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Kleingeschrieben: Wirkungen europäischer Wissenschaft

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»Der allgemeine Eindruck ist wahrhaft erhaben. Aber als der Segler sich der kahlen Küste nähert, sehen wir die besonderen hellblättrigen Bäume Brasiliens, hier und da einen purpurblühenden Quaresma-Baum, wir beobachten die schlangenartigen cacti, wir sehen, wie die reich wuchernden Parasitenpflanzen sogar von den steilen und schroffen Wänden des Zuckerhuts herunterhängen …«

Pfarrer Kidder war durchaus keiner der vielen Botaniker, die Brasilien auf der Suche nach Katalogisier- und Benennbarem durchkämmten, wie die Deutschen Prinz zu Wied-Neuwied, Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich von Martius, der Schweizer Louis Agassiz oder der Brite George Gardner, um nur einige der bekannteren zu nennen. Dennoch war die tropische Flora und Fauna ihm besondere Aufmerksamkeit wert, denn in ihr spiegelte sich die Seele dieser Neuen Welt und zugleich ihre Unterlegenheit. Die Lehre des französischen Naturforschers Georges-Louis Leclerc de Buffon, wonach Amerika als feuchter Erdteil ein ungesunder, seine Fauna degenerierender Kontinent sei, war im Europa des 19. Jahrhunderts noch weithin akzeptiert. Für viele andere Autoren war die Bevölkerung des neuen Kontinents zivilisatorisch notwendig unterlegen. Wenige Seiten in Henry Thomas Buckles voluminöser History of Civilization in England über ein Land, das der Autor nie gesehen hatte, stürzten brasilianische Intellektuelle in Verzweiflung. Buckle, der in »Klima, Boden, Nahrung und dem allgemeinen Aspekt der Natur« die wichtigsten Einflussfaktoren auf die menschliche Rasse sah, zählte Brasiliens Natur in ihrer unvergleichlichen Fruchtbarkeit und Üppigkeit zu den Weltwundern. Doch das übermäßige Zusammentreffen von Hitze und Feuchtigkeit überfordere eine unfähige Bevölkerung, so der 1862 verstorbene Brite:

Blick auf die Bucht von Guanabara (um 1880)

»Wie alle Menschen in der Kindheit ihrer gesellschaftlichen Entwicklung stehen die Einheimischen der Unternehmung ablehnend gegenüber … Entlang der Küste Brasiliens hat europäischer Einfluss zu einem gewissen Grad von Zivilisation geführt, den die Einheimischen aus eigener Kraft nie erlangt hätten. Aber diese sehr unzulängliche Form von Zivilisation hat hintere Winkel des Landes nie erreicht … In ganz Brasilien lassen sich keine Monumente einer Zivilisation auffinden, nicht einmal einer niedrigen; es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass die Menschen sich jemals über den Stand erhoben hätten, in dem sie sich befanden, als man ihr Land entdeckte.«

Buckles vernichtendes Urteil ist in Brasilien mehrfach übersetzt und weithin gelesen worden. Das gilt auch für die Reisebeschreibung des bekannten Naturforschers Louis Agassiz. Anders als Buckle oder auch Buffon hatte sich Agassiz immerhin in Brasilien aufgehalten – und dort eine paradigmatische Bestätigung der Rassentheorien europäischer Wissenschaft vorgefunden:

»Ein jeder, der an der schädlichen Wirkung der Rassenmischung zweifelt, und aus falsch verstandener Philanthropie die Schranken zwischen den Rassen niederreißen will, sollte nach Brasilien kommen. Dann wird er die üblen Folgen nicht mehr leugnen, die aus der Verschmelzung der Rassen entstehen, einer Verschmelzung, die hier weiter reicht als in jedem anderen Land der Welt, und die die besten Qualitäten des weißen Mannes, des Negers und des Indio auslöscht, um sie durch einen undefinierbaren Bastard-Typuszu ersetzen, dem es an körperlicher wie seelischer Energie gebricht.«

Die Natur ringt mit der Kultur oder, wie man damals eher sagte, mit der Zivilisation. Europäer und US-Amerikaner sehen darin den Urkonflikt jener überseeischen Länder und Völker, und einen, den sie nur verlieren können. So erhaben sich die Natur darstellt, so unzulänglich zeigt sich den Reisenden das, was an Zivilisatorischem, wie beispielsweise in der nachlässigen Pflege der Kaffeeplantagen, erkennbar ist.

