Читать книгу Diktaturen im Vergleich - Detlef Schmiechen-Ackermann - Страница 9
2. Diktatorische Herrschaft im Wandel der Legitimationen und Herrschaftstechniken: Von der antiken Tyrannis zu den Diktaturen des 20. Jahrhunderts
ОглавлениеFranz Neumann definiert in seinen unvollständig gebliebenen und postum veröffentlichten „Notizen zur Theorie der Diktatur“ seinen Untersuchungsgegenstand zunächst sehr weit als „Herrschaft einer Person oder einer Gruppe, die sich die Macht im Staat aneignet, sie monopolisiert und ohne Einschränkung ausübt“ (49, S. 224). Aus dieser Festlegung ergibt sich, dass das verfassungsmäßig verankerte, zeitlich begrenzte und an einen konkreten Auftrag – vor allem die akute Verteidigung gegen einen äußeren Feind oder die Überwindung innerer Unruhen – gebundene Institut der ursprünglichen „Diktatur“ in der römischen Republik keine diktatorische Herrschaft im eigentlichen Sinne darstellt, sondern eine Form der „Krisenregierung“. Paradoxerweise stellt also für Neumann (und ebenso für zahlreiche andere Autoren) jenes Phänomen, von dem der später auf viele andere Regime übertragene Begriff abgeleitet wurde, im herrschaftstypologischen Sinne selbst keine „Diktatur“ dar. Franz Neumanns weite Definition wirft noch ein zweites Problem auf: das Verhältnis von Monarchie und Diktatur. Unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Machtausübung ist der absolute Monarch nämlich durchaus als „Diktator“ zu bezeichnen, im Hinblick auf die Legitimationsbasis seiner Herrschaft gilt dies dagegen nicht, sofern er die Macht durch festgelegte Erbfolge oder Wahl erlangt hat. Den Typus des monarchischen Diktators verkörpert aus dieser Perspektive allein der durch einen Staatsstreich an die Macht gelangte Usurpator, der sich weder auf eine „legale“ noch eine „traditionale“ Herrschaftslegitimation (vgl. hierzu den 2. Abschnitt der Herrschaftssoziologie von Max Weber, 55, S. 551 ff.) stützen kann. Franz Neumann unterscheidet in seinen „Notizen“ drei Idealtypen diktatorischer Herrschaft. Als „einfache Diktatur“ bezeichnet er eine Tyrannei oder Despotie, die sich, angesichts nur in geringem Maße politisierter gesellschaftlicher Verhältnisse, auf die Kontrolle der „klassischen“ Herrschaftsinstrumente und Zwangsmittel autoritärer Herrschaft (Armee, Polizei und Bürokratie) beschränken kann. Die „caesaristische Diktatur“ integriert in ihr Herrschaftskalkül zusätzlich das Element der öffentlichen Unterstützung, schafft sich also eine Massenbasis, auf die die Machtausübung des Diktators gestützt werden kann. In klassischer Form sieht Neumann diesen Herrschaftstypus in der attischen Tyrannis des Peisistratos und der römischen Diktatur Julius Caesars sowie in der Neuzeit etwa durch Oliver Cromwell, Napoleon I. oder Juan Perón verkörpert (49, S. 227ff.). Deutlich hiervon abzuheben ist für Neumann das Phänomen der „modernen totalitären Diktatur“, das durch fünf wesentliche Momente zu charakterisieren sei: erstens die Umwandlung des Rechtsstaates in einen Polizeistaat, zweitens eine Aufhebung von Gewaltenteilung und föderalen Prinzipien, die im Ergebnis zu einer hohen Machtkonzentration führt, drittens die Schaffung einer monopolistischen Staatspartei als flexibles Herrschaftsinstrument, viertens die Verschmelzung der Gesellschaft mit dem Staat und schließlich fünftens die „nicht berechenbare Anwendung physischer Gewalt als permanente Drohung gegen jeden“ (49, S. 234ff.).
