Читать книгу Fettnäpfchenführer Taiwan - Deike Lautenschläger - Страница 21
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小心! – XIĂOXĪN! – VORSICHT!
WINKE, WINKE AUF TAIWANISCH
Die erfolgreiche Kakerlakenbekämpfung hat Sophie aus ihrem Missmut gerissen, doch kurz danach ist sie wieder wie betäubt vom Regen, von der Kälte, vom Jetlag, von den Anstrengungen der Reise und des Umherziehens, ja gar von der fremden Welt. Sie sehnt sich nach ein wenig Vertrautheit, sehnt sich nach einer Nachricht von Jan – ein Warten, das ziept und sticht. Sophie wird sich langsam bewusst, wie weit weg sie von Zuhause ist, wie viele Brücken sie hinter sich abgerissen hat. Allein im Rauschen des Regens, allein im unverständlichen Redefluss des Nachrichtensprechers im Fernseher, im Dudeln der Melodie des Müllautos auf der Straße, im Klirren der Schlüssel der Nachbarn und Klacken der Absätze im Treppenhaus, im Geruch des gebratenen Reis, der durch die Tür dringt, im murmelnden Singsang des Tempels gegenüber, im wandernden Schatten des Nachbarhauses. Allein liegt sie unter dem Federbett wie unter einer Schneedecke.
Sie war gerade eingenickt, als ihr Laptop schrillt: Eine Nachricht ist da. Sie löst langsam ihre klebende Wange vom Kopfkissen, hinterlässt eine feuchte Stelle. Eine Nachricht. An sie. Im Zimmer ist es dämmrig geworden. Der Schatten des Nachbargebäudes ist von der Tür durch das Zimmer auf die andere Seite zum Kleiderschrank, auf dem ihr Koffer liegt, gewandert. Der Regen hat aufgehört und in den Fenstern des Hochhauses gegenüber spiegelt sich der feuerrote Abend.
Und eine Nachricht ist da. Eine Nachricht an sie. Ihre Gedanken flimmern, das Blut rast durch ihre Ohren. Sie rollt sich vom Bett auf, stellt das Laptop auf ihren nackten weißen Bauch. Es wippt mit jedem Atemzug. Das Icon blinkt hektisch auf der Symbolleiste. Nach dem lärmenden Signalton: bodenlose Stille. Ihre Augen sind weit geöffnet und es sticht im Kopf, der an diese Helligkeit nicht mehr gewöhnt ist. Sie ist wach. Eine Nachricht. Eine Nachricht von … Mei-yin. Die Mei-yin, die nicht in der vierten Reihe des Flugzeugs sitzen wollte.
»Lust auf ein Treffen heute? Einkaufen und Abendessen?«, steht im Chat-Fenster.
»Ich bin heute sehr müde. Vielleicht nächste Woche?«, will Sophie Mei-yin vertrösten.
»Xiăoxīn! – Vorsicht! Nicht depressiv werden bei dem Wetter! Du brauchst etwas Warmes im Bauch. Wir essen Feuertopf.«
»Feuertopf?«, damit hat sie Sophies Neugier geweckt. Topf klingt nach viel Essen und Feuer klingt nach Wärme. Beides Dinge, nach denen sie sich sehnt.
Wenig später trifft sie Mei-yin in der Metrostation Shuanglian. Sophies Haare tropfen von den 50 Metern von ihrem Haus zur Metrostation, und auch Mei-yin sieht, trotz Gummistiefeln und Schirm, sehr nass aus. Sophie findet sie trotzdem todschick, selbst in Gummistiefeln. Ihre langen schwarzen Haare liegen perfekt auf ihrer Jacke, als hätte sie sie erst vor einer Minute gebürstet.
»Xiăoxīn! Erkälte dich bloß nicht bei dem Wetter«, warnt Mei-yin.
»Hatschi … Das ist wohl schon passiert«, jammert Sophie.
Für die wenigen Meter bis zur Dihua Road nehmen sie deshalb ein Taxi. Sophie ist überrascht, dass die Fahrt sie dahin nur etwa zwei Euro kostet und sie dafür vor weiterem Nasswerden bewahrt werden. Als sie das Taxi verlassen, glaubt Sophie, sich in einer anderen Welt zu befinden. Das Stadtbild hat sich völlig verändert, statt moderner Hochhäuser, die Büros, Geschäfte, Mini-Märkte und Cafés beherbergen, gibt es nun alte, aber gut erhaltene, meist ein- bis zweistöckige Häuser, in denen es unten im Erdgeschoss chinesische Apotheken sowie Tee-, Gewürz- und Stoffgeschäfte gibt. Einige der Häuser erinnern Sophie an Filme über das alte China, andere wiederum scheinen ihr im europäischen Stil gebaut.
