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Überseefahrten und die Landnahme in der »Neuen Welt«

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Man könnte sich den Beginn der Geschichte Copacabanas als Begegnung zweier Linien vorstellen, die sich in dem später so berühmten weißen Halbrund treffen. Die eine nimmt ihren Anfang 1492 beziehungsweise 1500 in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon; die andere ein paar Jahrzehnte später am bolivianischen Ufer des Titicaca-Sees.

Die geologische Formation von Fels, Vegetation, Lagunen, Sediment und Sand, auf der der Stadtteil »Copacabana« im Süden der Stadt Rio de Janeiro entstehen wird, ist jedenfalls sehr alt. Und natürlich war hier, als die Europäer landeten, schon lange jemand zu Hause.

Der Spezialist John Hemming schätzt die indigene Bevölkerung auf dem Gebiet des heutigen Brasilien um 1500 auf 2,4 Millionen Menschen: Jäger, Fischer und Sammler, deren Herkunft im Dunkeln liegt, da sie anders als die mittelamerikanischen indigenen Hochkulturen weder Schriften noch Bauten hinterließen. An der Küste Rio de Janeiros siedelten vor allem die der Tupí-Guaraní-Sprachfamilie zugehörigen Tamoio und Tupinambá. Als zu Jahresbeginn 1502 in der Bucht von Guanabara eine portugiesische Karavelle aufkreuzte, machten sie, um ein treffendes Wort Georg Christoph Lichtenbergs zu verwenden, eine »böse Entdeckung«. Die Annalen lassen im Unklaren, wer das Kommando hatte über die kleine Flotte von vermutlich sechs Schiffen, ob es André Gonçalves, Gaspar de Lemos oder D. Nuno Manuel war, der den ersten europäischen Blick auf Rio de Janeiro warf. Sehr wahrscheinlich war es der Matrose im Ausguck, während Gonçalves, Manuel und de Lemos in der Offiziersmesse zu Abend aßen. Für den Ausguck und die anderen Mannschaftsmitglieder interessieren sich die Annalen gewöhnlich nicht. Dies völlig zu Unrecht, denn die Pionierleistungen des Kolumbus, von Pedro Álvares Cabral oder Gonçalves wären ohne die Namenlosen nicht denkbar. Und nicht zuletzt zählen jene vom Schicksal Verschlagenen und Ausgespuckten – Abenteurer, Glücksspieler, Habenichtse sowie zahlreiche Verbannte und zum Tode Verurteilte – zu den Stammvätern des heutigen brasilianischen Volkes.

Zwei Jahre zuvor, am 22. April 1500, war der portugiesische Kommandant Pedro Álvares Cabral in der Bucht von Cabrália an Land gegangen, nördlich des heutigen bekannten Badeorts Porto Seguro im Bundesstaat Bahia. Brasilien war »entdeckt«. Zunächst im Glauben, eine Insel gefunden zu haben, nannte Cabral sie später Terra da Vera Cruz (Land des Wahren Kreuzes). Die Kontaktaufnahme mit den unbekleideten Indios gestaltete sich friedlich, und man tauschte Geschenke aus. Cabral blieb neun Tage, ließ einen Gottesdienst abhalten, den die Hausherren weidlich bestaunten, und stellte erste Erkundungen der Gegend und astronomische Berechnungen über deren Lage an. Nunmehr gewiss, doch eine Landmasse entdeckt zu haben, ergriff Cabral im Namen seines Königs und in souveräner Überzeugung, hierzu von höchster – sprich göttlicher – Stelle berechtigt zu sein, von dem Land formell Besitz. Wie Cabral wusste, war Kolumbus am 12. Oktober 1492 auf der kleinen Insel Guanahani von Bord gegangen, hatte das Banner seiner Könige in den ihm völlig unbekannten Strand gerammt und – auf Spanisch – eine Erklärung verlesen. Darin sprach er das Land der spanischen Krone zu und erklärte die anwesenden (und nicht anwesenden) Bewohner zu Untertanen der Krone. In einem Bericht merkte er an: »Y no me fue contradicho« – »Man widersprach mir nicht«.

