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MEIN MANN SCHENKTE MIR EINE ROSETTE-HALSKETTE, EINEN SOLITÄR-RING MIT EINEM FÜNFKARÄTER, SOWEIT ICH MICH ERINNERN KANN … UND EIN AUS GOLD GEFERTIGTES KREUZ.

(Georgette Petiot)

Zu den Schwierigkeiten, denen die Menschen in Paris angesichts des Mangels an Nahrungsmitteln und Treibstoff ausgesetzt waren, kamen noch die Ausgangssperre, das Verdunklungsgebot, die heulenden Luftschutzsirenen und die ständig zunehmende Gefahr, bei den Deutschen denunziert zu werden, hinzu. „Paris ist vor die Hunde gegangen“, meinte Jean-Paul Sartre. Er verglich die besetzte Stadt mit „leeren Weinflaschen, die im Schaufenster eines Geschäfts standen, das keinen echten Wein mehr anbot“.

Als Reflex auf die missliche Lage galt von nun an für viele Pariser das sogenannte „Système D“, ein landläufiger Begriff für die „Do-It-Yourself“-Mentalität. Die mageren Ressourcen mussten so weit wie möglich gestreckt und mit eigentlich inakzeptablen Substituten ergänzt werden. Kaffee wurde aus Chicorée, Kichererbsen und Eicheln gebraut. Zur Herstellung von Tee behalf man sich mit Apfelschalen und Milch, zu der man verdünnte Magermilch gab. Zigaretten drehte man mit Papier aus Jerusalemartischocken oder Brennnesseln, und von Tomaten zog man nach dem Kochen die Haut ab, um sie länger haltbar zu machen. Zum Abendessen stand häufig dünne Lauchsuppe auf dem Tisch, ergänzt durch ganz neue „Lieblingsgerichte“ wie Steckrüben, die man früher nur als „Kuhfutter“ gekannt hatte. Um dem faden Nachtisch ein wenig Geschmack zu verleihen, reichte man Kastanien, die sehr teuer und schwer zu bekommen waren.

Möhren, Bohnen und verschiedene Gemüsesorten baute man in Blumenkästen auf den Fenstersimsen, auf Dächern und großen öffentlichen Flächen wie den Tuilerien, dem Jardin du Luxembourg und der Esplanade des Invalides an. Kaninchen und Hühner wurden auf Balkonen oder in Besenschränken gezüchtet. Mit den Jahren waren so gut wie keine Tauben mehr in den öffentlichen Parkanlagen zu sehen. Der Präfekt von Paris warnte vor möglichen gesundheitlichen Folgen beim Verzehr von „Katzenbraten“. Während der Besatzung durch die Nazis konsumierten Männer und Frauen nur die Hälfte der Kalorien verglichen mit der Zeit der Wirtschaftkrise in den Jahren 1935 bis 1938. Es ist gut möglich, dass den Franzosen im Vergleich zu den anderen Europäern die wenigsten Lebensmittel zur Verfügung standen.

Im März 1944, als der Winter endlich den Frühling einziehen ließ, beobachtete Massu „das Ballett der Knospen“ auf den Quais, in den Parks und auf den Fenstersimsen. Doch er hatte leider nicht genügend Zeit, das prächtige Spiel der Farben zu genießen. Endlose Sitzungen mit den Leitern der verschiedenen Abteilungen und obersten Ermittlern bestimmten sein Leben. Wie Massu witzelnd bemerkte, wirkte das auf ihn wie ein Ministerrat. „Ich habe dieses Gequassel niemals gemocht. Das ist reine Zeitverschwendung“, ärgerte er sich. Bei den Treffen kam er oft spät, verließ sie früh und schaute ungeduldig auf die Uhr, denn er war voll und ganz mit dem Petiot-Fall beschäftigt.

Nachdem sich Madame Petiot in Massus Büro von ihrer Ohnmacht bzw. fingierten Ohnmacht erholt hatte, bot ihr der Kommissar an, sie zur Wohnung im zweiten Stock der Rue Caumartin zu begleiten. Massu ging als Erster aus dem Büro und wurde von einer Horde Reporter und Fotografen empfangen. Es hagelte förmlich Fragen. „Hat sie gestanden?“, schrie ein Journalist. „Half sie dabei, die Leichen zu entsorgen?“, fragte ein weiterer. „Verhalf sie ihrem Mann zur Flucht?“

„Aber meine Herren“, versuchte Massu die aufgeregte Stimmung zu beschwichtigen. „Mein Sekretär wird Ihnen die Fragen beantworten.“ Als die Meute zum anderen Büro rannte, um nichts von der Pressemitteilung zu verpassen (und wahrscheinlich schon über eine sensationsheischende Schlagzeile nachdachte), flüchtete Massu zusammen mit Madame Petiot den Flur hinunter und schlüpfte in einen Wagen, der schon am Quai wartete.

