Читать книгу Fettnäpfchenführer Taiwan - Deike Lautenschläger - Страница 20

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怎麼辦呢? – ZĚNME BÀN NE? – WAS NUN?

WAS DER MÜLL IM GEFRIERFACH ZU SUCHEN HAT

Vor einigen Tagen war die Schlüsselübergabe und Sophie ist in ihr neues Heim eingezogen.

»Here are the keys, rent is due on the first of the month, the garbage truck comes Monday, Tuesday, Thursday, Friday and Saturday. It stops at 6:12 p.m. in front of the temple«, sagte Herr Liu schnell im Gehen. Er hatte es plötzlich sehr eilig, als er Queenie sah, die Sophie beim Einzug half. Wahrscheinlich hat er sich an Queenies missbilligendes Gesicht vom Vortag erinnert, vermutet Sophie.

Ein schönes Gefühl war es, endlich irgendwo angekommen zu sein. Das Zimmer hat alles, was Sophie braucht: Neben dem Bad und der kleinen Küchenecke gibt es Bett, Tisch, Stuhl, Kühlschrank, Fernseher und Schrank. Um die Dekoration will sich Sophie Schritt für Schritt kümmern und auch um die Begrünung der Terrasse. Da stehen bis jetzt nur die Wassertanks und die Waschmaschine. Zěnme bàn ne? –Was nun? Queenie sprach beim Einzug von einem Blumenmarkt am Wochenende. Den will Sophie ausfindig machen, sobald es etwas wärmer wird.

Denn gleich nachdem sie eingezogen war, gab es einen Wetterwechsel. Aus den sommerlichen 30 Grad mit einem lauen Lüftchen sind schlagartig widerliche 12 Grad geworden. Seit drei Tagen gießt es ohne Unterlass. Sophie hat alles, was langärmlich und warm ist, übereinander angezogen. Eine Heizung gibt es nicht. So liegt sie seit Tagen im Bett. In der Spüle türmt sich Geschirr, weil es zu kalt ist, um aufzustehen, um abzuwaschen, um irgendetwas zu tun. Sie drückt ihren Kopf an die Fensterscheibe, die bei jeder Metro, die unweit unter dem Haus fährt, vibriert und dabei hunderte Male rhythmisch und leicht gegen ihre Stirn schlägt. Der Regen hängt wie Glasnudeln an der Fensterscheibe. Alles durchsichtig und etwas matt. Keine scharfen Linien, keine Ecken, ein Netz aus Weiß, Grau, Wind und Watte.

Sophie war eingenickt, als sie ein Rascheln aufschreckt. Da war es wieder. Leise steht sie auf. In der Spüle schiebt sie eine Tasse mit Kakaorändern beiseite und entdeckt daumengroße braune Käfer – eine Kakerlakenfamilie, eine Großfamilie, ja einen ganzen Stamm Kakerlaken. Zackzack sind alle im Ausguss und im schmutzigen Tellerstapel verschwunden. Sophie ist geschockt. Auch neben der Spüle im Müll raschelt es nun. Sie entscheidet sich erst einmal zur Flucht und beschließt, einen Spaziergang zur Erkundung der unmittelbaren Gegend zu machen. Rückzug und schnelle Verdrängung scheinen ihr im ersten Moment eine gute Strategie. Auch aus dem Schirm fällt eine Kakerlake, als sie diesen aufspannt. Also eilt sie überstürzt ohne alles ins Freie. Der Wind bläst ihr die Regentropfen ins Gesicht – zwischen ihre Tränen. Wenigstens kann so niemand sehen, dass Sophie weint. Endlich hat sie ein Plätzchen für sich gefunden, und nun so etwas und zu allem Übel auch noch bei solchem Wetter. Weit kann sie ohne Schirm nicht gehen, und so führt sie ihr Weg an der kleinen Kirche vorbei in den Tempel gleich daneben.

Von innen schallt ein Singsang unterbrochen von hallenden Glockenschlägen. Es riecht verbrannt und nach Blumen. Hoch über ihr hängen gelbe Laternen und noch weiter darüber ist das Tempeldach verziert mit vielen kleinen Keramikfiguren. An den Tempelsäulen winden sich Drachen aus Stein. Sophie tritt in den Tempelhof ein. Links steht ein verlassener Verkaufsstand mit Stapeln von goldenem Geistergeld und Räucherstäbchen, daneben sitzen drei alte Frauen mit ihren Markteinkäufen beisammen. Sie sehen kurz zu Sophie hinüber und setzen sogleich ihre Unterhaltung fort. Sophie dreht sich zum Hauptaltar und ist fasziniert von der Unzahl an Göttern: böse blickende mit roten Gesichtern und langen Bärten, in bestickte Gewänder gehüllte auch freundlich schauende, ehrwürdig thronende Holzfiguren. Trotzdem gehen ihr die Kakerlaken nicht aus dem Kopf. Ob man Götter mit solchen Kleinigkeiten wie Kakerlaken im Gebet belästigen kann? Sophie ist nicht sicher, aber zweifellos kann sie Queenie anrufen und um Rat fragen. Die weiß vermutlich sowieso besser, was zu tun ist. Sophie verlässt den Tempel und wählt Queenies Nummer.