Ein weiter ausdifferenziertes typologisches Modell legt Otto Stammer seinen in einem wichtigen Handbuchartikel zusammengefassten systematischen Betrachtungen zugrunde. Diese spiegeln zugleich den auch international anerkannten hohen Entwicklungsstand der in den fünfziger und sechziger Jahren auf dem Gebiet der Diktaturforschung in Deutschland führenden Berliner Politikwissenschaft wider. Die zu beobachtenden Unterschiede in den Ursprüngen, in der Legitimation, in der Herrschaftsorganisation, in den Zielen sowie im Stil der praktizierten Politik lassen es für Stammer geboten sein, fünf Ausprägungen von Diktaturen idealtypisch zu unterscheiden (54, 162 ff.; die folgenden Zitate stammen aus dem in Manuskriptform erhaltenen deutschsprachigen Ursprungstext): Die despotische Einzelherrschaft zeichnet sich nach Stammers Definition dadurch aus, dass „die politische Macht durch einen oft moralisch bedenkenlosen, aber zu kühnen Entschlüssen aufgelegten Despoten in einer kritischen Situation eines Staatswesens bzw. einer Gesellschaft in der Regel auf dem Wege des […] Staatsstreichs ergriffen und meist nur kurze Zeit ausgeübt wird. Es handelt sich um eine ausgesprochene Willkürherrschaft ohne rechtliche Bindungen des Diktators, die besonders labil ist, da sie sich nicht auf eine feste Machtorganisation, sondern zumeist nur auf Verschwörergruppen, kleine Cliquen […] zu stützen vermag.“ Despotische Einzelherrschaften traten vor allem in der griechischen Antike und der italienischen Renaissance auf, blieben aber auch im 20. Jahrhundert in Form des monarchischen Despotismus sowie in zahlreichen Diktaturen der „Dritten Welt“ weiterhin relevant. Elitengebundene Herrschaft stellt für Stammer einen zweiten Typus der Diktatur dar. Ihr wichtigstes Merkmal sei die „Herausbildung einer Machtpyramide in einem autoritär regierten Staatsgebilde“, wobei der Diktator zwar die entscheidende Schlüsselposition an der Spitze der in Staat und Gesellschaft einflussreichen Eliten und „Machtaggregate“ (Armee, Polizei, Bürokratie, besitzende Klasse, ggf. herrschende Gruppe des Parlaments) einnimmt, sich aber gleichzeitig auch fortwährend darum bemühen muss, ein Machtgleichgewicht zwischen diesen Eliten herzustellen bzw. die ihm gewogenen Gruppen gegen andere auszuspielen. Daher sind der Willkür des Diktators bei diesem Herrschaftstypus durchaus Grenzen gesetzt. Beispielhaft verkörpert wird er etwa durch die späte römische Diktatur, durch den Lordprotector Cromwell, das Konsulat und Kaisertums Napoleons, das plebiszitär fundierte Regime Louis Bonapartes sowie durch etliche Militärdiktaturen des 19. und 20. Jahrhunderts. Den dritten Typus bildet bei Stammer die orientalische Despotie, die er vor allem mit den alten Kulturen Chinas, Indiens, des Nahen und Fernen Ostens sowie mit dem zaristischen Russland assoziiert. Der Despot stützt sich dabei vor allem auf die den Staat tragende Bürokratie und das Militär.