In der nur wenige Kilometer entfernt gelegenen Rue Caumartin standen ungefähr 100 Schaulustige dicht gedrängt auf den Bürgersteigen und der Straße. Auch hier geiferten Reporter und Fotografen nach einer Story. „Diese Kerle vermehren sich wie die Fliegen“, kommentierte Massus Chauffeur das Phänomen. Man hatte sogar schon eine Fernsehkamera aufgebaut, um die Ankunft auf Zelluloid zu bannen.

„Mörder!“ Georgette schrie beim Versuch, sich mit Massu zum Appartement vorzukämpfen, um sich. „Ihr seid die Täter! Ihr giert danach, mich leiden zu sehen!“ Sie sei nur nach Yonne gereist, um ihren Sohn zu sehen, brüllte die verstörte Frau der Menge entgegen.

Nachdem ein von den Beamten beauftragter Schlosser die seit der Durchsuchung verschlossene Tür geöffnet hatte, betraten Massu, Petiot und ein Ermittlerteam die Wohnung. Während die Beamten die Räumlichkeiten erneut durchsuchten, setzte sich Petiot in einen gemütlichen Sessel im Wohnzimmer, das durch alte chinesische Vasen, feinstes Porzellan und edle Wandteppiche Luxus widerspiegelte. Der Kommissar setzte das Verhör fort. „Wie haben Sie hier gelebt?“

„Als gute Bürger der Mittelschicht, die wir nun mal sind“, erwiderte sie in einem wütenden Tonfall, was sich nach Massus Empfinden aber teilweise noch auf die Begegnung mit der feindseligen Presse zurückführen ließ. „Wir haben oft das Theater besucht und sind ins Kino gegangen. Das ist doch, so viel ich weiß, nicht verboten, oder?“ Massu fragte, ob ihr Mann häufig frei hatte. „Offensichtlich“, antwortete sie, obwohl er oft mitten bei einer Vorstellung den Saal verlassen musste.

„Hat er gesagt, wohin er ging?“

„Natürlich zu seinen Patienten.“

„Waren Sie nicht über all die Juwelen und das feine Leinen erstaunt, die Ihr Mann in seinem Fahrradanhänger mitbrachte?“

„Manchmal.“

„Hat er das erklärt?“

„Ja, er erwarb die Güter auf legale Art.“ Sie erzählte von den Käufen bei Drouot, Frankreichs ältestem und bekanntestem Auktionshaus, das 1852 von Napoleon III. gegründet worden war und nur wenige Fußminuten von Petiots Appartement entfernt lag. Sowohl die Auktionatoren als auch die berühmten, in schwarz gekleideten Portiers mit den roten Kragen könnten für ihn bürgen, meinte sie. Petiot habe viel Zeit dort verbracht und zusammen mit Verkäufern in einer Ecke gestanden, um über die Stücke und die Gebote zu reden.

„Und was hat es mit den vielen erotischen Drucken auf sich, die wir fanden?“

„Das ist ganz einfach die Besessenheit eines Sammlers.“

Am Ende der Durchsuchung hatte die Polizei keine Beweise gefunden, um eine Mitschuld Georgettes an den Morden zu belegen. Sie fanden zwar einen fünfkarätigen Diamantring, den sie aber als Geschenk ihres Mannes erklärte. Auf Basis dieses Fundes könnte die französische Polizei sie später des Besitzes von Diebesgut beschuldigen. Zum jetzigen Zeitpunkt hielt Massu eine Anklage jedoch für überflüssig. Er bat sie, eine Tasche zu packen und mit ihm auf die Wache zurückzukehren. Nachdem er sie durch die Menge zum Wagen eskortiert hatte, wunderte sich Massu über die vielen neugierigen Menschen, die unverhohlen durch die Scheiben gafften. Georgette hielt sich daraufhin ein Taschentuch vor das Gesicht. Der Chauffeur musste mehrmals die Hupe betätigen, damit der Mob Platz zur Durchfahrt machte.

