Читать книгу Fettnäpfchenführer Taiwan - Deike Lautenschläger - Страница 8

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就這樣子 – JIÙ ZHÈYÀNGZI – EINFACH SO

WIE BITTE? WOHIN NOCH MAL?

Sophie ist on hold – in der Warteschleife. Ihre Haut ist blass, etwas bläulich. Seit Tagen hat sie das Haus nicht verlassen. Ihre rechte Hand weilt schlaff und vergessen in ihrem Schoß. Sie hat die Augen halb geschlossen. Sie schläft nicht, sie dämmert nur. Das macht sie, seit Jan nicht mehr da ist. Sie ist – wie der Laptop neben ihr – im Stand-by-Modus.

Einfach so ist Jan von seiner dreiwöchigen Sprachreise in Südamerika nicht wiedergekommen. Aus den drei Wochen sind nun schon drei Monate geworden. »bleibe länger. einfach so. warte nicht. Jan«, hat er dann gestern in einer E-Mail geschrieben, am vorletzten Tag des Jahres. Sieben Wörter. Nicht mehr. Nicht einmal für Groß- und Kleinschreibung hat er sich Zeit genommen, außer bei seinem Namen. Sophie stellt sich vor, wie er die Kippe aus der Hand legt, um mit der linken Hand die Shift-Taste für das Jot in Jan gedrückt zu halten.

Ihre Stirn lehnt an der Balkontür im dritten Stock der gemeinsam gemieteten Zweiraumwohnung. Ihre Haare liegen zerzaust auf den Schultern, der Pony klebt an der beschlagenen Scheibe. Einfach so ist er weggegangen, von allem, was er nicht mehr ertragen konnte. Dem nervigen Chef, den arroganten Kollegen, dem schlechten Wetter – weggegangen von ihr. Und als er weg war, war da nichts mehr. Alles ist vorbei, begonnen hat nichts Neues. Eine Warteschleife ohne Ende, ohne Weiterverbindung mit Hintergrundmusik: ein Gedudel aus dem Prasseln des Regens am Fenster neben ihrem Ohr und des Straßenlärms zehn Meter unter dem weiß gefliesten Fußboden, auf dem ihre Füße liegen. Sie atmet flach, als wage sie nicht, tief Luft zu holen, als würde dann vielleicht etwas zerbrechen, das Fensterglas zerbersten. Es scheint, als läge das letzte Jahr auf ihr und drohe sie zu erdrücken. Auch der Atem: on hold.

Einfach so. Einfach so. Einfach so. 22-mal kann sie »einfach so« sagen, ohne Luft dabei zu holen. Beim 23. Mal atmet sie endlich tief ein. Draußen erleuchtet das Feuerwerk zum neuen Jahr den Himmel.

»Dann geh ich auch«, sagt Sophie. Es sind ihre ersten Worte seit einer Woche, seit sie im Supermarkt nach Jans ausverkauftem Müsli gefragt hat, und ihre ersten Worte im neuen Jahr. »Einfach so.« Aber wohin? Fliegt er nach Westen, dann fliege ich nach Osten. Lernt er Spanisch, dann lerne ich … Chinesisch!, denkt Sophie. So einfach ist das. Einfach so.

Schnell hat Sophie auf Wikipedia herausgefunden, dass sie nicht irgendein Chinesisch lernen will, sondern Hochchinesisch bzw. Mandarin. Auf Google gibt sie »learn Mandarin University« ein und kommt nach den ersten paar Suchergebnissen auf die Webseite des Mandarin Training Centers, einem Sprachzentrum der National Taiwan Normal University. Drei Monate Sprachkurs, zwei Stunden täglich, Beginn Anfang März, mit Option auf Verlängerung – das passt. Adresse: Taiwan, ROC – Republic of China. Die Online-Anmeldung ist schnell ausgefüllt, eingescannte Dokumente angehangen. Das Jahr ist noch keine Stunde alt, da drückt Sophie auf Senden und schickt ihre Bewerbung ab.

Und als diese Entscheidung einmal getroffen ist, scheint alles andere ganz von allein zu passieren. Schnell ist der Bürojob in einer PR-Agentur gekündigt, die Wohnung aufgelöst, Jans Sachen in Kisten geworfen und vor seinem Elternhaus abgestellt, die Möbel verkauft, die eigenen Sachen bei Freunden im Keller deponiert, die verstaubten Ordner und Bücher über Kommunikationsmanagement vom Studium zum Altpapier gebracht … Einfach so, denkt Sophie bei jedem Punkt, den sie auf ihrer Liste als erledigt abhakt. Und jedes »Einfach so« ist wie ein Schlag in Jans Bierbauchansatz.