Die vierte und für die europäische Zeitgeschichte zentrale Gruppe bilden die modernen Diktaturen als totalitäre Herrschaften, in denen, nach Stammer, nicht nur das politische System des „totalen Staates“ durch die Existenz einer „Monopolpartei“ und ihrer in fast alle Bereiche der Gesellschaft hineinwirkenden Nebenorganisationen spezifisch geprägt wird. „Der Begriff des Totalitarismus bezieht sich immer auch auf die Gesellschaftsstruktur und alle Maßnahmen zu ihrer Umgestaltung, auf ein dirigistisch beeinflusstes Wirtschaftssystem, auf die zur Rechtfertigung und Erhaltung der Herrschaft entwickelte politische Ideologie und Rechtsordnung und damit auf alle Regionen des ‚kulturellen Überbaus’“ (54, S. 165). Trotz dieses umfangreichen Katalogs signifikanter Merkmale wählt Stammer im Rahmen seiner typologischen Zuordnung eine ausgesprochen weite Definition „totalitärer“ diktatorischer Herrschaft. Er versteht sowohl die kommunistischen Diktaturen (unter Hervorhebung der Regime in der Sowjetunion und in China) als auch alle „Systeme des westlich-fascistischen Typus“ (also den italienischen Faschismus, den Nationalsozialismus, aber auch „einige halbfascistische Diktaturen, wie das peronistische System in Argentinien oder das falangistische in Spanien“) als „totalitäre Herrschaften“. Diese Sichtweise hat sich in der Forschung nicht durchsetzen können: Als Prototypen „totalitärer Diktaturen“ sind nahezu durchgängig vor allem der Nationalsozialismus und der sowjetische Stalinismus identifiziert worden, während die Anwendung dieser Qualifizierung bereits für den italienischen Faschismus oder die von der Sowjetunion abhängigen kommunistischen Regime kontrovers diskutiert worden ist. Hinzu kommt, dass der analytische Wert des Totalitarismus-Konzeptes auch aufgrund von theoretischen und methodologischen Überlegungen infrage gestellt worden ist (vgl. hierzu Kap. III, 1). Den letzten der bei Stammer entwickelten fünf Idealtypen bildet die so genannte konstitutionelle Diktatur als ein zeitlich begrenztes Instrument zur Bewältigung von Krisensituationen. Geradezu paradigmatisch ist am Beispiel der Weimarer Republik deutlich geworden, wie schnell die Anwendung eines Notverordnungsrechts zur Etablierung einer unbeschränkten Diktatur führen kann. Die komplexe Problematik solcher „Notstandsdiktaturen“ wird im vorliegenden Band nicht behandelt.
Unter den chronologisch angelegten historischen Gesamtdarstellungen zum Phänomen der Diktatur stammen die derzeit „neuesten“ aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Aus dem amerikanischen Exil nach Österreich zurückgekehrt, publizierte der Sozialist Julius Deutsch seine erzählende Abhandlung zu „Wesen und Wandlung der Diktaturen“ (42) erstmals 1953. Wenig später legte der aus dem nationalsozialistischen Deutschland in die USA emigrierte Historiker George W.F. Hallgarten auf der Basis eigener Vorarbeiten seine von der Antike bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichende „Kurze Geschichte der Diktatur“ (45) vor und ersetzte damit ältere, vor allem aus dem englischen Sprachraum stammende Überblicke (48; 47; 40) durch sein Standardwerk. In Maurice Duvergers Studie „Über die Diktatur“ (12) steht dagegen die Analyse von Strukturbedingungen, Voraussetzungen und Begleiterscheinungen im Mittelpunkt. Der Autor greift zwar immer wieder auf historische Beispiele zurück, bietet aber keine chronologisch aufgebaute Überblicksdarstellung. Er stützt sich vorrangig auf die genannten englischsprachigen Publikationen und nicht auf den in französischer Sprache vorliegenden, von ihm aber als „oberflächlich“ eingestuften historischen Abriss von Jacques Bainville aus den dreißiger Jahren. In den frühen Jahren der Bundesrepublik blieb die grundsätzliche und umfassend angelegte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Diktatur eine Domäne einzelner aus dem Exil zurückgekehrter Wissenschaftler. Später wurde der Horizont des Forschungsfeldes vor allem durch die starke Fixierung auf den Nationalsozialismus einerseits und den Stalinismus andererseits eingeschränkt. So ist derzeit eine aktuelle problemorientierte historische Gesamtdarstellung der Diktaturgeschichte ein wichtiges Desiderat der Forschung. Tatsächlich muss, in Ermangelung einer neueren Arbeit, für einen grob orientierenden historischen Überblick noch immer auf die von Hallgarten vor nunmehr fast einem halben Jahrhundert vorgelegte „Kurze Geschichte der Diktatur“ zurückgegriffen werden.
