Читать книгу Der Serienmörder von Paris - David King - Страница 7

Оглавление

DIE DEUTSCHE FINSTERNIS HAT DAS LAND VERSCHLUCKT … FRANKREICH IST EIN ORT DER STILLE, VERLOREN IRGENDWO IN EINER NACHT, IN DER ALLE LICHTER VERLÖSCHEN.

(Antoine de Saint-Exupéry in einem Brief an das New York Times Magazine, 29. November 1942)

Vier Jahre zuvor hatte die Flucht der reichen und privilegierten Bewohner von Paris begonnen. Der Herzog von Windsor, Prinz Georg von Griechenland, die Prinzessin Winnie de Polignac und ihre Nichte Daisy Fellowes, Erbin des Singer-Nähmaschinen-Imperiums, verließen alle die Hauptstadt. Der Aga Khan hatte sich in die Schweiz abgesetzt. Peggy Guggenheim lagerte ihre umfangreiche Kunstsammlung in der Scheune eines Freundes ein und machte sich in ihrem luxuriösen Talbot Richtung Megève auf, dem im Département Haute Savoie gelegenen Skiort in den Savoyer Alpen.

Doch auch viele Schriftsteller, Maler und Künstler flüchteten aus der Stadt des Lichts, wie die Einwohner Paris liebevoll nannten. Sie hatten die Metropole, laut Urteil des Kunstkritikers Harold Rosenberg von der New York Times, in das „[intellektuelle] Laboratorium des 20. Jahrhunderts verwandelt“. Bevor er nach Zürich emigrierte, setzte sich James Joyce in ein Dorf bei Vichy ab. Gertrude Stein und Alice B. Toklas reisten nach Culoz, das in der Nähe von Annecy lag. Marc Chagall, Henri Matisse, René Magritte und Wassily Kandinsky flüchteten in Richtung Süden, wohingegen Vladimir Nabokov sich einen Platz auf dem letzten Liniendampfer nach New York sicherte. Walter Benjamin machte sich auf den Weg, um eine schwierige Gebirgspassage nach Spanien zu bezwingen, doch er schaffte es nur bis nach Portbou, wo er sich im Alter von 48 Jahren für den Freitod entschied.

Die Wegzug aus der französischen Hauptstadt hatte im Mai 1940 stark zugenommen, nachdem die Nazis in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden eingefallen waren. Am Nachmittag des 3. Juni ertönte das beängstigende Heulen des Fliegeralarms. Die Luftwaffe bombardierte die Citroën- und Renault-Werke. Auch das Luftfahrtministerium am Boulevard Victor wurde angegriffen. Das einstündige Bombardement hinterließ eine Spur der Verwüstung – Krater in den Straßen, riesige Schutthaufen und einen Häuserblock, der den Beobachtungen des Journalisten Alexander Werth zufolge „wie ein schlecht geschnittenes Stück Cheddarkäse“ aussah. 254 Menschen starben bei dem Angriff, 652 wurden verletzt.

Als sich die Wehrmacht Paris näherte und die Stadt von Norden, Osten und Westen her beinahe einkesselte, nahm der Exodus dann fast schon epische Dimensionen an. In kürzester Zeit waren die Züge überbucht, was viele Einwohner nötigte, mit dem Auto, dem LKW, dem Pferdewagen – ja, manche sogar mit einem Leichenwagen – aus der Stadt zu fliehen. Noch häufiger mussten sich die Menschen allerdings zu Fuß vor den Nazis in Sicherheit bringen. Sie packten ihre Habseligkeiten – von Matratzen bis hin zu Vogelkäfigen – auf Fahrräder, Motorräder, Kinderwagen, Schubkarren, von Ochsen gezogene Karren, Heuwagen und sogar mobile Verkaufswagen, mit einem Wort auf alles, was nur irgendwie über Räder verfügte.

Scharen von Flüchtlingen quälten sich durch die Sommerhitze und die überfüllten Straßen und wurden häufig von deutschen Tieffliegern unter Beschuss genommen. Nach der Kriegserklärung Mussolinis am 10. Juni griffen auch italienische Flugzeuge an. An den Straßenrändern standen aus Benzinmangel verlassene Autos. In dem bedrückenden Klima aus Hitze und Hunger machten schnell Gerüchte die Runde. Sie ließen die schmerzvollen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg wieder wach werden und verstärkten das Unsicherheitsgefühl angesichts der gegenwärtigen Krisensituation. Niemand wusste, wann man – wenn überhaupt – wieder in die Heimat zurückkehren würde.

