot keinen einzigen Sou, wie sie hervorhob.
Doch Georgette musste eingestehen, dass es vor acht Jahren ein Problem gegeben hatte. Ihr Mann musste vorübergehend eine Psychiatrie aufsuchen, „denn ihn plagten Beschwerden nach dem unerwarteten Tod einer Patientin“. Georgette bezog sich damit auf die 33-jährige Raymonde Hanss, die das Bewusstsein verlor, nachdem Petiot einen Zahnabszess behandelt hatte. Hanss’ Mutter machte den Arzt für den Tod ihrer Tochter verantwortlich, doch eine gründliche Untersuchung des Falls wurde niemals eingeleitet.
Massu befragte Georgette danach zu den Ereignissen am 11. März 1944. Laut ihrer Aussage hatte ihr Mann den Morgen mit Hausbesuchen verbracht, wonach sie in ihrem Appartement gemeinsam zu Mittag aßen. Petiot hatte die Wohnung um ungefähr 15 Uhr oder 15.30 Uhr verlassen, „ohne mir zu sagen, wohin er geht“. Marcel weigerte sich stets, sie auf dem Laufenden zu halten. Darin bestand ihr einziger Kritikpunkt an der Ehe.
Er kehrte, so die Ehefrau, um ca. 18 Uhr zurück und behandelte weitere Patienten. Eineinhalb Stunden später, also um 19.30 Uhr, nahmen sie gemeinsam das Abendbrot ein, wobei sie ein Anruf der Polizei unterbrach, die sie wegen des vermeintlichen Kaminbrandes verständigte. Als sich Massu nach Einzelheiten erkundigte und wissen wollte, wie die beiden unmittelbar auf die Nachricht reagierten, beobachtete er, wie die Frage Georgette aus der Fassung brachte. Sie sackte im Stuhl zusammen, hob die Hand vor die Augen und begann zu weinen. Später erzählte Massu, dass Georgette kurz vor einer Ohnmacht gestanden habe.
„Bitte nehmen Sie sich zusammen. Wir wollen Ihnen doch nichts Böses. Wir sind nur an der Wahrheit interessiert. Was hat Ihr Ehegatte gesagt?“
„Ich hörte das Wort Polizei. Marcel schnappte schnell seinen Hut und ging.“
„Sagte er nicht, wohin er wollte?“
„Nein, er gab mir keine Erklärung.“
„Verließ er die Wohnung oft, ohne zu sagen, wohin er ging?“
„Manchmal. Ich habe ihn nie gefragt.“
Georgette gab lediglich zu, dass sie ihm die Treppe hinab folgte, um zu sehen, in welche Richtung er fuhr. Später ergänzte sie die Aussage und meinte, ihm bis zur Ecke Rue Saint-Lazare gefolgt zu sein. Zu einem möglichen Gespräch auf dem kurzen Weg machte sie keine Aussage.
Massu fragte Georgette, was sie direkt danach getan habe. Angeblich hatte sie „die ganze Nacht in einem Sessel auf ihn gewartet“. Machte sie das immer, wenn ihr Mann verschwand, ohne sie über sein Ziel zu informieren? Nein, in dieser Nacht war es anders. „Das Wort ‚Polizei‘ hatte mich beunruhigt.“
„Aber dieses Wort hätte Sie doch gar nicht beunruhigen dürfen, da Sie ja wussten, dass Ihr Mann – wie Sie sagten – niemals etwas Böses hätte tun können. Gab es da noch etwas anderes, das Sie beunruhigte?“
„Heutzutage weiß man ja nie, was mit einem Mann geschieht, der in die Fänge der Polizei gerät.“
In dem Punkt hatte Georgette vollkommen recht. Die Besatzung der Nazis erschwerte kriminalistische Ermittlungen und verringerte den Respekt vor dem Gesetz und dessen Vertretern. Wie Massu Jahre später zugab, beeindruckte ihn die aufrichtige Bemerkung, die sie trotz möglicher negativer Konsequenzen für sich selbst äußerte. Dennoch ließ er nicht locker und befragte die Frau, was sie gemacht habe, unmittelbar, nachdem man die menschlichen Überreste in dem Stadthaus gefunden hatte.
