Читать книгу Fettnäpfchenführer Taiwan - Deike Lautenschläger - Страница 16

Оглавление

5

差不多 … – CHÀBUDUŌ … – SO IN ETWA …

EIN PENTHOUSE IN GÖTTLICHER NACHBARSCHAFT

»Ähm, wie soll ich es sagen … mein Mann kommt früher aus China zurück. Deshalb brauche ich die Couch und du musst dir schon früher etwas Neues suchen«, verkündet Queenie am nächsten Morgen der vom Jetlag übermüdeten Sophie. Die fällt aus allen Wolken. Sie hat zwar schon in örtlichen Internetforen nach einem Zimmer gesucht, aber eher entspannt, denn sie hatte ja die Couch noch für fünf Tage. Nun wird es plötzlich dringend.

»Aber du meintest doch bei Couchsurfing, sieben Tage wären kein Problem.«

»Drei Tage, sieben Tage … Chàbuduō – So in etwa.«

»Und dein Mann braucht die Couch?«

»Ja, wir haben Streit, weil er mit einer anderen Frau zusammen ist, während er in China arbeitet, mit einem Flittchen vom Festland nämlich«, und dabei rümpft Queenie die Nase. »Denkt er, ich bin dumm und merke das nicht? Ich bin zwar schwanger, aber nicht dumm …«, schimpft sie weiter.

»Du bist schwanger?«

»Chàbuduō – So in etwa. Naja, nicht richtig, aber bald.«

Sophie ist von der plötzlichen Informationsflut überwältigt und klickt angestrengt im Internet die Mitbewohnergesuche von WGs und die Angebote für die sogenannten studio apartments durch. Wenn der Mann kommt, möchte sie lieber nicht mit ihrer Anwesenheit stören. Zwei Adressen hat sie schließlich abgeschrieben, zwei Besichtigungstermine per E-Mail und WhatsApp ausgemacht.

»Ich komme mit«, meint Queenie. Sophie vermutet ein schlechtes Gewissen und ist froh, nicht allein losziehen zu müssen. Ein bisschen Abenteuer – ja, gern. Halsbrecherisches Wagnis à la Mietverhandlungen ohne Sprachkenntnisse in einer fremden Stadt – nein, danke.

Und was könnte es für einen besseren Tag als diesen geben, ein Zimmer zu suchen: Die Sonne flimmert auf dem Asphalt, der Himmel ist hellblau und es weht ein Lüftchen, das einen ahnen lässt, dass das Meer nicht fern ist. Die alte Frau gegenüber winkt wieder, als Sophie und Queenie die Gasse zum anderen Ende hinuntergehen, dorthin, wo sie die Hauptstraße kreuzt und die Busse halten. Queenie stöhnt: »Chàbuduō 30 Grad, wie schrecklich heiß!«

Sie hat den Schirm aufgespannt und weiße Sonnencreme ziemlich dick auf allen freiliegenden Körperstellen aufgetragen. In Sekundenschnelle streicht sie mit dem Zeigefinger den Busplan entlang und überfliegt mit den Augen die chinesischen Zeichen. Sophie beobachtet sie fasziniert und hofft, dass sie in nicht allzu langer Zeit wenigstens halb so schnell Chinesisch lesen kann.

»Der hier müsste dahin fahren. Chàbuduō – So in etwa. Los!«, ruft sie und drückt Sophie eine Yōuyóukǎ, eine wiederaufladbare Chipkarte für den Nahverkehr, auch Easy Card genannt, in die Hand.

Beim Einsteigen bemerkt Sophie zwei chinesische Zeichen, die auf der Anzeige über dem Busfahrer leuchten. Das erste Zeichen sieht aus wie ein T, das auf dem Kopf steht, mit einem kleinen Strich rechts am Fuß.

»Steht das T verkehrt herum wie jetzt, musst du mit der Yōuyóukǎ bezahlen, wenn du einsteigst, steht das T richtig herum, musst du bezahlen, wenn du aussteigst.«

Also schon das Bezahlen im Bus hängt vom Verstehen der chinesischen Zeichen ab, ganz zu schweigen von den Stationen, die alle chinesische Namen haben. Alles klingt gleich, alles klingt wie ein einziges chingchongchungchingchongchung … Bei Sophie macht sich eine leichte Panik breit. Wie soll sie hier ohne Chinesischkenntnisse überleben?

»Dào le!«, ruft Queenie und drückt auf die Aussteigeklingel. Sobald ihre Füße jedoch den Asphalt berühren, runzelt sie die Stirn und sieht auf ihre Navigations-App: »Chàbuduō 20 Minuten zu Fuß, wir sind mit dem falschen Bus gefahren und dann auch noch zu zeitig ausgestiegen.«

»Aber in fünf Minuten ist der Besichtigungstermin«, drängelt Sophie in deutscher Pünktlichkeit.