Von den 40 Millionen Bürgern Frankreichs befanden sich schätzungsweise zwischen sechs und zehn Millionen auf der Flucht. Die Einwohnerzahl von Paris reduzierte sich auf einen Schlag von drei Millionen auf ungefähr 800.000. Dieser Massenexodus wiederholte sich in vielen Städten Nord- und Ostfrankreichs, da die Menschen in Richtung Süd oder Südwest flohen. Der Pilot und zukünftige Autor des Welterfolgs Der kleine Prinz schaute von seinem Flugzeug der 2/33-Aufklärungsstaffel auf die Menschenmassen hinab und verglich das Geschehen „mit dem Auftreten eines Stiefels, der mitten in einen Ameisenhügel getreten war“ und die Unglücklichen in alle Richtungen vertrieben hatte. Die Menschen begaben sich auf einen Marsch „ohne Angst, ohne Hoffnung und waren nicht wirklich verzweifelt, so als folgten sie einer inneren Pflicht“.

Ab dem 9. Juni begann selbst die französische Regierung, Paris zu verlassen, und setzte sich in den Süden ab – zuerst nach Orléans, dann in das Châteaux de la Loire, woraufhin sich die politischen Führer nach Bordeaux zurückzogen.

Fünf Tage nach ihrer Flucht rollten deutsche Kradfahrer durch die nördlichen Vororte von Saint-Denis und stellten sich auf dem Place Voltaire auf. Am frühen Nachmittag hatte die deutsche Wehrmacht ihre erste Parade abgehalten und war zum Rhythmus von Trommeln und zur Melodie von Querflöten im Stechschritt über die ansonsten totenstille Avenue des Champs-Élysées marschiert. „Niemals habe ich eine so unheimliche und bedrückende Atmosphäre wie in Paris erlebt“, beschrieb Robert Murphy die Szenerie von seinem Büro in der Botschaft der Vereinigten Staaten aus, die am Place de la Concorde lag.

Mindestens 16 Menschen nahmen sich an diesem Tag in Paris das Leben. Der Neurochirurg und Chefarzt des American Hospital, Comte Thierry de Martel, setzte sich eine Strychnin-Injektion. Der Schriftsteller Ernst Weiß, ein Freund von Franz Kafka, schluckte eine Überdosis Barbiturate, und als diese ihre Wirkung verfehlten, griff er zu einer Rasierklinge und schnitt sich die Pulsadern auf. Er starb innerhalb von 24 Stunden. Joseph Meister, der 64-jährige Concierge des Institut Pasteur, hätte sich niemals den Deutschen gefügt und setzte seinem Leben mit einem gezielten Kopfschuss ein Ende. Er war der erste Mensch gewesen, den Louis Pasteur von der Tollwut geheilt hatte.

Viele Pariser befanden sich in einem Schockzustand. Was der deutschen Armee unter Führung des Kaisers in vier Jahren brutalstem Gemetzel im Ersten Weltkrieg nicht gelungen war, hatte Adolf Hitler in nur sechs Wochen erreicht. Frankreich musste die wohl beschämendste Niederlage in der Geschichte der Republik hinnehmen. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Die Deutschen besetzten 60 Prozent des Landes und verleibten sich dabei ein riesiges Territorium nördlich der Loire ein, in dem rund zwei Drittel der Bevölkerung des Landes lebten und das fast 70 Prozent des fruchtbarsten Ackerlandes aufwies und ca. 75 Prozent der Industrie. Die Besatzungsmacht kontrollierte nicht nur Paris, sondern auch die strategisch wichtigen Küstenabschnitte an Atlantik und Ärmelkanal. Frankreich musste für die Kosten der deutschen Besatzung aufkommen, festgesetzt auf eine exorbitant hohe Tagesrate von 400 Millionen Francs, die darüber hinaus noch in einem Verhältnis von 20:1 (Francs/Reichsmark) umgetauscht werden musste. Im Laufe der nächsten vier Jahre überwies das Land dem Dritten Reich eine Summe von insgesamt 631.866 Millionen Francs, fast 60 Prozent des nationalen Einkommens.

