Читать книгу Johann Heinrich Pestalozzi "Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" - Dieter-Jürgen Löwisch - Страница 12

Macht

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Die Macht kann dem Vertrauen, das die gutmütige Schwäche meines Geschlechts allenthalben in sie setzt, als Macht nicht entsprechen. Wann ich in ihrem Besitz Löwenkräfte in meinen Gebeinen fühle, was soll mir das Recht der kleinen Tiere und der kindische Wahn, sie haben mich zum Löwen gemacht? Gehen ihre Scharen zu Grunde, ich bin der Löwe, meine Zähne und meine Klauen sind mein. Also denke ich im Besitz der Macht, nicht weil ich ein Narr bin oder ein Sonderling oder ein vorzüglich ungerechter Mann, ich denke also, weil ich den Kopf gern in den Lüften trage und am milden Strahl der Sonne gern der Vergangenheit und der Zukunft vergesse.

Aber muß sich der Mensch der Macht in diesem Sinne unterwerfen, muß er ihre Ansprüche, die einfache Folge ihrer tierischen Begierlichkeit sind, als solche anerkennen?

Er tut es.

Soweit die Erde rechtlos ist, hat sie auch den Begriff und die Vorstellung von ihrem Recht verloren.

Der Mensch steht in dieser Lage vor dem Bild seines eigenen Rechts wie ein Verschnittener vor dem Bild der Göttin, die er bedient, er hat sie gesehen, denkt an sich selber, schüttelt den Kopf und geht von ihr weg zu seinem Reistopf. Aber ist eine solche Unterwerfung unter den Tiersinn der Macht Pflicht der Menschen? – Als man Jesum Christum dieses fragte, nahm er einen Pfennig und sagte: wes ist das Bild und die Unterschrift? Sollte er mit diesen Worten mehr gesagt haben, als der Mensch müsse sich, vermög seiner Natur, notwendig dem unterwerfen, der Gewalt über ihn hat? Sollte er damit mehr gesagt haben, als die Pflicht der Menschen in dieser Lage sei seine Not und was Gott und ihr gutes Herz aus dieser Not herauszubringen vermögen?

Einmal eine gesellschaftliche Pflicht, das ist: eine Folge des gesellschaftlichen Rechts, kann eine solche Unterwerfung nicht sein. Der Mensch tut in der bürgerlichen Gesellschaft nicht einseitig auf sein Naturrecht Verzicht; die Macht tut es wie der Mensch – wann nun diese ihr Wort bricht und ihrerseits das bluttriefende Recht der Naturverwilderung aufstellt, so tritt sie mit diesem Schritt unwidersprechlich in den Naturstand und probiert ihre Tierkraft außer allen Schranken des Rechts; was soll dann das Volk, was ist sein unwillkürliches allgemeines Wollen in dieser Lage? Im Innersten seines Gefühls ist sein Vertrag mit der Macht gebrochen, woher soll ihm jetzt das bindende Gefühl seiner Pflicht kommen? Durch was für Mittel muß es in seine Seele hineingebracht werden? Die Macht habe nicht bloß Gewalt, sondern auch ein Recht gegen das allgemeine unwillkürliche Naturwollen des Volks. Entweder schüttelt das Volk beim Fühlen des allgemeinen Unrechts wie der Verschnittene den Kopf, oder es erwachen in ihm die lebhaften Gefühle der Selbsterhaltung.

Ein dritter Fall ist möglich: Ein Mensch, aber nicht ein Volk, höher als sein Geschlecht, entweicht dem Unrecht einer solchen gesellschaftlichen Zerrüttung und stirbt in lauter Verehrung von Pflichten, die höher sind als die gesellschaftlichen, ihnen zum Zeugnis einen Tod, der wenigen Sterblichen zu sterben vergönnt ist. Aber die gesellschaftliche Menschheit ist auf der ganzen Erde fern von dieser Höhe; und das gesellschaftliche Recht nimmt von ihr keine Kunde. Das menschliche Geschlecht teilt sich beim Leiden des äußersten Unrechts nur in zwei Teile; entweder greift es nach seinen Erdäpfeln oder nach seiner Keule.

Das ist nicht meine, das ist die Meinung meiner Natur, deren hohen ewigen Gang die Meinungen der Zeit weder viel fördern noch viel hindern.

Möge deine Gesetzgebung noch so eine weißgetünchte verkleisterte Wand sein, möge der Tiersinn der Macht sich hinter ihrem Blendwerk auch noch so menschlich gebärden, ewig unterwirft sich der Mensch mit wahrem freiem Willen nie einer Ordnung, die irgend jemand das Recht gibt, ihm in den Verirrungen seines Tiersinns die Haut über die Ohren herabzuziehen. Das Verhältnis der Menschen im Staat gegen einander ist ein bloß tierisches Verhältnis. Der Mensch als Geschlecht, als Volk, unterwirft sich dem Staat gar nicht als ein sittliches Wesen; er tritt nichts weniger als deswegen in die bürgerliche Gesellschaft, damit er Gott dienen und seinen Nächsten lieben könne. Er tritt in die bürgerliche Gesellschaft, seines Lebens froh zu werden und alles das zu genießen, was er als ein sinnliches tierisches Wesen unumgänglich genießen muß, um seine Tage froh und befriediget auf dieser Erde zu durchleben.

Das gesellschaftliche Recht ist daher ganz und gar kein sittliches Recht, sondern eine bloße Modifikation des tierischen.