Beständig konstatieren Europäer in ihren Texten über Rio einen Mangel: Rio ist kaum herrschaftlich, als Kaiserresidenz nicht präsentabel, hat kaum Straßen, die den Namen verdienen, und die Abwasserentsorgung ist ein Gräuel.

Brasilien war nicht nur der zu erwartenden Fülle von Eindrücken wegen als Reise- und Forschungsland besonders beliebt. In den meisten der jungen hispanoamerikanischen Republiken herrschte politische Unrast. Im Ringen um die Macht war die Waffe schnell bei der Hand. Das Kaiserreich Brasilien wartete hingegen mit politischer Stabilität und mehr Sicherheit auf. Das große Territorium versprach vielfältige Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Klimazonen, ohne die Unbill von Grenz- und Zollschranken fürchten zu müssen.

Das lange 19. Jahrhundert ist als das »Jahrhundert der Wissenschaften« gekennzeichnet worden, und diesem Trend hatte sich auch Brasiliens Kaiser Pedro II. verschrieben. »Die Wissenschaft bin ich«, soll er einmal gesagt haben, wohl mit Augenzwinkern in Richtung eines berühmteren Amtskollegen im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Im Zuge der Aufklärung differenzierten sich Natur- und Gesellschaftswissenschaften im 19. Jahrhundert aus, Voraussagen anhand empirisch ermittelter Fakten wurden zum neuen Glauben der Zeit, und der Wissenschaftler zur gesellschaftlich relevanten Figur. Nach Brasilien gelangten die vielen neuen Ideen mit Verspätung und fanden nur selektive Aufnahme: Bei den Intellektuellen einer postkolonialen, »rassisch gemischten« Gesellschaft standen Positivismus, Sozialdarwinismus und rassistische Theorien hoch im Kurs. Unter Pedro II. entstanden die ersten rechtswissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten, historisch-geographische Institute und naturwissenschaftliche Forschungs- und Bewahrungseinrichtungen. Mit Ausnahme des von Pedros Großvater João VI. gegründeten Nationalmuseums in Rio wurden Naturkundemuseen und Botanische Gärten allerdings erst im letzten Drittel des Jahrhunderts verwirklicht. Bis dahin war das Sammeln und Bezeichnen der brasilianischen Flora und Fauna ausschließlich Sache der ausländischen Experten, und Pedro II. unterstützte sie kräftig dabei.

In ihrem Hochzeitsgefolge brachte die Habsburgerin Leopoldine von Österreich im Juli 1817 zahlreiche deutschsprachige Künstler und Wissenschaftler mit nach Rio. Die bekanntesten waren wohl die Deutschen, darunter die bereits erwähnten von Spix und von Martius, die neben Gesteins- und Mineralienproben 85 Säugetiere, 350 Vogelarten, 130 Amphibien, 116 Fische, 2.700 Insekten und 6.500 Pflanzenarten sammelten. Ihre dreibändige Reise nach Brasilien in den Jahren 1817 – 1820 wurde auf Jahrzehnte hin zum Standardwerk für naturwissenschaftliche Forschung zu Brasilien. Die Sammlung wurde vollständig in den Botanischen Garten von München verfrachtet, und an Pflanzen hatten beide alsbald geadelten Forscher so viel Dubletten dabei, dass auch Herbarien in Berlin, Leipzig, Wien, Petersburg, Leiden, Genf und das British Museum in London bedacht werden konnten. In Brasilien verblieb nichts – oder doch: das von den Europäern freundlicherweise vermittelte Wissen, wie die vielen Arten, die schon immer da waren und auch schon einmal Namen gehabt hatten, denn nun hießen.