Der Rest Frankreichs wurde aufgeteilt. Die Deutschen reklamierten das Elsass und Lothringen für sich, ebenso wie auch die nordöstlichen Gebiete und das Département Pas-de-Calais. Letzteres verwaltete das Kommando des Militärbefehlshabers in Brüssel, das den Franzosen strikt den Zutritt untersagte. Der Streifen von Menton bis hin zur südöstlichen Grenze wurde an Deutschlands Verbündeten Italien abgetreten. Die verbleibenden Gebiete südlich der Loire deklarierte man als „freie“ oder unbesetzte Zone. Vichy, ein Ort bekannt für sein Mineralwasser und die Welt der Casinos, war die Hauptstadt dieses dem Anschein nach unabhängigen Staates. Während sich die französische Regierung dort im Sommer wieder neu aufstellte, musste sie die „Herrschaftsrechte der Besatzungsmacht“ anerkennen. Das Wort Kollaboration – einst ein Synonym für Zusammenarbeit – nahm nun eine andere, unheilvolle Bedeutung an.

In Paris folgte auf den Blitzkrieg der „Ritzkrieg“. Hochrangige Nazi-Beamte strömten in die Stadt, um die Kontrolle zu übernehmen und die eleganten Villen-Gegenden der westlichen Distrikte zu besetzen. Das Oberkommando der deutschen Besatzungsmacht, das die Regierungsgeschäfte in der besetzten Zone übernahm, zog in das noble Hôtel Majestic an der Avenue Kléber. Der Kommandant oder Gouverneur/Bürgermeister des Großraums Paris entschied sich für das Hôtel Meurice in der Rue de Rivoli als Residenz, während die für Spionageabwehr und den militärischen Nachrichtendienst zuständige Zentrale der Abwehrstelle Frankreich das Hauptquartier im Hôtel Lutétia in der Nähe des Boulevard Raspail einrichtete. Die Luftwaffe okkupierte das Palais Luxembourg, wohingegen die Kriegsmarine verschiedene Gebäude am und um den Place de la Concorde herum in Beschlag nahm.

Für Nazioffiziere und auserwählte Kollaborateure war aus Paris das Babylon des Dritten Reichs geworden. Der deutsche Botschafter Otto Abetz gab in der Rue de Lille ausschweifende Champagner- und Kaviar-Feste. Nicht weniger extravagante Gelage wurden vom Luftwaffengeneral Friedrich-Carl Hanesse im Anwesen der Rothschilds in der Avenue de Marigny ausgerichtet. Berühmte Restaurants wie das Maxim’s, das Lapérouse und das La Tour d’Argent richteten sich nach den Launen der Besatzer und erfüllten jeden Wunsch. Cabarets, Nachtclubs und Bordelle, die meist durch Ausnahmeregelungen von der strikten Einhaltung der Sperrstunde befreit waren, taten es ihnen gleich. Kathleen Cannell, die Korrespondentin der New York Times, berichtete ungefähr zur Zeit der Leichenfunde in der Rue Le Sueur im März 1944 aus dem besetzten Paris und beschrieb die allgemeine Stimmung als einen „fälschlicherweise fröhlichen Tanz auf einem brodelnden Vulkan“.

Für die meisten Franzosen hatten die vier Besatzungsjahre seit dem Einmarsch der Deutschen unter den Vorzeichen von Angst, Kälte, Hunger und Demütigung gestanden. Doch niemand sah sich mit solch einem grausamen Schicksal konfrontiert wie die Juden. Unmittelbar nach dem Sieg der Deutschen verloren die 200.000 Juden in Frankreich die grundlegenden Bürgerrechte. Ab dem 3. Oktober 1940 durften sie keine höheren Posten in der Regierung, im Bildungswesen, im Verlagswesen, im Journalismus, beim Film und beim Militär mehr besetzen. Am darauf folgenden Tag erhielten die Behörden die Vollmacht, die in anderen Ländern geborenen Juden in „speziellen Lagern“ zu internieren. Drei Tage später hob man das Crémieux-Gesetz auf, wodurch 1.500 algerische Juden die Staatsbürgerschaft verloren.

Eine schier endlose Zahl von Gesetzen wurde erlassen, die einzig und allein der Diskriminierung der Juden dienten. Anfang 1941 durften Juden nicht mehr im Bankwesen, bei Versicherungen, als Immobilienmakler oder in Hotels arbeiten. Eine Quotenregelung beschränkte die Zahl der Juden, die als Juristen oder Mediziner arbeiten konnten, auf zwei Prozent, eine Vorschrift, die man dann in der Folge sogar in ein totales Berufsverbot umwandelte. Die jüdischen Geschäfte wurden „arisiert“, das hieß, die Regierung enteignete die Eigentümer und übergab den Besitz an „Nicht-Juden“ oder man drängte die Juden zum Verkauf zu einem Spottpreis. Das Ziel bestand darin, „jeglichen jüdischen Einfluss auf die nationale Ökonomie auszumerzen“.