Sophie fragt sich, ob sie gerade eine Zeitreise gemacht hat. Mei-yin hat anscheinend ihren erstaunten Gesichtsausdruck bemerkt und erzählt nun etwas von den Jahresringen eines Baumes, an denen man sein Leben samt Klima seines Standortes ablesen kann, und so sei die Dihua Road wohl der Baumstamm von Taipeh, an dem man die Geschichte der Stadt ablesen könne. Sophie ist verzaubert von dieser ganz anderen Seite Taipehs. In Gedanken nimmt sie sich vor, sobald sie zu Hause ist, mehr über diesen Ort zu lesen.
Aber in einem Punkt scheint Taipeh überall gleich zu sein: es herrscht ein buntes Treiben und Massen von Menschen drängen sich durch die enge, etwa 800 Meter lange Straße, um ihre Einkäufe für die Feierlichkeiten zu erledigen. Das Frühlingsfest, wie das chinesische Neujahr auch genannt wird, steht schließlich vor der Tür. Nunmehr eine Woche ist es noch bis dahin.
»Muss denn hier niemand arbeiten?«, schimpft Mei-yin, »es ist gerade mal nachmittags zwei Uhr, mitten in der Woche.«
Aber Sophie hört sie schon gar nicht mehr. Sie springt begeistert von Haus zu Haus, von Stand zu Stand, von Kostprobe zu Kostprobe. Hier probiert sie Nüsse, da getrocknetes Fleisch, am nächsten Stand wird sie zu Mandelkaramell und Kuchen bestreut mit schwarzen Sesamkörnern eingeladen, dann Gemüsechips und gegenüber bietet man ihr Tee zu kandierten Früchten. Delikatessen über Delikatessen wollen alle probiert werden und ihre Melancholie ist wie weggeblasen.
»Es scheint wohl, was für Deutsche der Grund ist, einen Weihnachtsmarktbummel in der Adventszeit zu machen, nämlich sich erst in die richtige Feiertagsstimmung zu versetzen, ist hier in Taipeh ein Besuch auf dem Neujahrsmarkt in der Dihua Road«, presst sie mit Mühe zwischen getrockneten Mangostücken in ihrem Mund hervor. »Also, ich habe jetzt tatsächlich Feiertagsstimmung, auch wenn ich noch nie das chinesische Neujahr gefeiert habe.«
»Die solltest du auch haben, denn erinnere dich an unsere Einladung – die steht noch.«
Riesige Säcke mit Blüten von Chrysanthemen, Hyazinthen und Lavendel säumen die Straße. Über ihren Köpfen schwingen Laternen, wie man sie sonst nur in Tempeln findet. Händler preisen lauthals ihre Waren an. Sophie entdeckt immer erstaunlichere Dinge in den Geschäften, die oft eine Kombination aus Apotheke und Delikatessengeschäft sind. An Wänden hängen riesengroße, aufgerissene Haifischmäuler, darunter stehen Kästen gefüllt, als wolle man daraus einen Zaubertrank mixen: Wurzeln, Rinden, Knollen, Beeren und Pilze. Die Aromen haben sich in der Luft zu einem süßlich betörenden Duft vermischt, der sich über die vom Sprühregen neblige Fußgängerpassage legt.
»Xiăoxīn! – Vorsicht! Unter der Hand gibt es noch viel verrücktere Sachen: Bärenpenis, Haifischflossen, Schlangenblut«, wird Sophie von ihrer Freundin gewarnt. Die hat schon einige Tüten gefüllt mit Knabbereien und Süßigkeiten an ihren Handgelenken rechts und links baumeln.
»Alles für dich?«, staunt Sophie.
»Oh nein, nein, alles Mitbringsel für meine Familie und Geschenke für deren Neujahrsbesuch. Auch wenn es besonders am letzten Abend im alten Jahr Unmengen an Speisen geben wird, zwischendurch ist dafür immer noch ein bisschen Platz im Bauch.«
»Xiăoxīn! Und die Magentropfen gibt es dann auch noch dazu«, spaßt Sophie.