Georgette Petiot wurde ins Hôtel-Dieu gebracht, das älteste Krankenhaus der Stadt. Im Schatten von Notre Dame auf der Île de la Cité gelegen, beherbergte es die Kranken und Verwundeten auf strengstens nach Deutschen und Franzosen getrennten Stationen. Darüber hinaus verweilten hier wichtige Zeugen bei Kriminalprozessen. An diesem Ort, so glaubte man, könnte Madame Petiot Fragen beantworten, geschützt vor Reportern, Fotografen, Kamerateams, einer aufgewiegelten Menge oder eventuell sogar Personen, die ihr (oder genauer gesagt Monsieur Petiot) – begründet oder unbegründet – die Schuld für das Verschwinden eines Menschen gaben. Massu hoffte zudem, dass er durch die engmaschige Überwachung seine wohl wichtigste Informationsquelle vor einem möglichen Selbstmordversuch schützen könnte.

Marcel und Georgette Petiot heirateten am 4. Juni 1927 in ihrer Heimatstadt Seignelay. Georgettes Vater, Nestor Lablais, ein ehemaliger Schlafwagenportier einer Bahngesellschaft, besaß in dem Ort eine Gaststätte und Pension, ihre Mutter, Anna Villard Lablais, hatte vor der Hochzeit dort als Zimmermädchen gearbeitet. Als Georgette 14 Jahre alt war, zog die Familie nach Paris, wo ihr Vater das Restaurant Côte d’Or im 7. Arrondissement, in der Nähe der Chambre des Députés, des Parlaments, erwarb. Lablais war schnell unter dem Spitznamen „der lange Arm“ bekannt, da er seine Gäste beeinflusste: prominente Politiker, Geschäftsleute und weitere gesellschaftliche Persönlichkeiten. Er erkannte schon früh das Talent und Potential des Schwiegersohns.

Auch andere sagten Villeneuve-sur-Yonnes jungem Bürgermeister eine glänzende Zukunft voraus. Petiots Befürworter verglichen ihn sogar mit Georges Clemenceau, einem französischen Arzt, der in die Politik gewechselt war und zu allerhöchsten Weihen gekommen war. Henri Chéron, ein der Hochzeit beiwohnender Politiker, erklärte der Braut, dass er im Fall der Übernahme der Staatsmacht ihn als einen seiner Minister berufen würde. Chéron sollte einige Jahre darauf tatsächlich hohe Positionen besetzen, darunter ab 1934 zwei Regierungszeiten lang als Finanz- und Justizminister. Doch am Ende dieser Zeit wurde Petiots vielversprechende Karriere als der „neue Clemenceau“ durch den Skandal natürlich unmöglich gemacht.

Während Petiots Amtszeit als Bürgermeister verschwanden häufig kleinere Gegenstände aus dem Rathaus. Manchmal waren es auch Bargeldbeträge, meist aber eher wertloser Plunder wie Löffel, ein Aschenbecher oder ein kleines Andenken, das in der Tasche Platz fand. Die Bürger tuschelten schon bald über die merkwürdige Marotte ihres Ortsvorstehers. Depond-Clémet, ein Schmied, erinnerte sich, wie Petiot seine Werkstatt aufsuchte, um sich Teile für den Sportwagen anfertigen zu lassen. Da der Bürgermeister schnell und rücksichtslos fuhr, wurde er in kürzester Zeit zu einem regelmäßigen Besucher. Petiot kam „summend, pfeifend und witzelnd“ vorbei, tratschte ein wenig und interessierte sich für die Tätigkeiten der Arbeiter. Fast jedes Mal nach seinem Besuch fehlte etwas, ein Werkzeug oder ein Schlüssel. Als ihn einer der Angestellten der Schmiede einmal auf frischer Tat ertappte, legte der Bürgermeister das Teil wieder zurück, lachte, aber entschuldigte sich nicht.

Während seiner Amtszeit beschuldigte man Petiot noch anderer, bizarrer Straftaten. Einmal vermutete man, dass er sogar eine Trommel entwendet hatte. Der Spielmannszug der gegnerischen rechtslastigen Partei hatte am Abend vor dem Konzert im Festsaal des Rathauses seine Instrumente aufgebaut. Bei der Ankunft am nächsten Morgen entdeckten die Musiker, dass ihnen die Basstrommel fehlte. Innerhalb nur weniger Tage erhielt ein anderer Musikzug der Stadt, der oft für Petiots sozialistische Partei auftrat, eine neue, erst kürzlich lackierte Trommel, zufälligerweise exakt so groß wie die entwendete. Es war ein Geschenk des Bürger­meisters.