»Kakerlaken? Zěnme bàn ne? – Was nun?«, fragt Queenie und antwortet sich im nächsten Atemzug gleich selbst: »Als erstes Kakerlakenspray und Kakerlakenfallen kaufen, dann mit dem Spray die herumlaufenden außer Gefecht setzen und in den Müll werfen, danach den ganzen Müll entsorgen, die Fallen in der Küche und im Bad aufstellen. Du musst wissen, eine von dir gesehene Kakerlake steht für 30, die tatsächlich da sind. Essensreste nie stehen lassen und neuen Müll bis zur Entsorgung im Gefrierfach lagern.«

»Im Gefrierfach?«

»Klar, wo denn sonst?«, antwortet Queenie, als wäre es das Natürlichste der Welt.

»Klar, im Gefrierfach«, sagt Sophie so cool wie möglich.

»Sonst alles okay? Ist es kalt bei dir? Frierst du?«

»Nein, nein, nicht zu kalt, schon ok«, lügt Sophie, die gerade auf keinen Fall Queenies »Hab ich’s dir nicht gesagt!« ertragen könnte, und läuft los zum Supermarkt. Wenig später erklärt sie allem, was da kreucht und fleucht, mit Spray und Fallen den Krieg, wäscht ab und packt La Cucaracha pfeifend den Müll zusammen. Da hört sie lauter werdendes Stimmengewirr, ganz so, als würde auf der Straße ein Volksfest beginnen. Sophie sieht von der Terrasse hinab. Links am Straßenrand liegen Säcke und daneben haben sich Grüppchen von Leuten gebildet, die sich eifrig austauschen. Rechts lehnen die gähnenden Besitzer der Garküchen von der kleinen Gasse nebenan an der Hauswand, und noch weiter rechts auf einer Bank im Schatten eines Baumes sitzt eine Gruppe alter Leute. Jeder von ihnen hat eine junge asiatisch, aber nicht taiwanisch aussehende Frau zur Seite. Auch die schnattern und übertönen mit ihrer aufgeregten Diskussion fast alle. Etwas abseits sitzt auf einem Hocker ein altes Mütterchen. Alle warten – wie Sophie nach einem Blick auf die Uhr erkennt – auf das Müllauto um kurz nach 18 Uhr. Das gemeinsame Warten scheint ein soziales Event zu sein und Sophie gesellt sich dazu. Die Abendsonne ist hinter den Wolken hervorgekommen, linst durch das Blätterdach und streicht die heiteren Gesichter der jungen Mädchen. Links neben dem Baum ist noch etwas Platz. Sophie lehnt sich an den Stamm und lässt sich in den flackernden orangen Punkten vor ihren geschlossenen Augen dahintreiben. Vom Tempel klingt Flötenmusik herüber, von der Hauptstraße her tönt Hupen und das Heulen der Motoren im Feierabendverkehr.

Plötzlich zieht etwas energisch an Sophies Rock. Sie blinzelt durch ihre halb geschlossenen Augen. Neben ihr steht eine kleine Frau mit silbernen Haaren. Sie ist vielleicht 70 oder 80, bei Taiwanern findet Sophie das immer schwer zu sagen. Ihre Haut hat viele braune Flecken und ihr blaues traditionell geschnittenes Kleid mit chinesischen Zierknöpfen und Kordeln besetzt, ist schmutzig und zerschlissen. Auf ihrem Rücken hängt ein kegelförmiger Reishut, den Sophie schon mal auf Bildern, aber bisher noch nicht in der modernen Großstadt Taipeh gesehen hat. Ihre dunklen Augen leuchten munter und ihre kleine, sehnige Hand deutet unaufhörlich auf Sophies Tüten und greift schließlich hinein. Sie sagt etwas mit hoher, aber leiser Stimme, geht gebückt zu ihrem Fahrrad und verstaut, was sie aus Sophies Tüten genommen hat, auf ihrem Anhänger. Der ist bereits beladen mit Säcken voll von Plastikflaschen und Stapeln zerfledderter Bücher und Pappe. An der Seite hängen leere Tüten und Stricke hinunter. Sophie kann sich kaum vorstellen, wie das kleine Mütterchen den schweren Wagen mit ihrem klapprigen Fahrrad durch die Straßen ziehen kann.

Und ehe sich Sophie für die unverhoffte Hilfe beim Recycling bedanken kann, ertönt Für Elise, die Erkennungsmelodie der Müllabfuhr in Taipeh, wie Queenie ihr erklärt hat, und das Müllauto rollt langsam heran. Sophie schnappt sich ihre nun halbleeren Mülltüten und ist eine der Letzten, die Anlauf nehmen und ihre Mülltüten mit Schwung auf den schon wieder anfahrenden Lkw werfen. Als Sophie ausholt, hält jedoch ein Müllmann die Hand hoch, um ihre Tüten im Flug abzufangen. Kopfschüttelnd gibt er sie ihr zurück.