Inzwischen liegt der Macht freilich alles daran, daß ich ein sittlicher Mensch sei und sie nie in den Fall komme, daß mein Tiersinn sich an dem ihrigen reibe. Sie leitet es deswegen auf der ganzen Erde dahin, dem Menschengeschlecht das Verhältnis zwischen ihr und dem Volk, und zwar einseitig, als ein sittliches in die Augen fallen zu machen. Aber die Neigung der Macht, sich für ein sittliches Verhältnis auszugeben, ändert die wahre Lage ihres Verhältnisses gegen das Volk nicht, und wann das Personale der Macht diese Neigung, von innerer Unsittlichkeit gereizt, nur für eigenen Vorteil nähret und sie nur zum Deckmantel ihrer bürgerlichen Gesetzlosigkeit und ihres gesellschaftlichen Unrechts braucht, so tut sie hierin nichts anders, als was der Wolf und der Fuchs, wann sie könnten, auch tun würden, um das Schaf und die Henne zu einem unbedingten Zutrauen zu bewegen. Indessen tut die Henne wohl, wenn sie des Nachts auf den Bäumen schläft, und das Schaf, wenn es trotz allem, was der Wolf sagt, sich an den Hirten hält.

Wahr ist indessen doch auch, wann die Macht durch persönlichen Edelmut freiwillig oder durch die Weisheit der Gesetze gezwungen in den Schranken einer gesetzlichen Rechtlichkeit fest steht, so ist ihre desfallsige Meinung, wenn sie sich schon auf Irrtum gründet, in diesem Fall dem Staat oft ganz unschädlich, sie kann ihm unter gewissen Umständen sogar vorteilhaft sein. Wann sie aber, aus welchen Ursachen es auch immer sein mag, dahin versunken ist – Volksdummheit und Volkssittlichkeit in ihren Begriffen mit einander zu verwechseln und beide als Polster ihrer tierischen Behaglichkeit und als Mittel anzusehen, sich selbst im Besitz jedes gesellschaftlichen Unrechts soweit zu sichern, daß sie weder durch die Kraft der Gesetze noch durch diejenige des Volks im Genuß derselben beeinträchtiget werden, sondern in Sardanapalischer Sorglosigkeit jede noch so unrechtmäßige Handlungsweise ohne einige Gefahr forthin als rechtmäßig behaupten kann; in diesem Fall ist dann die Neigung der Macht, ihr Verhältnis gegen das Volk als ein sittliches Verhältnis in die Augen fallen zu machen, gewiß nicht unschädlich und noch weniger wahrhaft nützlich.

Indessen wird sie in jedem, so auch in diesem Fall dich allemal mit der Miene der Unschuld fragen: Wie sollte ein Staat bestehen können, dessen Gesetzgebung nicht auf Sittlichkeit gegründet ist? Sie sollte zwar freilich diese Frage nicht tun, um den Verirrungen ihres eigenen Tiersinns einen Anstrich zu geben. Aber es begegnet ihr in diesem Fall, was dem Menschen überhaupt begegnet, wann er seinen Leidenschaften unterliegt. Sie kommt mit sich selbst in Widerspruch und glaubt auf der einen Seite wirklich, der Staat müsse auf Sittlichkeit gegründet sein, auf der andern Seite führt sie ihre Bürger selber zu hundert und hundert Verhältnissen, Umständen und Genüssen, die alle Fundamente der Sittlichkeit in unserm Geschlecht auslöschen und im Gegenteil dem Tiersinn des Volks eine gesellschaftliche Verhärtung, Schlauheit und Verwegenheit erteilen, daß das Zwischenspiel der mitten durch alle diese Umstände angepriesenen Sittlichkeit selbst zu dem frommen Betrug nicht mehr dienen kann, zu dem es eigentlich bestimmt ist. Wann es also der Macht schon zu verzeihen ist, daß sie das Verhältnis des Volks gegen sich selbst als ein sittliches ansehe und anpreise, so darf ein Gesetzgeber sich von diesem Irrtum nicht täuschen lassen, er darf weder den König noch das Volk sittlich glauben und muß die Rechte und Pflichten aller Stände im Staat also bestimmen, daß der allgemeine Tiersinn unserer Natur bei dem ersten Bürger wie bei dem letzten nicht zum Nachteil der andern in seiner bürgerlichen Lage Nahrung und Begünstigung finde.

So sehr also die Macht wünscht, daß ich ein sittlicher Mensch seie, so darf sie es als Macht nicht von mir fordern.

Die Macht darf nur in soweit von mir fordern, daß ich ein sittlicher Mensch seie, als sie selbst sittlich, das ist, als sie nicht Macht ist, nicht als Macht handelt. Sie darf es nur in soweit von mir fordern, als sie in der Göttlichkeit ihrer Kraft lebet und wallet, nicht daß ihr gedienet werde, sondern daß sie diene und ihr Leben gebe zur Erlösung für viele. Das ist der Stein in der Krone der Fürsten, der ihr Recht göttlich macht.

Wo er glänzt, da kniet das Volk und begehret kein Recht, aber wo er mangelt und falsch ist, da hat es ein Recht nötig.

Die Macht, als Macht, ist auf der ganzen Erde gesetzlos, und die gesetzlose Macht ist wie das Schlagen der Welle im Sturm, die selber vergeht, indem sie eine andere verschlingt.

Wer will das Recht dieser Welle, dieses Verschlingens, dieses Vergehens ansprechen?

Herr, verzeihe ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Johann Heinrich Pestalozzi

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