Die Botaniker und Zoologen beschränkten sich in ihren Texten keineswegs auf ihren Forschungsgegenstand im engeren Sinne. Wie die anderen Autoren traten sie auch an, die Geschichte und Gesellschaft, Ökonomie und Politik Brasiliens systematisch und vor allem so »wahrhafftig« zu beschreiben, wie es schon frühe Reisende des 16. Jahrhunderts betonten. Beispiele hierfür sind der hessische Landsknecht Hans Staden und seine Wahrhafftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschfresser-Leuthen in der Newenwelt America gelegen von 1557 oder wenig später der Bayer Ulrich Schmidel, der die Wahrhafftige und liebliche Beschreibung etlicher fürnemen Indianischen Landtschaften und Insulen … vorlegte.

Die Autorinnen und Autoren des 19. Jahrhunderts hielten sich ausnahmslos für berufen und befähigt, Brasilien »als solches« mit Autorität und Wahrhaftigkeit zu beurteilen. Ihr unauflösliches Amalgam aus individuellen Erfahrungen, Gefühlen und vorgeprägten Vorstellungen verwandelte sich in kollektives Wissen mit Echtheitssiegel. Aus heutiger Sicht vereinigen die Reiseberichte jener Zeit oft verschiedene Textarten in sich: Forschungsbericht, Reportage, Roman, Geschichtsschreibung, Manifest und Drama.

»Der Reisende ist zwar aus seiner Heimat gefahren, aber nicht aus seiner Haut«, wie Friedrich Katz in seinen Begegnungen in Rio 1945 feststellt. Wenn sie über Fernes und Fremdes schreiben, berichten Reisende auch immer über sich selbst, und manchmal mehr als über ihren Gegenstand. Das Fremde in ihren Texten entsteht, indem sie den anderen Europäern daheim von dem erzählen, was ihnen bekannt vorkommt, und das Gesehene so bewerten, wie sie und die Leser es gewohnt sind. Das ist kaum anders möglich und bedeutet doch, dass die Neue Welt, wie sie in diesen Texten erscheint, auch eine Erfindung durch den spezifisch europäischen Blick ist. Dieser ist geprägt von der tiefen Überzeugung zivilisatorischer Überlegenheit, von Jahrhunderten selbstverständlicher kolonialer Praxis und dem unerschütterlichen Glauben an einen Determinismus, nach dem »Rasse«, »Natur« und »Klima« Faktoren sind, die die Tropen und ihre Bewohner im Wettstreit der Nationen unrettbar hintanstellen.

Man könnte auch sagen: Die Reiseliteratur trägt dazu bei, die globale Peripherie zu produzieren; das, was später »Dritte Welt« genannt werden sollte. Daher sind die europäischen und US-amerikanischen Reiseberichte wichtiger und fortwirkender Teil der lateinamerikanischen Wirklichkeit zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. Sie setzen Wahrheiten, mit denen sich die also Beschriebenen auseinandersetzen müssen. Mit Blick auf die Reisenden, die Geschäftsleute, Maler und Zeichner, Naturwissenschaftler, Söldner und auch die vielen Einwanderer aus Europa hat der brasilianische Historiker Sérgio Buarque de Holanda von einer »zweiten Entdeckung Brasiliens« gesprochen. Die Schriften und ihre Folgen für die Entstehung einer brasilianischen Literatur und Wissenschaft, aber auch für die Auseinandersetzung um nationale Identität und die richtige Gesellschaftspolitik könnte man auch als eine zweite, semantische Eroberung bezeichnen. Der europäische Spiegel steht weiterhin im brasilianischen Schlafzimmer, und er wird uns noch mehrmals begegnen.


Das Bild von Johann Moritz Rugendas, »Praya Rodriguez: près de Rio de Janeiro« (1835), zeigt Copacabana als unberührtes, palmenbestandenes Areal mit einem einzigen sichtbaren Haus

Copacabana

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