»Nicht unbedingt. Bei uns sind Essen und Gesundheit oft Freunde und nicht Feinde. Wir versuchen Leckereien mit dem Wissen der traditionellen chinesischen Medizin zu verbinden, dann kann man sich den Bauch vollschlagen und hat die Medizin quasi schon mit im Magen.«
»Ich weiß nicht, nach dem ganzen Kosten bin ich zwar nicht satt, aber mir ist doch ein bisschen flau im Magen«, gesteht Sophie.
Mei-yin ordnet deshalb an, dass es einen gesunden Feuertopf zu Mittag geben muss, und lenkt zu einem kleinen Restaurant, in dem es auf den Tischen nur so dampft und Schwaden um die Glühbirnen unter der Decke hängen. Einige Gäste haben Schweißperlen auf der Stirn. Und auch Sophie wird seit Tagen endlich einmal wieder richtig warm.
Vor ihnen köchelt auf einem Miniherd in der Mitte des Tisches die würzige Suppenbasis aus Hühnerbrühe, versetzt mit schwarzem Sesamöl und einer Vielzahl an heilenden Kräutern wie Weißwurz, Chinesischem Engelwurz und Ingwer. Darin schwimmen rote Datteln, orange Gojibeeren und Stückchen der schwarzen Haut des Seidenhuhns, das laut der traditionellen chinesischen Medizin ein heilendes Lebensmittel ist – so steht es zumindest auf der Speisekarte. Als die Suppe zu kochen beginnt, steigen kleine Bläschen zu einem Schaum auf. Mei-yin und Sophie bekommen jeder eine Schüssel mit Gemüse, Tofu und Pilzen in allen Formen und Größen, wie sie Sophie noch nie gesehen hat.
Sie zieht ihre zwei übereinander gezogenen Jacken sowie den Rollkragenpullover darunter aus, und auch Mei-yin legt ihre dicke Daunenjacke ab.
»Xiăoxīn! Es ist heiß!« Xiăoxīn! Xiăoxīn! Xiăoxīn!, denkt Sophie bei sich. Natürlich bin ich xiăoxīn. Xiăoxīn ist ja in Taiwan die Mutter der Porzellankiste. Aber sie weiß mittlerweile, dass sie sich als Ausländerin in der Hierarchie ihrer Freundschaft das Bemuttertwerden von Mei-yin gefallen lassen muss.
Dann legen die zwei Hungrigen los: mit Essstäbchen, kleinen Sieben und Schöpfkellen balancieren sie die Zutaten roh in den Feuertopf hinein und wenig später gar gekocht wieder heraus. Dann werden die Leckerbissen in einen Dip aus Sojasoße, einem Schuss Sesamöl und einem Hauch von Chili-Öl eingetaucht und verschwinden alsbald im Mund.
Sophie zögert erst bei der schwarzen Hühnerhaut, überwindet sich dann aber – der Gastfreundschaft und der Gesundheit zu Liebe – und sie schmeckt ihr ausgezeichnet.
Das Garen im Feuertopf dauert seine Zeit und so können sich Sophie und Mei-yin in Ruhe unterhalten. Es stellt sich heraus, dass Po-han Mei-yin verlassen hat.
»Kaum hatte sein Fuß taiwanische Erde berührt, schon hatte er eine Neue.« Kaum hatte sein Fuß südamerikanische Erde berührt …, denkt sich Sophie und erzählt nun von ihrem Leid, schließlich ist geteiltes Leid ja halbes Leid und geteilter Feuertopf ist doppelt gute Freundschaft.
Nach einer Stunde Schlemmen und Schwatzen beschließen sie, sich ein Taxi nach Hause zu gönnen, auch wenn der Regen endlich eine Pause eingelegt hat. Im bequemen Taxi verfliegen hoffentlich die strahlende Wärme im Bauch und die angenehme Trägheit weniger schnell.
Sophie entleert noch schnell ihre Taschen in eine kleine rote Blechtonne auf dem Fußweg. Die waren ganz vollgestopft mit dem Einwickelpapier der Kostproben vom Vormittag. Dann sieht sie auch schon, wie sich ein Taxi nähert, und winkt es heran.
Da verzieht sich Mei-yins Gesicht – ähnlich wie angesichts der Sitzreihennummer vier im Flugzeug vor einiger Zeit.
»Xiăoxīn! – Vorsicht! Nicht so …!«