„Dachten Sie an dem Morgen daran, in die Rue Le Sueur zu gehen, um Ihren Mann zu suchen?“
„Nein, ich entschied mich zur Rückkehr nach Auxerre“, antwortete Georgette, da sie mit ihrem Sohn zusammen sein wollte, der in der Stadt seine Ausbildung machte und bei Petiots Bruder Maurice lebte. Sie ging zum Gare de Lyon, um die Verbindung um 19 oder 20 Uhr zu nehmen, erfuhr aber, dass der nächste Zug erst am Montagabend fahre. „Daraufhin kehrte ich in die Rue Caumartin zurück, ging jedoch nicht in meine Wohnung.“
„Warum nicht?“
„Ich weiß es nicht … ich hatte das Gefühl, dass es dort für uns gefährlich ist.“
„Ihre Absicht, umzukehren, steht also in keinem Zusammenhang mit den beiden Polizisten, die Sie direkt vor der Tür gesehen haben?“
„Ich weiß es nicht. Möglicherweise doch.“ Danach meinte Georgette, trotz aller widrigen Umstände gehofft zu haben, ihren Mann irgendwo auf der Straße anzutreffen.
Georgette Petiot ging danach in die Kirche, blieb mehrere Messen lang dort und verbrachte den Rest des Nachmittags an der geschäftigen Bushaltestelle des Bahnhofs Saint-Lazare. Wie sie dem Kommissar erzählte, wartete sie dort auf niemanden. Sie suchte den Ort auch nicht auf, um unerkannt zu bleiben. „Ich hatte einfach Angst und fühlte mich inmitten der Menschen wohler.“
Auf die Frage, wovor sie genau Angst gehabt habe, antwortete Petiot, dass die Abendzeitungen am Bahnhofskiosk ab etwa 18 Uhr auslagen. Sie habe Panik bekommen, als sie das Bild ihres Mannes auf der Titelseite des Paris-Soir entdeckte. In dieser Nacht suchte sie eines der Gebäude ihres Gatten auf, das in der Rue de Reuilly lag, in der Hoffnung, er würde dorthin kommen und eine Erklärung liefern. Er tauchte aber nicht auf. Da sie dort niemanden kannte, verbrachte Georgette die Nacht auf einem Treppenabsatz vor dem Dachboden und kauerte sich in einer Ecke zusammen, wenn sich irgendwo im Haus eine Tür öffnete. Zeitweise flüchtete sie in den Hof des benachbarten Gebäudes, das ebenfalls ihrem Mann gehörte. Wegen der ständigen Angst, entdeckt zu werden, machte sie kaum ein Auge zu.
Am Montagmorgen ging sie dann erneut zum Gare de Lyon und studierte die Abfahrtszeiten. Da der nächste Zug erst um 17.20 Uhr fuhr, verbrachte Georgette einen Großteil des Tages in dem kleinen Restaurant des Hôtel Alicot in der Rue de Bercy 207. Sie kaufte sich die Fahrkarte im letzten Moment und stieg in den Zug nach Auxerre. Nach der dortigen Ankunft um 21 Uhr suchte sie unverzüglich das Appartement ihres Schwagers Maurice in der Rue du Pont auf. Dort hoffte sie, ihren Mann anzutreffen, doch das Haus war zu dem Zeitpunkt leer. Georgette wartete, verängstigt und unschlüssig, und wusste nicht, was sie jetzt unternehmen sollte.
„Vielleicht in die Rue des Lombards gehen?“, hakte Massu nach.
Der Hinweis erschütterte Georgette. Auch schien sie die Erwähnung der Adresse auf dem Zettel zu verstören, den die Beamten in der Rue Le Sueur fanden. Was danach geschah, beschrieb Massu mit Liebe zum Detail: Petiots Hand öffnete sich, das Taschentuch fiel zu Boden, und sie verlor das Bewusstsein. Es sollte nicht ihre letzte – möglicherweise vorgetäuschte – Ohnmacht mitten in einem Verhör sein.