Schon kurz darauf begannen die sogenannten „Rafles“, Razzien mit dem Ziel der Festnahme von Juden. Am 14. Mai 1941 führte der erste „Zusammentrieb“ zur Verhaftung – mit anschließendem Arrest – von 3.747 unschuldigen männlichen Juden. Zehn Monate später, am 27. März 1942, verließ der „Sonderzug 767“ das Land, in dem 1.112 Juden in überfüllten und überhitzten Passagierwagen der dritten Klasse saßen. Das Ziel war das neue Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. 84 Deportationen folgten, die meisten in abgeschlossenen Viehwagen. Der SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral Reinhard Heydrich und der SS-Obersturmbannführer und Organisator der „Endlösung“ Adolf Eichmann setzten die französischen Dienststellen permanent unter Druck, um die Geschwindigkeit der Abtransporte zu erhöhen. Insgesamt deportierte man 75.721 französische Juden – Männer, Frauen und Kinder – in die Todes- und Konzentrationslager der Nazis im Osten. Nur 2.800 kehrten wieder zurück.

Nach den Worten des Historikers Alistair Horne erlebte Paris unter der Besatzung der Nazis die vier dunkelsten Jahre in der 2.000-jährigen Geschichte der Stadt. Für viele Pariser war es ein Alptraum an Tyrannei und Gewalt, was zu verzweifelten Fluchtanstrengungen führte – an denen sich ein Mann in ihrer Mitte unbarmherzig und skrupellos bereicherte.

Nachdem Massu das Haus durchsucht hatte, verhielt er sich – um es gelinde zu sagen – recht merkwürdig. Er machte sich weder direkt auf den Weg in die Rue Caumartin, um Dr. Petiot zu suchen, noch schickte er Ermittlungsbeamte dorthin. Massu ging nach Hause.

Ein französisches Gesetz, das bis zum 13. Dezember 1799 zurückreichte (den 22. Tag des dritten Monats des französischen Revolutionskalenders), untersagte der Polizei, Bürger mitten in der Nacht aufzusuchen, außer sie wurden direkt in das jeweilige Haus gebeten oder es handelte sich um einen Notfall wie etwa ein Feuer oder eine Überschwemmung. Artikel 76 der Konstitution des Jahres acht, wie man die Vorgabe nannte, war in Kraft gesetzt worden, um die nächtlichen Verhaftungen während des Terrorregimes zu unterbinden. Doch in einem Fall solcher Tragweite hätte Massu zumindest Männer außerhalb von Petiots Appartement postieren können. Offensichtlich musste es eine andere Erklärung für sein passives Verhalten geben.

Und in der Tat vermutete der Kommissar, dass die Rue Le Sueur Nummer 21 von der Gestapo, der Geheimen Staatspolizei der Deutschen, genutzt worden war, die die Kontrolle der inneren Angelegenheiten Frankreichs an sich gerissen hatte. Die Gestapo, gegründet im April 1933, um die „Feinde des Reichs“ zu eliminieren und damit Hitlers Macht zu konsolidieren, residierte anfangs in einer ehemaligen Kunstschule in der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin. Über die Jahre war sie dann von 300 auf 40.000 Mitarbeiter angewachsen und hatte ein Netz von Informanten über das ganze besetzte Europa gelegt. Im Namen von Recht und Ordnung hatte man die Gestapo mit nahezu allen Befugnissen ausgestattet: Spionage, Verhaftungen, Folter und sogar Mord. Die Agenten brauchten wegen ihrer Taten keine Strafverfolgung zu befürchten. Die Organisation stand über dem Gesetz, und es gab nicht die geringste Möglichkeit, ihr Tun auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen.

