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Gerüchte und Provisionen



Der Denunziant (Andreas Paul Weber, 1934)

Gerüchte waren im Dritten Reich mit Sicherheit ein wichtiges Mittel für das Verhetzen von Menschen. Gerüchte spielen heute immer noch eine große Rolle. Das gilt in Dörfern, das gilt in Städten, das gilt für Nachbarschaften und das gilt auch für das große Geld, die Börse und die Welt der Spekulanten, das gilt bei Mobbing, bei Stalking usw. Die bis heute beste Darstellung von Entstehung, Ausbreitung und Wirkung von Gerüchten findet sich in dem im Jahr 2000 auf Deutsch erschienenen Buch von Jean-Noel Kapferer »Gerüchte, das älteste Massenmedium der Welt«. Das Buch ist nur noch gebraucht bei Amazon zu bestellen, hätte aber eine (überarbeitete und erweiterte) Neuauflage verdient. Michael Scheeles Werk »Das jüngste Gerücht« (Heidelberg, 2006) verengt m.E. die Problematik zu sehr durch den Bezug auf persönliche Erlebnisse. In bildlicher Darstellung kennt man dazu sicher noch die Lithographien von Andreas Paul Weber, der von 1893 bis 1980 gelebt hat. Die bekanntesten Werke zu unserem Thema sind »Das Gerücht« (1943) und »Der Denunziant« (1934). An diesen beiden Lithographien lässt sich gut die Veränderung der Gerüchte und des Denunziantentums bis heute aufzeigen. Das vieläugige Gerücht mit der langen, spitzen Nase und den übergroßen Ohren würde sich mittlerweile auf Zielgruppen spezialisieren, die in unserer fragmentierten Öffentlichkeit in verschiedenartigen Formen emotionaler Kommunikation verankert sind. Auch die Werbung geht heute zielgruppengerecht vor. So gibt es heute einen immer größeren Vermarktungsbereich, der sich Ethno-Marketing nennt. Man wählt also Personen und Hintergründe bei der Vermarktung von Waren entsprechend der jeweiligen Zielgruppe aus. Ähnlich muss man auch bei Gerüchten kalkulieren. Webers Bild für Gerüchte passt da nicht mehr. Und der »Denunziant« muss nicht mehr vor einer Türe lauschen und mitschreiben, sondern kann technische Mittel der Überwachung nutzen: »Wanzen«, Minikameras, GPS, Handyüberwachung etc. Man müsste vielleicht jemanden zeigen, der vor mehreren Bildschirmen sitzt, was aber in der Wirkung nicht annähernd an die der Lithographie Webers herankäme. Das Verbreiten von Gerüchten kann man auf der Basis der gegenwärtigen Forschungen auch wissenschaftlich unterstützen. Wie eine Gruppe von Werbepsychologen und Marketingexperten, die ein neues Produkt auf den Markt drücken, könnte eine Gerüchte-Expertengruppe heute mit neuester Technik arbeiten. Man kann E-Mails abfangen, Menschen abhören, Stimmen verfälschen oder auch ganz einfach den Blödsinn, den jeder ab und zu in seiner Privatsphäre oder am Telefon redet, abhören und dann mit dem »passenden« Hintergrund an die Menschen weiterleiten, die leicht zum Mobben oder Stalken zu verführen sind. Der Begriff der »Ehre« könnte hier eine ungute Rolle spielen.

Insgesamt aber dürften heute in Deutschland nicht Gerüchte die wichtigsten Mittel der Mitläufer-Anwerbung sein, sondern alles spricht bei uns für Geldleistungen. Gerade netzwerkartig gestalkte Personen berichten immer wieder vom plötzlichen Reichtum verdächtiger Nachbarn. Es geht hier um Nachbarn, die gerade noch hochverschuldet sind - und plötzlich genügend Geld haben, ohne dass es einen plausiblen Grund gibt. Ein neues Auto, ein neuer Motorroller, das Haus abbezahlt, ein zuvor nie und nimmer finanzierbarer Urlaub usw. Einer Familie wurde einmal sogar die Stützmauer im Garten in der Nacht eingerissen, nachdem diese eine Zeitlang bewusst unterspült worden war. Zu den Hausschulden, die noch abzubezahlen waren, kamen auf einmal noch 80 000 € für die Stützmauer. Was blieb dieser Familie nun anderes übrig als mitzuspielen. Ein anderer wurde bereits regelmäßig von einem Gerichtsvollzieher verfolgt. Und ohne dass er im Lotto gewonnen hätte, war er ihn auf einmal los, hatte eine nagelneue Harley-Davidson, zwei neue Autos – und konnte sich großzügige Urlaubsreisen leisten. Manchmal ziehen auch einfach Studenten oder junge Leute in die Wohnung ein, die an der des »Opfers« angrenzt. Nach Beendigung der Aktionen – oder wenn das »Opfer« wegzieht, ziehen sie auch wieder aus.

Dabei fällt auf, dass Geldleistungen oft nur dafür getätigt werden, dass man eine Wohnung zur Verfügung stellt. Die »Strafaktionen« führen dann von dort aus Spezialisten durch. Man kann also Geld beziehen, ohne sich selbst die Hände schmutzig zu machen. Dennoch werden Kontrollaktionen durchgeführt, mit denen die Loyalität der Mitläufer überprüft wird. So wurde z.B. berichtet, dass Mitläufer, die einen Job als Bedienung in einem Café bekommen und die Ankunft eines Opfers nicht gemeldet haben, selbst bedroht wurden. Und wer sein Haus oder seine Wohnung für Stalking-Aktionen zur Verfügung gestellt und seine »Provision« bezogen hat, der muss sich bei einem Anruf auch melden und irgendeine - vermutlich sinnlose - Aktion tätigen, die ihn in dem Glauben lässt, er sei Mittäter. Es sind Loyalitäts- oder Unterwerfungshandlungen, die verlangt werden. Wie Loyalität außerhalb des Rechtsstaates funktioniert, das kann man recht gut bei der Mafia studieren. Diese Organisation hat eine jahrhundertealte Erfahrung im Rekrutieren und „Disziplinieren“ von Menschen, die bereit sind, das eigenständige Denken aufzugeben. Dass furchtsame Menschen ihr Selbstwertgefühl oft dadurch stabilisieren, dass sie einfach nur „funktionieren“, hat die Geschichte zur Genüge gezeigt. Wenn „Denken“ ein ehrliches inneres Gespräch mit dem eigenen „Selbst“ zu führen bedeutet (Arendt), so kann man folgern, dass selbst der intelligenteste „Mitläufer“ diese Art des Denkens aufgeben muss, wenn er sich mafios einfangen lässt.

»Aus Lügen, die wir ständig wiederholen, werden Wahrheiten, die unser tägliches Leben bestimmen« (G. W. F. Hegel, 1770-1831)

-Ismus

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