»Zeit ist in Taiwan auch chàbuduō. Das schaffen wir noch, wir nehmen einfach ein Taxi«, weiß Queenie Rat, winkt eins der gelben Autos heran und übergibt Sophie das Wort.

»Tōng’ān Jiē«, lässt Sophie den Fahrer die Zielstraße wissen, und tatsächlich sind sie in zehn Minuten da. Nur vom Vermieter, der über WhatsApp meinte, er warte vor dem Haus, ist nichts zu sehen. Als dieser dann noch mal schreibt, er stehe vor dem Haus, wird Queenie stutzig.

»Wie heißt die Straße noch mal? Wo steht das? Hast du die chinesischen Zeichen?«

»Tōng’ān Jiē. Ich habe nur die Lautumschrift aufgeschrieben. Ich kann doch keine chinesischen Zeichen schreiben.«

»Ja, aber heißt die Straße ng’ān Jiē oder Tóng’ān Jiē? Tōng, erster Ton, oder Tóng, zweiter Ton?

»Chàbuduō?«, meint Sophie mit fragender Stimme, die froh ist, auch endlich mal etwas als chàbuduō bezeichnen zu können.

»Nicht chàbuduō. Du musst schon die vier Töne mitschreiben. Beide Straßen gibt es und ich schätze mal, wir stehen genau in der falschen.«

Und tatsächlich kommen sie 15 Minuten später in der richtigen Tóng’ān Jiē an, und vor dem Haus wartet auch noch der Vermieter. Queenie telefoniert auf der Straße lautstark mit ihrem Mann, also gehen Sophie und Herr Liu, wie sich der Vermieter im perfekten amerikanischen Englisch vorgestellt hat, allein die Stufen des alten Hauses nach oben, vorbei an vergitterten Türen mit Schuhbergen davor, an abgeblätterter Wandfarbe und an milchigen Treppenhausfenstern. Sophie hat in Gedanken schon abgeschlossen, dass dieses Haus ihre zukünftige Bleibe sein könnte.

»Ich weiß, wonach Ausländer suchen«, zwinkert Herr Liu ihr zu, und mit diesen Worten öffnet er die quietschende Eisentür zum Dach. Vor ihnen liegt eine Dachterrasse, auf der neben zwei riesigen Wassertanks ein kleines Häuschen mit flachem Dach steht. Ein Haus auf einem Haus also. Sophie ist begeistert. Sofort denkt sie an die Dachterrassen gegenüber von Queenies Haus und macht Pläne, wie sie die nun bald ihrige begrünen könnte. Im Häuschen gibt es ein Zimmer mit sporadischer Küchenzeile und einem kleinen abgetrennten Bad. Die Lage ist perfekt – in der Nähe einer Metrostation, zwischen einem Tempel und einem Supermarkt, in ebenso einer kleinen Gasse, wie die, in der Queenie wohnt. Das ist so chàbuduo, was Sophie sucht und wenn sie heute eins gelernt hat, dann, dass man mit viel chàbuduō hier durchs Leben kommt. Bis Sonntagabend will Herr Liu noch alles neu streichen und die Klimaanlage anbringen. Sophie nickt. Bleibt ihr eine Nacht, in der sie nicht weiß, wohin, aber sie ist sich sicher, dass sie dafür auch noch eine Lösung finden wird.

Als Queenie endlich ihr Telefonat beendet hat und nach oben kommt, hat Sophie Herrn Liu schon zugesagt.

»Ab Sonntagabend ist das mein neues Heim«, stellt Sophie ihr Luftschloss vor.

Doch Queenie sieht sich um und schüttelt nur missbilligend den Kopf.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Wonach Ausländer suchen, weiß ein Mann wie Herr Liu, der jahrelang in den USA gelebt hat, doch Queenie weiß das nicht. Trotzdem hätte sie es gern gesehen, wenn Sophie sie um Rat oder ihre Meinung gebeten hätte, schließlich hat sie ihr doch erst vor wenigen Stunden ihre privaten Probleme anvertraut. Und Queenies Rat zum Haus auf dem Haus wäre ganz anders gewesen, als Sophie es erwartet hätte: Für Taiwaner müssen Wohnungen praktisch, neu und modern sein. Gemütlichkeit, Privatsphäre oder gar individueller Stil stehen auf der Wunschliste, wenn überhaupt, ganz hinten. Der Durchschnittstaiwaner kümmert sich wenig um Einrichtungstrends, zieht oft in bereits fertig eingerichtete Wohnungen oder kauft Plastikmöbel – nicht des Preises, sondern der Zweckdienlichkeit wegen.