Massu hatte sicherlich seine Gründe, um eine mögliche Verbindung des Falls zur Gestapo zu vermuten. Nicht nur das Gemetzel, das erkennbar im Haus stattgefunden hatte, und die Brutalität am Tatort wiesen auf die Deutschen hin, sondern auch die Tatsache, dass die Geheimpolizei Büros im noblen 16. Arrondissement unterhielt. Gleich um die Ecke, in der Avenue Foch, lagen die Gestapo-Gebäude Nummer 31, 72, 84 und 85. Der deutsche Sicherheitsdienst (SD), der mit der SS in Verbindung stand, nutzte die Häuser Nummer 19–21, 53, 58–60 und 80 zusammen mit der Gestapo. In der Straße befanden sich zudem noch weitere Büros des Militärs, der Gegenspionage und der Partei.

Eine Hakenkreuzfahne wehte vom Gebäude gegenüber von Petiots Besitztum. Die Garage des Hauses Nummer 22 war von Albert Speers Organisation „Todt“ beschlagnahmt worden, einem riesigen Versorgungsunternehmen, das die Bauvorhaben im besetzen Europa überwachte und die Verantwortung für den Materialnachschub trug. In Paris kümmerte sich die Gruppe um Kleinigkeiten wie das Einschmelzen von Bronzestatuen für die Rüstung, aber auch um Großprojekte wie die Bereitstellung von Arbeitskräften für den Atlantikwall, errichtet als Verteidigungsbollwerk gegen die Invasion der Alliierten.

Die französische Polizei hatte keinerlei Möglichkeit, gegen die Gestapo und ihre Aktivitäten einzuschreiten. In einer Verfügung, unterzeichnet von SS-Obergruppenführer und Polizeigeneral Carl-Albrecht Oberg am 18. April 1943, musste sich René Bousquet, der Generalsekretär der französischen Polizei, verpflichten, mit der Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten sowie „jederzeit und effizient für Ruhe und Ordnung“ zu sorgen. Mit dem Schriftstück zwang man die Franzosen, die deutsche Polizeimacht im Kampf gegen die „Angriffe der Kommunisten, Terroristen, Agenten des Feindes, gegen Saboteure und deren Helfershelfer – Juden, Bolschewisten und Angloamerikaner“ – zu unterstützen. Um die französische Polizei noch stärker zu demütigen, waren die Beamten gezwungen, deutschen Amtspersonen bei jedem Treffen, also auch auf der Straße, zu salutieren. Die Anweisung war als die berüchtigte „Grußpflicht“ bekannt.

Dieser Unterordnung musste unbedingt Folge geleistet werden, denn nach Ansicht der Franzosen war sie immer noch jener Alternative vorzuziehen: eine Polizei, aufgestellt einzig und allein von der Besatzungsmacht, im Verbund agierend mit den zahlreichen Militärorganisationen, die mit den Nazis kollaborierten. Solche Konstellationen hätten unweigerlich zu beängstigender Polizeibrutalität geführt und darüber hinaus weniger Möglichkeiten zur Sabotage geboten. Allerdings verabscheuten viele Mitglieder der Résistance das Verhalten der Polizei dennoch als Zeichen einer feigen und opportunistischen Kollaboration zwischen dem Feind und den – ihrer Ansicht nach – Verrätern.

Trotz der Vermutung, dass die menschlichen Überreste in der Rue Le Sueur mit der Gestapo in Verbindung stehen könnten, quälten Massu Zweifel. Erstens: Niemand hatte ihn gewarnt, sich vom Tatort fernzuhalten. Das wäre zwangsläufig vor oder kurz nach der Entdeckung der Leichen geschehen, hätte es eine Verbindung zur Gestapo gegeben. Zweites: Er war beim Tatort keinem Gestapo-Mann begegnet, was mit Sicherheit geschehen wäre, wenn die Gestapo das Gebäude in irgendeiner Art und Weise genutzt hätte. Stunden, nachdem ihn sein Sekretär verständigt hatte, wartete Massu immer noch darauf, dass sich die Deutschen einschalten würden.

Kommissar Massu erreichte sein Büro am Quai des Orfèvres 36 auf der Île de la Cité um ungefähr 9 Uhr am Morgen des 12. März 1944. Von dem Fenster im dritten Stock der Kriminalpolizeibehörde konnte er auf die Rosskastanienbäume des Place Dauphine blicken, auf das Restaurant Le Vert-Galant und die Pont Neuf, die älteste Brücke von Paris, die trotz der zunehmenden Bombardements der Alliierten immer noch stand.

