Читать книгу -Ismus - Detlef Zeiler - Страница 10
ОглавлениеGrenzüberschreitung:
Das Zusammenleben in sozialen Systemen funktioniert normalerweise dadurch, dass alle sich an dieselben Regeln halten, an Regeln, die allen bekannt sind. Dennoch gibt es immer wieder einzelne oder Gruppen, die sich ohne das Wissen der anderen einen Vorteil verschaffen, indem sie die Regeln heimlich übertreten und das Vertrauen der anderen missbrauchen. Im Kleinen passiert das in der Schwarzarbeit, beim Sozialbetrug, beim Diebstahl. In größerem Ausmaß sieht man so etwas bei der Organisierten Kriminalität (OK), bei der Geldwäsche, beim Lobbyismus und den unterschiedlichen Formen der Korruption. Um die Vertrauensverhältnisse in einem Land zu sichern, braucht es einen starken RECHTSSTAAT mit strikter Gewaltenteilung, der sich gegen alle Sonderinteressen zugunsten der Allgemeinheit durchsetzen kann. Aber es braucht auch Bürger, die gelernt haben, Rechtsnormen zu verinnerlichen. Die Verinnerlichung demokratischer Normen ist im Allgemeinen ein langer Prozess, in dem Menschen lernen müssen, vordemokratische „Gewohnheiten“, Racheimpulse, Clandenken usw. zu beherrschen.
Die meisten Deutschen waren auch 1933 im Sinne des Rechtsstaates durchaus anständige Bürger. Sie waren aber bedrückt von einer enormen Arbeitslosigkeit, die noch nicht wie heute von einem Sozialstaat abgefedert war. »Nehme jede Arbeit!« hingen sich einige mit einem Schild um den Hals. Eine Änderung kam durch den Staatsinterventionismus von Seiten der Nazis. Klar, sie investierten u.a. in die Rüstung. Aber sie schufen Arbeit - und das imponierte den ehedem Arbeitslosen, denn sie konnten ihre Familien wieder ernähren. Dass die Politik der Nazis auf einen erneuten großen Krieg zusteuerte, das überforderte die Vorstellungskraft vieler Deutscher. Und hier kommen wir auf ein Phänomen, das auch heute wieder interessant werden könnte: Wer in seiner politischen Zielsetzung die Vorstellungskraft des Normalbürgers so weit überschreitet, dass dieser beim besten Willen nicht folgen kann, dessen düstere Absichten bleiben quasi unsichtbar. Er könnte sie sogar offen aussprechen, man würde das Ganze für Ironie, für nicht ernst zu nehmen halten. Man würde eher die Kritiker für paranoid halten. Man sieht nur, was man weiß, würde Goethe sagen. Und etwas moderner: Wer seine Festplatte so formatiert hat, dass sie für einen alten C 64-Computer funktioniert, der kann keine neuen Programme darauf abspielen… Wer könnte sich z.B. vorstellen, dass unter den Leuten, die jede kleine Ungerechtigkeit mit dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit beantworten, sich welche befinden, die insgeheim rechtsradikale Grüppchen unterstützen, um sich dann dagegen zu profilieren und zum Wortführer innerhalb der ausländischen Mitbürger aufzuschwingen?
Das hört sich paradox an. Aber könnte man nicht mit Paradoxien die Motivbezüge der Menschen verwirren? Viele intelligente Menschen aus Entwicklungsländern spüren hier bei uns schnell, dass wir Deutschen etwas naiv sind, was langfristige gesellschaftliche Interessen betrifft. Romantiker. Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion staunen oft über die heutige Harmlosigkeit der Deutschen und deren Verdrängung des Politischen. Politik aber handelt immer noch von Machtfragen - und wer diese verdrängt, der muss sich nicht wundern, wenn andere hier das Heft in die Hand nehmen. Ist es denn so abwegig, wenn andere unser Land heute für »das schwächste Kettenglied« im System der westlichen Demokratien halten, wo wir uns lange Zeit nur auf den Schutz durch die USA verlassen haben? Die Lage ist bei uns seit dem Ende des Kommunismus sehr unübersichtlich geworden. Es gibt mehr Mitspieler und es gibt Mitspieler, die etwas schlauer sind als Demokraten, die über Jahrzehnte in wohlbehüteten Verhältnissen aufgewachsen sind. Wer wirklich aufs Ganze geht, der könnte z.B. Personen, die sich um Vermittlung zwischen Ausländern und Deutschen bemühen, bei den rechten Gruppen als »Verräter« denunzieren; er könnte aber die Vermittler zugleich bei ausländischen Mitbürgern als verkappte Ausländerfeinde denunzieren, die auf »Assimilation« aus seien und Einwanderergruppen kulturell entwurzeln wollten. Technisch ist diese Desinformationsstrategie mit den heutigen medialen Möglichkeiten leicht möglich. Ton und Bild lassen sich bereits mit Amateursoftware leicht manipulieren. Stimmen lassen sich verändern, Sätze neu zusammenfügen, was in einigen Radiosendungen schon seit langem als Ulk genutzt wird. Und nicht nur experimentierfreudige, pubertäre Schüler operieren damit. Die Technik hat das Vorstellungsvermögen der Menschen längst überholt. Kaum einer versteht noch, woran die Spezialisten zurzeit brüten. Und nicht zu vergessen: Spezialisten verlieren nicht selten das früher zu humanistischen Zeiten noch mitgelieferte moralische Orientierungswissen.