Ende Januar steht Sophie vor der Taipeh-Vertretung in Berlin, um ihr Visum abzuholen. Voller Tatendrang streicht sie ihre Winterjacke glatt. Die blonden Locken hat sie hochgesteckt. Sogar die verhassten hochhackigen Schuhe, die sie immer heimlich unter dem Schreibtisch in der PR-Agentur abgestreift hat, hat sie heute angezogen. Ein paar Zentimeter mehr zu ihrer zierlichen Statur sollen ihr Selbstvertrauen und ihren Durchsetzungswillen stärken.

Etwas merkwürdig findet sie es, dass sie laut Unterlagen vom Mandarin Training Center zur Taipeh-Vertretung und nicht zur chinesischen Botschaft muss, schließlich will sie ja in die Republic of China. Taipeh muss wohl eine so große Stadt sein, dass sie ihre eigene Botschaft hat.

»I would like to have a visa for China, please«, sagt Sophie am Schalter zu dem kleinen Herrn im dunkelgrauen Anzug und schiebt ihren Reisepass durch die Öffnung am Fenster.

»Entschuldigen Sie vielmals, aber da sind Sie hier falsch«, antwortet dieser mit leiser, fester Stimme im perfekten Deutsch und lächelt betreten, dabei schiebt er den Reisepass zurück. »Hier ist die Taipeh-Vertretung in der Markgrafenstraße. Für die Volksrepublik China müssen sie zum Märkischen Ufer.«

Einfach so beginnt der Ärger schon mit dem Visum, denkt Sophie entmutigt, nimmt ihren Pass und dreht sich zur Tür. Da fällt ihr gerade noch rechtzeitig ein, dass sie nie etwas von Volksrepublik gelesen hat, sondern immer nur Republik China.

»Oder wollen Sie vielleicht nach …«

»… Taipeh, nach Taipeh in Taiwan will ich«, fällt ihm Sophie ins Wort.

»Ja, dann sind sie hier richtig. Nach Taiwan, in die Republik China wollen Sie also, nicht in die Volksrepublik China.«

»Ist das nicht dasselbe … mit oder ohne Volk im Namen? Gibt es in Taipeh kein Volk?«

Der Botschaftsangestellte lächelt nachsichtig und sieht ihre Unterlagen an, darunter die schriftliche Zusage des Sprachzentrums: »Huānyíng guānglín! – Willkommen!«, sagt er freundlich zu ihr.

Sophie sieht ihn stumm mit großen Augen an. Er nickt nur kurz, sagt dann nichts weiter und beginnt mit seiner Arbeit.

Als Sophie nach Hause kommt – sie ist inzwischen wieder bei ihren Eltern eingezogen –, schwenkt sie ihren Pass mit Visum darin. »Ich fahre nach Taiwan!«

»Da willst du hin? Da war doch erst dieser schreckliche Tsunami«, meint Sophies Mutter besorgt, die Taiwan mit Thailand verwechselt, und Sophies Vater ist, wie Sophie noch vor wenigen Stunden, davon überzeugt, dass sie nach China fliegt, was am Ende das Gleiche wie Vietnam gleich nach dem Vietnamkrieg sei, und das sei ja so gut wie Nordkorea.

Im Internet sucht Sophies Familie dann gemeinsam auf der Website des Auswärtigen Amtes: »Deutschland erkennt Taiwan nicht als souveränen Staat an und unterhält deshalb keine diplomatischen Beziehungen zu Taiwan.« Wenigstens ist aber kein landesspezifischer Sicherheitshinweis vermerkt. Trotzdem machen sich nun alle etwas Sorgen: Sophie fährt in ein Land, das offiziell gar nicht existiert?

Die anderen Verwandten und Sophies Freunde schütteln später auch fragend den Kopf. »Made in Taiwan« kennen sie alle, aber wo soll dieses Taiwan denn liegen?

