Читать книгу Johann Heinrich Pestalozzi "Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" - Dieter-Jürgen Löwisch - Страница 22

Staatsrecht

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Es ahndete mir jetzt, alle Wonne des Lebens scheitere an den öffentlichen Einrichtungen des gesellschaftlichen Zustands, ich mußte mich fragen: was ist das Staatsrecht? Aber unwillkürlich stand mir Goethes Lied vor der Seele:

Edel sei der Mensch,

Hilfreich und gut,

Denn das allein

Unterscheidet ihn

Von allen Wesen

Die wir kennen.

Heil den Unbekannten

Höhern Wesen,

Die wir ahnden,

Ihr Beispiel lehr uns

Jene glauben.

Denn unfühlend ist die Natur.

Es leuchtet die Sonne

Über Böse und Gute;

Und dem Verbrecher

Glänzet wie dem Besten

Der Mond und die Sterne.

Wind und Sturm,

Donner und Hagel

Rauschen ihren Weg

Vorübereilend

Und ergreifend

Einen um den andern.

Auch das Glück

Tappt unter die Menge,

Faßt bald des Knaben

Lockige Unschuld,

Bald auch des kahlen

Alten schuldigen Scheitel.

Nach ewigen ehrnen

Großen Gesetzen

Müssen wir alle

Unseres Daseins

Kreise vollenden.

Nur allein der Mensch

Vermag das Unmögliche,

Er unterscheidet,

Wählet und richtet,

Er kann dem Augenblick

Dauer verleihen.

Er allein darf

Den Guten lohnen,

Den Bösen strafen,

Heilen und Retten,

Alles Irrende, Schweifende

Nützlich verbinden.

Und wir verehren

Die Unsterblichen,

Als wären sie Menschen,

Täten im Großen,

Was der Beste im Kleinen

Tut oder möchte.

Der edle Mensch

Sei hilfreich und gut,

Unverändert schaffe er

Das nützliche Rechte,

Sei nur ein Beispiel

Jener geahndeten Wesen.

Warum steht dieses Bild meiner Natur vor meiner Seele, wenn ich mich frage, was ist das Staatsrecht? Ist es, weil wir alle nach ewig ehernen, großen Gesetzen unsers Dasein Kreise vollenden, also kein Recht, folglich auch kein Staatsrecht statt hat? Oder ist es, weil jedes Recht meines Geschlechts, folglich auch das Staatsrecht, wesentlich dahin wirken soll, das, was den Menschen von allen Wesen, die wir kennen, unterscheidet, in ihm seiner möglichsten Entwicklung näher zu bringen? Unstreitig würde die Staatskunst, wenn sie sich die Entwicklung der menschlichen Kräfte als ihre Bestimmung vorsetzte, mehr leisten, als die Welt bis jetzt von ihr empfangen zu haben scheint. Aber kann sie sich diesen Zweck vorsetzen, würde sie durch Anerkennung derselben in der Hand der Gewalt, in der sie immer sein muß, dadurch das Menschengeschlecht nicht mehr verhunzen, als selbiges durch alle Not und den unsäglichen Drang, zu welchen es ihre Fundament- und Rechtlosigkeit seit einem Jahrhundert hingeführt hat, wirklich verhunzt worden ist?

Aber ich wollte mit dieser Frage: was ist das Staatsrecht? eigentlich nicht so viel wissen; sie war eine bloße Folge der Ahndung: alle Wonne des Lebens scheitere an den öffentlichen Einrichtungen des gesellschaftlichen Zustands, und wollte in Verbindung mit den Gefühlen, welche die Gegenstände, die ich bis jetzt ins Auge faßte, in mir rege gemacht, eigentlich so viel sagen: Ist die Staatskunst gesellschaftlich rechtmäßig, wenn der Mensch in und zu ihrem Dienst durch sein Wissen und seine Kenntnisse zum Träumer, zum Schurken und zum Bettler gemacht wird? Wenn das Eigentum, vorzüglich durch ihre Einmischung, in und zu ihrem Dienst zu Pandorens Büchse wird, aus der alle Übel sich über die Erde verbreiten?

Hat sie ein Recht gegen das allgemeine unwillkürliche Naturwollen des Volks und gegen den Geist des gesellschaftlichen Vertrags, der auf diesem Naturwollen ruht? Hat sie ein Recht, den gesellschaftlichen Zustand auf die List, die Gewalt und den Betrug der Macht zu gründen? Ist sie gesellschaftlich rechtmäßig, wenn sie selber die Auswahl der Bürger durch die Verirrungen der Ehre bis dahin entmenschlichet, daß diese ihr eigen Geschlecht auf den Wink eines jeden totschlagen, der so weit gekommen, über Glaskorallen, Branntwein, Likörs, Edelsteine und Ordensbänder disponieren zu können? Darf sie meinem Geschlecht durch Unterwerfung den Ersatz seiner Naturansprüche entreißen und für den herrschenden Stand diesen Ersatz in Genüsse verwandeln, die ihn zu aller Sinnlichkeit und zu aller Gewalttätigkeit des Naturlebens herabwürdigen müssen? Darf sie die Unverdorbenheit meines Bluts und das freie Spiel meiner Säfte in Hirn und Herz mir zu Grund richten und wider meinen Willen und wider mein Recht mich dahin bringen, daß dieses Herz in mir nicht mehr wie in einem Mann schlägt, daß dieses Hirn wie vom Schlage getroffen in meinem ohnmächtigen Kopfe stockt und mein Blut in Todesfarbe umwandle, meinen Geist in jeder Ader vergifte? Ist sie gesellschaftlich rechtmäßig, wenn sie mein Geschlecht dahin erniedriget, dasselbe als ein bloßes Mittel, den Tiersinn der Macht zu befriedigen und allmählich zu verfeinern, anzusehen? Ist sie gesellschaftlich rechtmäßig, wenn sie mein Geschlecht durch Rechtlosigkeit und Ehrlosigkeit zum Gesindel macht und zur Erhaltung der Staatsruhe die Leiber und Seelen der Menschen dahin entnervt, daß sie zu allen Phantasien der willkürlichen Gewalt und zu allem Unflat der Rechtlosigkeit passen? Hat sie ein Recht, das Ebenmaß der bürgerlichen Stände aufzuheben, welches bestehen muß, wenn die Menschen nicht in einem ewigen Krieg miteinander sich selber auffressen oder zu einer solchen bürgerlichen Erschlaffung versinken sollen, daß es denn selber einem Duc d’Alba keine Freude machen könnte, dasselbe noch ferner zu drücken? Ist sie gesellschaftlich rechtmäßig, wenn sie die Privatangelegenheiten ihrer Günstlinge, die Ausschweifungen der Staatsehre, die Staatshoffart, die Staatseitelkeit und die Staatsgemächlichkeit eine Richtung nehmen läßt, die, indem sie bei dem Personale der Menschen, die auf die Sitten des Landes den größten Einfluß haben, Anmaßungen, Bedürfnisse und Gelüste erzeugt, die, da sie mit dem wirklichen Fundament des Staats kein Verhältnis haben, dahin wirken müssen, der arbeitenden und erwerbenden Klasse der Bürger die Gewohnheiten, Sitten und Lebensart und selber den bürgerlichen Spielraum zu rauben, der wesentlich ist, sie im Stand zu erhalten, die gesellschaftlichen Rechte und Vorzüge, die sie von ihren Vätern geerbt, ihren Kindern nicht als ein bloßes Schattenwerk, sondern wirklich zu hinterlassen? Ich gehe weiter. –

Johann Heinrich Pestalozzi

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