Viele Wohnungseigentümer im obersten Stockwerk bauten ohne Baugenehmigung von einer Wellblechhütte bis hin zu einer Villa mit Garten alles, was man sich vorstellen kann, aufs Dach – entweder, um sich selbst mehr Wohnraum zu schaffen, oder, um durch Weitervermietung den hohen Wohnungskredit schneller abzahlen zu können. Aber so idyllisch es auch scheint, auf einem Dach mit Terrasse mitten in der Stadt zu wohnen, der Schein trügt. Diese Anbauten sind fast immer schlecht isoliert und verwandeln sich im Sommer in einen Backofen und im Winter in ein feuchtes Kühlschrankfach. Ganz sicher wird Queenie auch an die Taifune gedacht haben, deren Wind und Regen man auf dem Dach ohne viel Schutz ausgesetzt ist.

Nachdem die Regierung jahrelang über diese illegale Dachbebauung in Taipeh hinweggesehen hat, hat sie seit Anfang 2015 begonnen, dagegen vorzugehen, indem sie Beamte mit Bauarbeitern schickt, die die Dachbebauung nach Sicherheit und Größe evaluieren und im ungünstigsten Fall abreißen.

Auch wie es sich neben einem Tempel wohnt, wird Sophie bald merken.

Unter www.forumosa.com, www.tealit.com und in diversen Facebookgruppen wie »Looking for Roommates or Apartments in Taipei and Taiwan« finden Sie Wohnungsanzeigen und Zimmerangebote in WGs. Die Seiten sind auf Englisch und werden von Ausländern in Taiwan betrieben.

Was können Sie besser machen?

Frauen in Taiwan vertrauen sich einander schnell an und geben sich Ratschläge. Wer wem? Dabei sind Hierarchien wichtig. Unter Freundinnen oder Kommilitoninnen spielt das Alter eine Rolle, in einer Firma und in der Familie die Position. Ob Queenie oder Sophie hier die Ältere ist, spielt keine große Rolle. Viel wichtiger ist, dass Sophie die Ausländerin ist, die von Queenie aufgenommen wurde. Queenie steht somit die Rolle der Ratgeberin zu und Sophie muss die Ratsuchende spielen.

Lassen Sie sich in Taiwan von ihren Gastgebern bemuttern. Die Taiwaner werden es immer besser wissen als Sie, schließlich leben sie schon ein Leben lang auf diesem Fleckchen Erde. Dass sie dabei vielleicht in Ihre privaten Belange eingreifen, sollten Sie gelassen sehen. Hören Sie sich trotzdem auf jeden Fall die Ratschläge an und entscheiden Sie dann bestimmt aber höflich nach Ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen.

說到 … APROPOS … ARBEITEN IN CHINA UND AFFÄREN

Schon seit Langem gibt es taiwanische Geschäftsleute, die zwischen dem Festland China und der Insel Taiwan pendeln. Besonders aber seit der Finanzkrise 2008, als sich die Wirtschaftslage in Taiwan verschlechterte, die Arbeitslosigkeit stieg und die Löhne sanken, zog es bis heute etwa eine Million Taiwaner zur Arbeit auf das Festland. Viele Hochschulabsolventen folgten und folgen noch wegen der zahlreichen Jobmöglichkeiten dem Ruf der großen Fachkräftenachfrage nach China. Auch immer mehr taiwanische Unternehmen produzieren auf dem Festland und errichten dort Niederlassungen. Aus dem »Made in Taiwan« ist ein »Made in China« geworden.

Viele der meist männlichen Geschäftsleute führen zwei Leben – eins in Taiwan mit ihrer Ehefrau und eins in China mit einer einheimischen Frau. In den taiwanischen Medien und auch in der wissenschaftlichen Literatur werden die taiwanischen Ehefrauen oft als Erstfrau oder Hauptfrau bezeichnet und die Frauen aus China als Mätresse oder Geliebte. Diese Bezeichnungen sollen den sexuellen Aspekt der außerehelichen Beziehung betonen und verdeutlichen, dass die chinesische Frau in die taiwanische Familie eindringt und sie zerstört, während die taiwanische Frau die häuslichen Pflichten erfüllt und sich um die Kinder kümmert.

說到 … APROPOS … CHÀBUDUŌ

Chàbuduō hört man ständig in Taiwan. Diese Redewendung hat schon so manchen ausländischen Geschäftsmann verzweifeln lassen. Was wortwörtlich »Es fehlt nicht viel« bedeutet, heißt im besten Fall, dass eine pragmatische Lösung alles Streben nach Perfektion übertrifft. Im schlechtesten Fall kann es auch heißen, dass in graue Anzughosen grüne Reißverschlüsse eingenäht wurden, weil dies eben »gut genug« für das Produkt war.

Fettnäpfchenführer Taiwan

Подняться наверх