Aber nicht nur das technische Wissen nimmt zu, auch die psychologischen Schwächen der unterschiedlichsten Gruppen einer Gesellschaft lassen sich heute wissenschaftlich gut erforschen und dann mit brauchbaren Vorurteilen bedienen. Und der Gedankengang ist auf einmal nicht mehr paradox, wenn man in die Geschichte schaut: War es nicht die »schwarze Hand«, waren es nicht radikale Serben, die den auf Vermittlung bedachten österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand und seine Frau 1914 in Sarajewo erschossen? Und aus einem begrenzten Konflikt entstand der Erste Weltkrieg.
Sind es nicht oft die Leute, die nur das Prinzip »Wir wollen alles!« gelten lassen, die Reformer und Vermittler als Störenfriede betrachten, hinderlich auf dem Weg hin zum großen »Kladderadatsch«, nach welchem man selbst als Phönix aus der Asche hervorgehen will? »Wir wollen alles!«, das ist eine Parole, die seit jeher die Jugend mitgerissen hatte. Vielleicht erinnern sich einige noch an eine Zeitschrift mit diesem Namen. Und kalkulieren nicht alle Terrorstrategen, die ein politisches System stürzen wollen, mit der Jugend? Mit der Ungeduld der 15-25-Jährigen? Den Unmut der Jugendlichen in genau diesem Altersbereich müsste man mit Handlungsvarianten bedienen, die ihrem jeweiligen kulturellen, moralischen und intellektuellem Niveau entsprechen. Nur so lässt sich ein stabiles politisches System, wie wir es im Westen etabliert haben, noch stürzen. Das Problem der »Filiation«, des Generationenwechsels, weist aber schon immer auf einen Schwachpunkt bei der Erhaltung stabiler sozialer oder politischer Systeme hin. Die Erwachsenen müssen stark genug sein, der nachwachsenden Generation die Sinnhaftigkeit ihrer Institutionen verständlich zu machen, aber auch flexibel auf neue Situationen oder Bedrohungen von außen reagieren. Wer weiß, wie lange die Errichtung demokratischer Rechtsstaaten gedauert hat, muss immer wieder Überzeugungsarbeit nach innen leisten und seine Grenzen nach außen sichern. Auch das gehört zum viel beschworenen »Generationenvertrag«.
Natürlich ist die Arbeit in den politischen Institutionen oft zäh und für viele junge Menschen langweilig. Und auch wenn die Institutionen gerade in Deutschland ganz gut funktionieren, so gibt es doch immer Bürger, denen man es nicht recht machen kann. Und da gilt es aufzupassen, dass Unzufriedenheit, Ungeduld und gut inszenierte Lügen nicht dazu führen, dass etwas niedergerissen wird, für das es nicht so schnelle eine Alternative gibt und das nicht so schnell wiederaufgebaut werden kann. Eine Demokratie ist kein Handwerksbetrieb, in dem man Entscheidungen fällt und dann die Ergebnisse oft sofort sehen kann. Gerade der Teil des Mittelstandes, der in Kleinbetrieben arbeitet, könnte von daher versucht sein, sich vorschnell in schlechte Alternativen reinziehen zu lassen, wenn die Not größer wird und charismatische Demagogen auftauchen. Teile des Mittelstandes sind oft an zwei Fronten bedroht: Zum einen durch mafiose Gruppen, die Schutzgelder verlangen, aber auch durch große Unternehmen, die Lobbyisten finanzieren können, Steuervermeidung betreiben, Konkurrenz ausschalten und damit Machtverhältnisse entwickeln, die sich neben (und in) dem Staat etablieren.