Petiot polarisierte die Bewohner der Stadt, viele Bürger aber priesen seine Leistungen. Die Reform der Grundschule, die Modernisierung des Abwassersystems, die Verbesserungen bei der Müllabfuhr und der Bau einiger Annehmlichkeiten wie eines Tennis- und eines Kinderspielplatzes zählten zu den unbestreitbaren Leistungen des Arztes. Petiot bewegte sogar die Bahngesellschaft zu einem häufigeren Halt im Städtchen. Angeblich soll er die Geschäftsführer von der Notwendigkeit überzeugt haben, indem er sich symbolisch vor einen langsam fahrenden Zug warf.

Andere jedoch kritisierten den Bürgermeister wegen seiner skrupellosen Taten, worunter Verstrickungen in Korruptionsaffären und ein beinahe schon diktatorischer Umgang mit dem Stadtrat zählten. Kontroversen charakterisierten die Amtszeit. Weiterhin verschwanden kleinere Geldbeträge und andere Gegenstände. Zumindest ein Angestellter im Rathaus, Léon Pinau, kündigte und behauptete, dass er sich nicht in den Strudel der Skandale ziehen lassen wolle, die mit Sicherheit noch vom Bürgermeisterbüro ausgehen würden.

Wie nicht anders zu erwarten, führte dann ein kleiner Skandal im Sommer 1931 zu Petiots Rücktritt. Vorausgegangen waren langwierige Ermittlungen hinsichtlich des Diebstahls von Öl und Treibstoff. Bei einer Routine-Rechnungsprüfung in seinem Büro fand man 2.890 Francs Gebühren aus dem Verkehrsmeldeamt (es handelte sich hier um Anträge zur Nummernschilderfassung), die nicht weitergeleitet worden waren. Petiot beschuldigte seinen Sekretär des Fehlers, der die volle Verantwortung auf sich nahm und auf sein Alter, die schlechte Sehkraft und Erschöpfung wegen zu vieler Überstunden verwies. Allerdings wurde Petiot Ende August suspendiert. Am 26. des Monats, einen Tag, bevor die Suspendierung in Kraft trat, legte er das Amt nieder.

Allerdings kehrte Petiot mit Elan und Schwung zurück und ließ sich auf eine weitere intensive, leidenschaftlich geführte und – wie nicht anders zu erwarten – kontroverse Wahlkampfkampagne ein. Er erzählte den Einwohnern, wie er durch die Kriegserfahrungen die „Menschen lieben lernte“ und dass diese Erlebnisse ihn dazu bewogen hätten, die Laufbahn eines Arztes anzustreben, um ihre Gesundheit zu verbessern. Seine Gegner versuchten ihn mit bissiger Rhetorik zu bekämpfen: „Trocknet Petiot im Sumpf seiner von ihm gebauten Kanalisation aus“, lautete ein Slogan auf einem Wahlkampfplakat.

Petiots übersprudelndes Selbstbewusstsein und seine unorthodoxen Strategien erwiesen sich als Vorteil. Zum Ende des Wahlkampfs hin gestattete er seinem Herausforderer Henri Guttin, als Letzter bei einer Veranstaltung im Rathaus zu reden. Zuerst aber hielt Petiot eine feurige Ansprache, bei der er seine vielen Errungenschaften und die Arbeit zugunsten der Armen herausstellte. Als Guttin sich ans Rednerpult stellte und die Notizen hervorholte, wurde es plötzlich stockfinster. Der Kandidat musste sich nun im Dunkeln durch die Zettel mühen, was einen recht unbeholfenen Kontrast zum dynamischen Petiot darstellte. Als Verursacher des Stromausfalls konnte später der Arzt selbst ausgemacht werden.

Schließlich aber wurde Petiot besiegt. Auf eine eventuelle Niederlage schon vorbereitet, hatte er bereits eine zweite Kampagne begonnen, diesmal mit dem Ziel der Wahl für die Nationalversammlung. Petiot gewann die Wahl und wurde mit 35 Jahren der jüngste Repräsentant von Yonne. Doch er sollte diese Position nicht lange bekleiden.