Einige Inspektoren verfassten Berichte, während andere sich um die in den Fluren wartenden Häftlinge kümmerten. Wie sich herausstellte, war niemand von ihnen beim Tatort gewesen. Massu nahm sich die erst wenige Stunden zuvor angelegte Akte Petiot vor und bereitete sich auf eine erneute Besichtigung des Hauses vor. Begleiten sollten ihn einige hochrangige Beamte der Stadt und der Polizei, darunter sein direkter Vorgesetzter, Polizeipräfekt Amédée Bussière, der den Tatort unbedingt sehen wollte, da er sowohl den französischen als auch den obersten deutschen Behörden Bericht erstatten musste. Um 10 Uhr gab das von den Deutschen kontrollierte Radio Paris den grauenhaften Leichenfund im sogenannten „Beinhaus“ an der Rue Le Sueur bekannt. „Petiot ist aus Paris geflohen“, verlas der Moderator und verschwendete dabei keine Zeit darauf, Spekulationen über den Aufenthaltsort des Verdächtigen anzustellen. „Es ist so gut wie sicher, dass er zu den Terrorbanden von Haute Savoie zurückkehrte.“ So bezeichneten die Nazis die Kämpfer der Résistance, die sich in den alpinen, an die Schweiz angrenzenden Regionen versteckten. „Dort wird er seine Aufgabe als medizinischer Leiter wieder aufnehmen.“ Im Rahmen dieser ersten Berichterstattung, aber auch am darauf folgenden Tag, zeichneten die Sender ein Porträt des Mörders als eines abtrünnigen Terroristen, der sich gegen das Dritte Reich auflehnte.

Allerdings hatte Radio Paris keinen guten Ruf und konnte nicht als sichere Quelle für hieb- und stichfeste Informationen gelten.

„Radio Paris lügt, Radio Paris lügt, Radio Paris ist deutsch“, lautete ein bekannter Refrain, gesungen zur Melodie von „La Cucaracha“. War Petiot tatsächlich ein Mitglied der Résistance? Innerhalb der Polizei kursierten schon Gerüchte über eine mögliche Verbindung des Verdächtigen zu geheimen patriotischen Organisationen. Massu erfuhr zudem, dass ein angeblicher Anführer eines Netzwerks der Résistance zum Tatort gekommen war, mit den Beamten gesprochen und nach einem Rundgang durch das Gebäude den Ort mit ihrem Einverständnis wieder verlassen hatte. Die beiden Streifenpolizisten Fillion und Teyssier stritten die Behauptung zwar ab, doch Massu wollte die beiden noch persönlich befragen.

Die Nachricht über die Entdeckung der menschlichen Überreste verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Viele Pariser machten bei ihren Spaziergängen einen Umweg durch die Rue Le Sueur, nur einen kurzen Fußweg vom Triumphbogen, der Avenue des Champs-Élysées und dem waldähnlichen Parkgelände Bois de Boulogne entfernt. So manche Frau hielt dort kurz auf dem Weg zu oder von den Einkäufen an und unterbrach damit die tägliche Routine, sich mit einem Korb in die langen Schlangen vor der Bäckerei, der Molkerei, dem Metzger, dem Gemüsehändler, dem Tabakgeschäft oder sonst wo einzureihen, um rationierte Ware minderer Qualität zu erstehen – falls überhaupt etwas zu bekommen war. Als Madame Legouvé, eine von Petiots Nachbarinnen, mit ihrer Tochter an diesem Morgen spazieren ging, schnappte sie das Gespräch von zwei Männern auf, die sich über den Fund unterhielten. Einer von ihnen berichtete sichtlich angewidert von dem Gestank im Umkreis des Arzthauses und behauptete, dass es „der Tod“ sei, wohingegen der andere antwortete: „Der Tod hat keinen Geruch.“

In Madame Legouvés Appartementhaus entfachte das Ereignis unter den Mietern hitzige Diskussionen. Einer bemerkte, dass der auf dem Bürgersteig wahrnehmbare Gestank nicht mit dem „wirklich schlimmen und schrecklichen Gestank“ im Innenhof zu vergleichen sei. Monsieur Mentier, ein weiterer Nachbar, zuckte nur mit den Schultern und wollte sich nicht in die Spekulationen einmischen. Seiner Ansicht nach entwich der Geruch einem beschädigten Kanalisationsrohr. Ein Concierge hingegen deutete auf eine schreckliche Wahrheit hin: „Wenn ich Ihnen alles erzähle, was ich weiß, dann würden Sie Ihre Meinung schleunigst ändern.“

Der Serienmörder von Paris

Подняться наверх