Spät, aber heftig brach im Zuge der Feiern zur 500. Wiederkehr des 12. Oktober 1492 in der iberoamerikanischen Welt ein öffentlicher Streit aus. Es ging – und geht – um die Frage, ob die Landnahme der Europäer in Lateinamerika eher als Entdeckung oder Eroberung, als Begegnung der Kulturen oder als Massaker, als frühkapitalistische Ausbeuterunternehmung oder Erweckung moderner Nationen aus ihrer finsteren Vorgeschichte zu werten sei. Lange sind in der offiziellen Geschichtsschreibung beiderseits des Atlantiks die kalkulierten Grausamkeiten, die europäischen Taktiken und Praktiken von Macht und Herrschaft, die Menschen, Kultur und Natur vernichteten, verschwiegen oder kleingeschrieben worden. Eine Geschichte Lateinamerikas ist aber ohne sie nicht zu erzählen. Die Tupinambá machten am 1. Januar 1502 wirklich eine »böse Entdeckung«, denn sie wurden in Rio de Janeiro, wie auch weiter im Norden, in einem großangelegten Feldzug zwischen 1564 und 1574 nahezu vernichtet. Bereits 1570 war die indigene Bevölkerung Brasiliens um etwa zwei Drittel auf 80.000 gesunken. Eingangs des 17. Jahrhunderts waren in Rio de Janeiro vielleicht noch 1.000 Tupinambá am Leben.

Doch die (Kolonial-)Geschichte Lateinamerikas ist nicht nur eine Geschichte des Feuers, sondern auch eine Erzählung vom Wasser und von der Erde. Eine Erzählung von denen, die die Angst überwanden, die dem Fluch des Raumes, dem kulturellen Ballast eines jahrhundertelangen Schreckens vor dem Meer trotzten und sich den trügerischen Planken der Wellen verschrieben.

Die Fahrt hinaus auf das offene Meer, dessen Weite unabsehbar und dessen Tiefe nicht zu erahnen war, war schon bei aller Vernunft betrachtet ein Wagnis. Ihr ging jedoch ein Sieg voraus, den es zu erringen galt, bevor das erste Segel gehisst war: der Sieg über den Mythos, die eigene Tradition und Geschichte. Im Wagnis, hinaus auf den Atlantik zu fahren, auf der Suche nach einem Hinüber, vermischten sich die widersprüchlichsten Motive: großer Mut und Machthunger, Entdeckergeist und unermessliche Gier, kühne Spekulation und berechnende Planung, Sendungsbewusstsein und missionarischer Eifer.

Ohne die vor allem ökonomischen Rationalitäten der großen Seereisen kleinzureden, die als risikokalkulierte Großinvestitionen die Staatskassen füllen sollten, setzt wohl genau jene Mischung im menschlichen Kollektiv die großen Kräfte frei. Vor allem die Überwindung des Atlantiks war ungeheuer folgenreich. Für viele beginnt 1492 eine neue historische Epoche. Die Nautiker des 15. Jahrhunderts waren das »operative Agens der Globalisierung« (Peter Sloterdijk). Kolumbus’ Reise war ein wichtiger Schritt von der mittelalterlichen Pilgerfahrt zur modernen Reiseunternehmung: vom kreisförmig geschlossenen christlichen Bewusstsein, das jedem Menschen seinen Weg schon bei Geburt vorzeichnete, zum Aufbruch ins Unbekannte und Ungewisse; vom Nachlaufen der Pfade aller Vorfahren, von einer Reiseerfahrung, die sich in wundersamer Form mit dem Bekannten und Gewussten deckt (die deshalb in den Tropen überall das »Paradies« vorfindet und die neuen Territorien auf den Karten entsprechend bebildert), zur Ent-Deckung des Fremden und seiner Vereinnahmung für eigene, ganz irdische Zwecke; vom Finden zum Suchen.