Erneut beschuldigte man Petiot des Diebstahls. Diesmal hatte er mit einer Apparatur aus Elektrokabeln, Steckern und kleinen Schaltern den Stromzähler in seinem Haus manipuliert und somit Diebstahl begangen. „Das ist doch eine offensichtliche Schmutzkampagne“, versuchte Petiot von den Anschuldigungen abzulenken und sie den politischen Gegnern anzulasten. Doch die Beweislage gegen ihn war mehr als erdrückend. Am 19. Juli 1933 sprach ihn das Gericht in Joigny schuldig und verurteilte ihn zu einer 15-tägigen Haftstrafe und zusätzlich zu einer Geldstrafe von 300 Francs zuzüglich einer einmaligen Zahlung von 200 Francs für den entstandenen Schaden. Er legte Berufung ein. Das Gericht setzte die Haftstrafe komplett aus und reduzierte die Geldstrafe auf 100 Francs, hielt jedoch die Verurteilung aufrecht.

Dieser Urteilsspruch – es war der erste, den man dem jungen Politiker „aufbrummte“ – führte zu einem zeitweisen Verlust seines Wahlrechts, was nach französischem Recht eine gesetzlich vorgeschriebene Amtsenthebung nach sich zog. Petiot kam dem beschämenden Schritt zuvor und trat von selbst zurück. Zumindest war nun die politische Karriere des „jungen Clemenceau“ beendet. Für Petiot begann ein neuer Lebensabschnitt.

Nach einem Bier in einer Brasserie am Place Dauphine und einem kurzen Anruf bei seiner Frau kehrte Massu ins Büro zurück und schickte einige Ermittler los, um Georgette Petiots Angaben zu überprüfen. Niemand hatte sie in der Rue de Reuilly 52 gesehen, doch das bedeutete nicht unbedingt einen Widerspruch zu der Aussage, da sie sich ja angeblich versteckt hatte und keiner der 21 Bewohner sie kannte. Auch der Concierge konnte sich nur schwach an sie erinnern.

Inspektor Hernis überprüfte das Hôtel Alicot in der Rue de Bercy 207, wo sie angeblich vor der Abfahrt nach Auxerre eine Mahlzeit eingenommen hatte. Henri Alicot, der Besitzer, bestätigte, dass Madame Petiot am Morgen des 13. sein Restaurant aufgesucht und einen verwirrten und erschöpften Eindruck gemacht habe. Darüber hinaus gab er zu Protokoll, dass sie den Tag über dort verbrachte, von den Neuigkeiten wie am Boden zerstört.

Wie sie sagte, war es schlichtweg unmöglich, dass ihr Mann, „der mich so gut behandelt“, die in den Zeitungen geschilderten Verbrechen begangen habe. Weiter meinte Georgette, dass sie Petiot in den 17 Ehejahren kein einziges Mal wütend erlebt habe. Sie hegte die Absicht, nach Auxerre zu reisen, um mit ihrem Sohn zusammen zu sein. Madame Petiot versuchte, in einem der Räume ein wenig Schlaf zu finden, was ihr auch gelang. Allerdings schlug sie das Essen aus, bis Alicot sie schließlich überzeugte, wenigstens vor der Abfahrt um 17.20 Uhr einen Teller Suppe zu sich zu nehmen. Eines war klar – Georgette Petiot hatte panische Angst vor einer Verhaftung.

Das wohl interessanteste Ergebnis der Befragung bezog sich allerdings nicht auf die Frau des Verdächtigen, sondern auf den Bruder. Maurice kam fast jede Woche geschäftlich nach Paris, reiste für gewöhnlich am Mittwoch an und wohnte in dem Hotel bis Samstag. Alicot behauptete, ihn seit dem letzten Monat nicht gesehen zu haben. An die letzte Begegnung erinnerte er sich aber genau, da sie ihm sonderbar vorkam.

Während des Aufenthalts vom 19. bis 22. Februar 1944 erschienen ein Lastkraftwagenfahrer und ein Arbeiter an der Rezeption seines Hotels, um eine Nachricht für Maurice abzugeben. Ihr LKW, der eine Lieferung für den jungen Petiot enthielt, hatte eine Panne an der Ecke Boulevard Saint-Michel und Boulevard Saint-Germain gehabt, woraufhin sich die beiden Männer gezwungen sahen, ihn stehen zu lassen. Alicot fand nicht die Nachricht an sich merkwürdig, obwohl er sich wunderte, warum zwei Männer in diesen Zeiten einen LKW voller Ware einfach im Stich ließen. Es war eher der verängstigte Ausdruck der beiden Männer, der ihm auffiel, und die Geschwindigkeit, mit der sie die Halle nach Überbringung der Botschaft wieder verließen.

Der Serienmörder von Paris

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