»No, no, no! Bùxíng a!«, ruft er mit ernstem Gesicht.

»Zěnme bàn ne? – Was nun?«

Die alten Leute gehen langsam von den jungen Asiatinnen gestützt davon. Nur das alte Mütterchen, das noch den Abfall sortiert und verstaut, und Sophie, immer noch mit ihren Mülltüten in der Hand, bleiben an der Straßenecke zurück. Sophie zuckt ratlos mit den Schultern. Die alte Frau nickt und lächelt noch einmal herzlich. Dann steigt sie auf ihr Fahrrad. Die ersten Umdrehungen der Pedale sind schwerfällig, aber langsam setzt sich die Fuhre in Bewegung und sie reiht sich in den chaotisch schnellen Verkehr ein. Eine Erscheinung aus der Vergangenheit im modernen Großstadtleben.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Sophie hat einfach alte Plastiktüten als Mülltüten benutzt. Hätte sie sich am Müllauto umgesehen, wäre ihr aufgefallen, dass alle um sie herum blaue Mülltüten mit grüner Schrift und aufgeklebten Marken benutzen. Das sind die offiziellen Mülltüten der Stadt Taipeh.

Des Weiteren hat Sophies Leichtsinn mit schmutzigem Abwasch und tagelanger Mülllagerung das Unglück geradezu heraufbeschworen. So hat sie sich schnell Kakerlaken ins Haus geholt. Dabei sind die ekligen, zwei bis vier Zentimeter langen Monster aber noch das kleinere Übel: die sogenannten Amerikanischen Großschaben sind nicht so vermehrungsfreudig wie die kleinen, nur 13 bis 16 Millimeter langen Deutschen Schaben. Hat man die erst mal in der Wohnung, ist es schwer, sie wieder loszuwerden.

Was können Sie besser machen?

Taiwan hat sehr feuchtes und oft heißes Wetter – ein Paradies für Kakerlaken. Schlagen Sie sich am besten sofort aus dem Kopf, eine hundertprozentig kakerlakenfreie Wohnung zu haben. So etwas gibt es in Taiwan nicht. Hygiene und Sauberkeit können aber schon einiges ausrichten. Kakerlakenfallen bzw. kleine Plastikdosen mit Gift, die beschriftet sind mit dem Aufstelldatum, damit man nach zwei Monaten das Austauschen gegen neue nicht vergisst, erledigen dann den Rest.

Selbst wenn Sie alles noch so picobello sauber halten, ab und zu wird sich trotzdem eine Kakerlake in ihr Heim verirren. Haben Sie deshalb stets Kakerlakenspray griffbereit. Sie wollen diese Schädlinge und Krankheitsüberträger doch nicht tot treten und dann an ihren Schuhsohlen deren Eier in der Wohnung verbreiten.

Oberste Priorität sollte stets der Müll haben. Er ist ein Kakerlakenmagnet. Öffentliche Müllcontainer gibt es nicht. An fünf Tagen in der Woche fahren die städtischen Müllautos abends die Straßen ab. Dabei haben sie eine genaue Route mit Haltestellen und Haltezeiten. Mit Beethovens Für Elise tun sie ihre Ankunft kund. Dem musikalischen Müllauto folgen zwei Kleintransporter für Recycling und Küchenabfälle. Beachten Sie die Mülltrennung und benutzen Sie die offiziellen blauen Mülltüten für den Restmüll, die man in jedem Supermarkt und jedem Mini-Markt kaufen kann. Mit dem Kaufpreis ist die Müllgebühr abgegolten.

Das Warten auf das Müllauto ist ein soziales Event. Was in Deutschland auf dem Land das Bäckerauto und der Metzgereiwagen sind, ist in Taipeh das Müllauto. Rentner, Jugendliche Arbeitsmigranten aus Indonesien, den Philippinen und Vietnam, die hier als Hausangestellte arbeiten, Hausfrauen und Geschäftsleute geben sich ein Stelldichein und tauschen Neuigkeiten aus. Daneben kommen alte Leute auf Fahrrädern mit Anhängern, die privat den Recyclingmüll sammeln und sich so etwas zu ihrer geringen oder nicht vorhandenen Rente dazuverdienen.

說到 … APROPOS … RELIGION

Fragt man einen Taiwaner, welcher Religion er angehört, wird er oft nach einigem Zögern den Taoismus nennen oder einfach mit den Schultern zucken. Das liegt daran, dass der Volksglaube in Taiwan Elemente der Ahnenverehrung, des Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus vermischt. In Taiwan herrscht Glaubensfreiheit. Oft werden gar innerhalb einer Familie mehrere Religionen praktiziert. Selbst so mancher streng gläubige Christ geht in Krisenzeiten in den Tempel, um sich Rat und Hilfe bei den Göttern zu holen. Doppelt hilft eben einfach besser.

Fettnäpfchenführer Taiwan

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