Sophie checkt noch einmal ihre E-Mails. Nichts von Jan. Dann klickt sie auf »Buchung bestätigen« – und damit ist ihr Flug nach Taipeh gebucht. Einfach so. Da es einen Flughafen und Flugtickets dorthin gibt, muss dieses Taiwan auch tatsächlich existieren. Und nächste Woche wird sie schon dort sein.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Noch bevor Sophie taiwanischen Boden betritt, hat sie einfach so schon das erste Fettnäpfchen erwischt: Taiwan ist nicht China. Und der Ort, an dem Sophie ihr Visum beantragt, heißt Taipeh-Vertretung, weil Deutschland Taiwan nicht anerkennt, nicht, weil Taipeh eine so große Stadt ist. Auch Sophies Familie und Freunde liegen falsch: So wenig wie die Schweiz und Schweden dasselbe Land sind, so wenig ist Taiwan gleich Thailand. Taiwan, mit offiziellem Namen Republik China, ist auch nicht die Volksrepublik China, selbst wenn es ähnlich klingt.

Die Taiwaner sehen es gelassen – sie wissen, dass Taiwan eine kleine Insel und ein kleines Land ist. Das wird sie aber nicht davon abhalten, Unwissende stolz und energisch über ihre Heimat und deren politische Situation aufzuklären.

Wenn Sie nach Taiwan fahren, dann fahren Sie in ein anderes China, in einen melting pot aus Chinesen, die in verschiedenen Einwanderungswellen und aus allen Ecken Chinas auf der Insel eintrafen, aus Ureinwohnern, Migranten, Chinesischschülern aus der ganzen Welt, Expats – also internationalen Fachkräften – und zurückgekehrten Auslandschinesen, gewürzt mit Einflüssen aus der japanischen Kolonialzeit und der heutigen koreanischen und japanischen Pop-Kultur. Viele Traditionen, die auf dem chinesischen Festland mit der Kulturrevolution längst verschwunden sind, sind hier erhalten geblieben und werden gepflegt – selbst von der jungen Generation und im modernen Alltag.

Was können Sie besser machen?

Wenn Sie nach Taiwan reisen, haben Sie keine Angst! Für konsularische Dienstleistungen (Visa- und Passangelegenheiten, Beglaubigungen etc.) oder sonstige Hilfe, z. B. in Notfällen, gibt es auf beiden Seiten zwar keine Botschaften, dafür aber sogenannte Auslandsvertretungen, die genau dieselbe Funktion erfüllen. Die Taipeh-Vertretung in Deutschland sitzt in Berlin und hat auch Büros in Hamburg, München und Frankfurt am Main. Das Deutsche Institut Taipeh sitzt hoch über den Dächern der Millionenstadt im Hochhaus Taipeh 101 – schwer zu verfehlen. Beruhigen Sie Ihre Verwandten und Freunde. Sie fahren in ein sicheres, modernes Land. Seien Sie aber trotzdem vorsichtig. Unfälle passieren natürlich in Deutschland wie auch in Taiwan.

說到 … APROPOS … GESCHICHTE VON TAIWAN

Die Insel Taiwan wurde 1517 von den Portugiesen entdeckt. Sie nannten sie Ilha Formosa – schöne Insel. Circa hundert Jahre später ging sie von den Niederländern an die Spanier, dann 1662 kurz an einen vor den Mandschuren flüchtenden chinesischen Armeeführer. 1682, in der Qing-Dynastie, wurde Taiwan dem chinesischen Festland angegliedert, dann 1895–1945 von Japan kolonialisiert. 1949 flüchtete Chiang Kai-shek mit zwei Millionen Anhängern vor Mao Zedong und den Kommunisten von Festlandchina nach Taiwan und rief hier die provisorische Regierung der Republik China aus. In den 1980er-Jahren entwickelte sich Taiwan langsam von einer Militärdiktatur zu einer der dynamischsten, modernsten und stabilsten Demokratien Asiens. Bedeutend hierfür war auch das »Taiwanwunder« – die schnelle Industrialisierung und das Wirtschaftswachstum während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, eben »Made in Taiwan«.

Obwohl Taiwan bzw. die Republik China ein Territorium, eine eigene Währung, eine eigene Verwaltung und sogar ein eigenes Militär besitzt – also alle äußeren Merkmale eines souveränen Staates –, unterhalten nur noch 18 Staaten diplomatische Beziehungen mit Taiwan. China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz und setzt anderen Ländern und Organisationen die Daumenschrauben in Form von wirtschaftlichem und politischem Druck an, der sogenannten »Ein-China-Politik« zu folgen. So ist Taiwan zum Beispiel kein Mitglied der Vereinten Nationen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zu den Olympischen Spielen tritt Taiwan gezwungenermaßen unter dem Namen »Chinese Taipei« an. Doch auch wenn Deutschland keine diplomatischen Beziehungen zu Taiwan unterhält, so gibt es zumindest enge und gute Beziehungen im Bereich Wirtschaft und Kultur.

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