Lange bevor die Europäer Brasilien entdeckten, war »Brasil« Teil der atlantischen Mythologie. Jahrhundertelang wurde nach einer »Brazil« genannten Insel gesucht. Hierbei handelt es sich wahrscheinlich um eine altirische Legende: Wer es schaffe, auf diese paradiesische Geisterinsel ein Stück Eisen zu werfen, könne sie betreten und dort, mitten unter strahlend schönen Jungfrauen, ein wunderbares Leben führen. Der irische Name lautet »Hy Breasail« (Land der Auserwählten). Sie wurde stets im atlantischen Raum westlich von Irland gesucht und war auf zahlreichen Atlantikkarten des Mittelalters verzeichnet.

Der Mythos, schreibt der Historiker Holger Afflerbach, »weitete sich auf überraschende Weise aus: In den romanischen Ländern wurde die Herkunft des Namens auf brasile = feuerfarbig zurückgeführt, und es wurde vermutet, dass es auf der Insel einen roten Farbstoff oder vielleicht ein rotfarbiges Holz, aus dem Färbemittel gewonnen werden könnten, gab.«

Womit der Mythos ganz richtig lag. Bezeichnungen wie brasile, brisilli oder Brasil tauchen bereits in italienischen Handelskarten des 12. und 13. Jahrhunderts auf. Sie bezeichneten ein rotfarbiges Holz, das aus dem Orient bekannt war, aber auch sesamähnliche Pflanzen aus dem Jemen. Und genau dieses Holz fanden die Portugiesen an der brasilianischen Küste reichlich vor. Nachdem sie ihre Enttäuschung über den Mangel an Edelmetall überwunden hatten, hielten sie sich daran, wertvolle Güter wie eben das Brasil-Holz nach Europa zu verschiffen.

Anders als die Spanier wollten die Portugiesen ihre amerikanische Eroberung zunächst nicht besiedeln, und noch weniger das Hinterland systematisch erkunden. Die feitorias, die Handelsstationen an der Küste, entstanden als lange Zeit einzig sichtbare Zeichen der portugiesischen Kolonisation. Mit dem Anbau von Zuckerrohr auf Plantagen, auf denen afrikanische Sklaven schufteten, begann aber nur wenige Jahrzehnte später der atlantische Dreieckshandel. Er sollte Portugal für zwei Jahrhunderte hohe Einnahmen einbringen.

Ob Gonçalves und seine Männer bei der Einfahrt in die Bucht von Guanabara so überwältigt waren von dem, was ganze Generationen nachfolgender Europäer als einzigartiges Naturschauspiel begreifen sollten, wissen wir nicht. Die Seefahrer hatten wohl andere Sorgen, und ihr Blick wird wohl vor allem den natürlichen Schutz geschätzt haben, der sich hinter den wie hingewürfelten Kegelfelsen und Übermauern bot: ein ganzes Konkav-Ensemble, Buchten in wählbarer Größe und Krümmung und Richtung. Hinzu kamen die großartigen Verteidigungsmöglichkeiten durch eine Hafenfestung, zu deren Bau kein Mensch eine Hand hatte rühren müssen. Die 140 Kilometer Durchmesser der Guanabara-Bucht weiten sich nach einer Einfahrt von lediglich 1.600 Metern Enge zwischen dem Zuckerhut und dem Santa-Cruz-Felsen.

Die Portugiesen zogen zunächst wieder ab, nicht ohne einen kleinen, aber folgenreichen Irrtum zu begehen. Im Glauben, die Guanabara-Bucht sei die Mündung eines großen Flusses, und mit Blick auf den Kalender – 1. Januar 1502 – nannten sie den Ort Rio de Janeiro (Januarfluss). 1565 gründete der Kommandant Estácio de Sá am Strand zwischen dem Zuckerhut und dem São-João-Hügel offiziell die »Cidade de São Sebastião do Rio de Janeiro« (Stadt des Heiligen Sebastian vom Januarfluss). Doch die Portugiesen erkannten, dass die Topographie zahlreiche Möglichkeiten einer Akropolis, also einer erhöht gelegenen Siedlung, bot, und siedelten sich auf dem Castelo-Hügel an. Heute befinden sich auf Rios Anhöhen ironischerweise vor allem die Elendsviertel. Der Castelo-Hügel wurde 1922 bei umfangreichen Stadtmodernisierungen komplett abgetragen.

Copacabana

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