Frauen von Kriminellen waren – wie Massu später reflektierte – schon eine ganz spezielle „Gattung“:
Es gibt Frauen, die wie ein wildgewordener Panther ihre Männer mit ausgefahrenen Klauen verteidigen, Frauen, die sich kalt und unsensibel geben, denen man jede Information abringen und mit denen man jedes Argument diskutieren muss. Sie beantworten Fragen mit Gegenfragen. Aber es gibt auch Frauen, die die ganze Nacht über kein Wort sagen, obwohl sie vom grellen Licht einer Lampe geblendet werden. Gelegentlich begegnet man Frauen, die zutiefst erschüttert sind und voller Widerwillen erkennen, jahrelang neben einem Monster gelebt zu haben …
In welche Kategorie konnte man Georgette Petiot einordnen? Und wie stand es um Maurice? Massu setzte alles daran, das herauszufinden.
Der Kommissar leitete die erste Befragung von Maurice durch eine Klärung des familiären Hintergrunds ein und fand heraus, dass er, wie auch sein älterer Bruder, von der Tante Henriette Gaston aufgezogen und dem nun verstorbenen Onkel Vidal Gaston unterrichtet worden war. Die Brüder Petiot verband lange ein enges Verhältnis, sie hatten sich aber in den frühen Dreißigern auseinanderentwickelt. Seine Beziehung und die darauf folgende Heirat mit Monique hatten das Verhältnis „ein wenig abgekühlt“, wie er es darstellte. Nach der Hochzeit am 22. September 1934 unterhielten sich die Brüder fünf Jahre lang dann überhaupt nicht mehr miteinander. Nach dem Exodus im Sommer 1940 war Maurice nach eigenen Angaben wieder nach Hause zurückgekehrt und fand heraus, dass sein Warenlager geplündert worden war. Daraufhin unternahm er zur Aufstockung der Vorräte regelmäßige Reisen nach Paris, dank derer die Beziehung der Brüder zueinander wieder besser wurde. „Bei jedem Aufenthalt aß ich bei ihm zu Mittag“, schilderte Maurice die damalige Zeit und erzählte, dass darauf oft noch ein Abendessen mit Marcel, seiner Frau und dem Sohn folgte. Meist hielt er sich zweimal in der Woche in der Hauptstadt auf. Massu wollte wissen, was Maurice über die Rue Le Sueur Nummer 21 sagen könne.
Maurice erinnerte sich daran, dass sein Bruder – eventuell war es auch Georgette gewesen – irgendwann, möglicherweise 1942, über den Erwerb einer neuen Immobilie in Paris geredet hatte. Er versuchte Massu mit aller Überzeugungskraft zu vermitteln, dass sich seine Informationen zu dem Thema darauf beschränkten. „Ich wusste nicht, in welcher Straße das Haus lag, und bin niemals dort gewesen.“
Als der Kommissar ihn unter Druck setzte, änderte Maurice die Aussage. Ja, er kenne die Adresse und sei dort tatsächlich drei oder vier Mal gewesen. Im Juli oder August habe er die von Ungeziefer befallenen Möbel und Teppiche mit Schädlingsbekämpfungsmittel behandelt, wenige Monate darauf, wahrscheinlich im Dezember 1943, dann das Wasser abgestellt, da die Leitung durch den plötzlichen Wintereinbruch geborsten war. Im Jahre 1944 besichtigte er das Haus mit einem Architekten das angeblich letzte Mal, um mögliche Risse zu entdecken, da in ein benachbartes Gebäude Feuchtigkeit eindrang.
Die Frage, ob das alles sei, was er über das Stadthaus wisse, beantwortete er mit einem Ja. Massu sollte schon bald einen guten Grund haben, diese Aussage mit Skepsis zu bewerten.