Hallgarten ordnet die von ihm beschriebenen diktatorischen Regime fünf großen Zeitebenen zu, und zwar ausschließlich nach chronologischen und nicht nach systematischen Gesichtspunkten. Die erste Gruppe bilden danach die „Diktaturen der antiken Welt“ (45, S. 11). Sein historischer Abriss setzt ein mit den bekanntesten Vertretern der griechischen und sizilianischen Tyrannis, greift dann aus der römischen Geschichte die angemaßten Alleinherrschaften des Marius und Sulla auf, um schließlich Gaius Julius Casear als Paradebeispiel eines antiken Diktators hervorzuheben. In der zweiten Abteilung folgen die „Diktaturen des Frühkapitalismus“ (45, S. 57ff.), also die Tyranneien der Adelsgeschlechter und städtischen Oligarchien der italienischen Früh- und Spätrenaissance sowie die aus der englischen Revolution hervorgegangene Diktatur Oliver Cromwells. In der dritten Zeitschicht fasst Hallgarten, hier sehr hölzern dem Diktat der Chronologie folgend, ganz unterschiedlich ausgeprägte „Diktaturen in der Aufstiegsperiode des industriellen Kapitalismus“ zusammen: sowohl die heterogenen „Diktaturen der Französischen Revolution“ (45, S. 93 – 135) – vom Wohlfahrtsausschuss unter Robespierre über Napoleon I. als den ersten „modernen Diktator“ (vgl. auch 40, S. 79ff.) bis zum bonarpartistischen Regime des Louis Napoleon (46) –, als auch die Herrschaft von Militärdiktatoren („caudillos“) und, „Befreiern“ („libertadores“) im spanisch-portugiesischen und lateinamerikanischen Kulturkreis (45, S. 135ff.; vgl. 43; 41; 51). Unter der missverständlichen Überschrift „Die Diktatur in der Epoche der proletarischen Massenbewegung“ (45, S. 155 ff.) bündelt Hallgarten in der vierten Gruppe die kommunistischen Diktaturen, den italienischen Faschismus und den Nationalsozialismus, also jene Regime, die treffender als „moderne totalitäre Diktaturen“ (49, S. 235; vgl. auch 54, S. 164f. sowie als zeitgenössisches Panorama: 52) beschrieben worden sind. Nicht behandelt werden bei Hallgarten der austrofaschistische Ständestaat (vgl. hierzu 42, S. 105ff.; 36, S. 80ff.) und die autoritären Präsidialregimes in den baltischen Staaten (vgl. 50). Im kurzen fünften Kapitel werden schließlich als „Diktaturen der Gegenwart“ (45, S. 234 – 273) das peronistische Argentinien und das francistische Spanien (vgl. 44; 43) sowie die Diktaturen Tschiang Kai-scheks und Mao Tse-tungs in China (vgl. 53) knapp analysiert, während auf Titos Herrschaft in Jugoslawien, das Salazar-Regime in Portugal, Nassers autokratisches Regiment in Ägypten und die kemalistische Türkei nur am Rande verwiesen wird. Auf den Prozess der Entstalinisierung wird im Rahmen einer knappen Analyse der sowjetischen Nachkriegsentwicklung eingegangen (45, S. 245 – 265). Hallgartens Panorama der Diktaturen hat sich im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kontinuierlich erweitert. Seit den sechziger Jahren war vor allem in den Staaten der Dritten Welt der rasche Aufstieg und oft ebenso plötzliche Fall neuer Diktatoren zu beobachten. Schließlich hat auch der Triumph des westlichen Zivilisationsmodells mit seiner pluralistischen Verfassung und kapitalistischen Wirtschaftsordnung über den ideologisch erstarrten Weltkommunismus keineswegs ein Ende der Diktaturen gebracht.