Читать книгу Zeit für Liebe - Diana Richardson - Страница 17
Zeit zum Entspannen
ОглавлениеTantra arbeitet direkt mit dem Verstand und der Ruhelosigkeit der Psyche, indem es uns wieder mit unserer eigentlichen sexuellen Natur verbindet. Sex ist ein Aspekt der Seele. Da Herz und Seele heutzutage mit Sex an sich wenig zu tun haben, handelt es sich bei dem wieder neu aufgeflammten Interesse für altes Wissen über Sexualität um einen wirklichen Versuch, der wachsenden Unwissenheit über Sex zu begegnen. Wenn wir Sex intelligent angehen, wenn wir sexuelle Energie auf unschuldige, spielerische, fast kindliche Weise erfahren, ohne von vornherein ein Ziel im Auge zu haben, fangen wir an, unser Gefangensein in persönlicher und kollektiver Vergangenheit zu lösen und uns für eine Welt neuer Erfahrungen zu öffnen.
Zunächst brauchen wir zum Thema Zeit eine andere Haltung, denn Zeit ist das, was wir daraus machen: Ist Zeit Geld, dann übt Zeit Druck aus, mehr Dinge darin unterzubringen und mehr aus ihr zu machen. Wenn Zeit wie in der Natur zyklisch ist, dann entsteht eine Geduld, die den Druck herausnimmt und durch Gelassenheit ersetzt.
Du hast dich bestimmt schon einmal gefragt, wie du z. B. vor einem Flug alles geregelt kriegen sollst. Und dann sitzt du im Flugzeug, alles ist geschafft und du fliegst über den Wolken. Wenn Zeit das ist, was wir daraus machen, dann muss sie flexibel gehalten werden, sodass sie sogar stillstehen kann. Und das geschieht, wenn wir in den gegenwärtigen Augenblick kommen. Deswegen braucht man beim Tantra für das Liebemachen einen Stil, bei der man sich Zeit lässt. Wir haben es nicht eilig, und wir machen uns wegen der Zeit keine Sorgen; so werden wir uns des Augenblicks, der sich in voller Vielfalt zeigt, bewusst.
Als ich in Indien lebte, habe ich erlebt, dass Zeit dort fast unwichtig ist; tatsächlich schert sich niemand wirklich darum. Gestern, heute, morgen – das macht keinen großen Unterschied. Interessanterweise benutzt man auf Hindi für „gestern“ und „morgen“ dasselbe Wort: „kal“! Diese Grundhaltung der Zeit gegenüber verleiht dem gesamten Land eine unheimlich entspannende Qualität, in der Sein wichtiger ist als Tun. Jederzeit kann zum Beispiel ein überfüllter Zug anhalten und fünf Stunden stillstehen, nur zwanzig Minuten vom Zielbahnhof entfernt, kurz vor Ende der Reise. Das habe ich selbst erlebt, und es gab keine Erklärung für diese riesige Verspätung. Alle Passagiere akzeptierten es voller Gelassenheit. Erwachsene entspannten und unterhielten sich und die Kinder bewegten sich im überfüllten Abteil, als wären sie zu Hause, Leckerbissen wurden herumgereicht, und schließlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Keine Panik oder Aufregung, denn niemand musste sein Ziel zu einer bestimmten Zeit erreichen.
Nachdem ich ein paar Jahre in Indien gelebt hatte und nach Europa zurückgekehrt war, saß ich in einem deutschen Flugzeug von Frankfurt nach Berlin. Der junge Geschäftsmann neben mir sah dauernd auf seine Uhr und war gestresst, weil sich der Abflug um eine Minute verspätet hatte! Als wir fünfzehn Minuten später starteten, war er total wütend, dass die Verspätung seinem Termin in die Quere gekommen war und er ein paar Minuten zu spät zu einer alles entscheidenden Besprechung kommen würde. Den Rest der Reise war er so unruhig, dass er nicht fähig war auch nur einen Moment ruhig oder entspannt zu sein. In den westlichen Ländern bestimmen Ziele, Pläne und die Zeit unser Leben. Es ist heute „cool“ beschäftigt zu sein, und wir halten uns oft beschäftigt, um Unsicherheiten oder Ängste zu vermeiden, die wir vieleicht in Bezug auf Liebe und Intimität haben mögen.
Wie oft bist du zu beschäftigt gewesen, um Liebe zu machen? Und wenn du dann Zeit gefunden hast, war es abends das Letzte, schnell noch fünfzehn oder zwanzig Minuten vor dem Einschlafen. Oder morgens schnell einen Quickie vor der Arbeit. Bei dieser Art Sex ist es die Zeit, die uns diktiert, und sie fordert, dass etwas passieren muss, und zwar schnell! Dieser Anspruch nach schnellem Lustgewinn lässt uns sofort in Richtung Orgasmus steuern, weil es sich so gut anfühlt.
Im Gegensatz dazu sagt Tantra, dass Liebemachen einfach Zeit braucht, viel Zeit, und gar keine Eile. Sexuelle Energie braucht Stunden, um zu entspannen, anzuwachsen und aufzublühen und uns das tiefe Glück eines erfüllenden Liebesaktes zu schenken. Wenn wir diese Gelegenheit wahrnehmen, machen wir wunderbar frische und unerwartete Erfahrungen, bei denen die Energie jedes Mal unterschiedlich schwingt. Das kann uns unmöglich langweilen. Dadurch, dass wir uns in die Unmittelbarkeit des Augenblicks hineinentspannen, bestimmen wir die Dimensionen in Wirklichkeit nämlich selbst – wir machen den Unterscheid.