Читать книгу Johann Heinrich Pestalozzi "Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts" - Dieter-Jürgen Löwisch - Страница 21

Aufruhr

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Das Wimmern des Menschengeschlechts unter dem Druck des gesellschaftlichen Unrechts und der gesetzlosen Gewalt ist nicht Aufruhr. Auch lauter Tadel der öffentlichen Unordnung ist an sich nicht Aufruhr. Das Streben des Menschengeschlechts, die Maßregeln der öffentlichen Ordnung und des gesellschaftlichen Rechts, wo sie mangeln, einzuführen und, wo sie geschwächt sind, zu stärken – dieses Streben liegt im Innersten meiner unentwürdigten Natur – jedes Volk, dem es mangelt, ist in tiefe niedere Schlechtheit versenkt worden. Hin bist du, Name Vaterland! wenn dieses Streben in der Brust deiner Bürger tot ist, deine entwürdigten Menschen sind Staatsbürger geworden.

Und auch du, meine Menschlichkeit, bist hin, wenn ich ohne Interesse für das öffentliche Recht und ohne Abneigung gegen das öffentliche Unrecht und gegen seine Quelle, die willkürliche Gewalt, in der bürgerlichen Gesellschaft lebe. Aber wie kann man das Interesse für die Angelegenheiten des Vaterlands bei den Individuen im Land also lebhaft werden lassen und dabei den Staat auf jeden Fall vor Aufruhr sicher stellen?

Also fragt ein Zeitalter, das nie einfach und gerade hin recht tun, aber sich bei allem Nichtrechttun selber bestens gesichert wissen will.

Ich weiß auf diese Frage, wie sie gestellt ist, keine Antwort. Ich weiß gegen die Ausartung keiner einzigen menschlichen Kraft und keiner einzigen menschlichen Tugend auf jeden Fall Mittel. Aber das weiß ich doch, daß keine Kraft und keine Tugend in meiner Seele deswegen ausgelöscht werden soll, damit sie nicht ausarten könne, und daß die lebendige Anhänglichkeit des Bürgers an das Recht seines Landes eben so wenig zu einer Kraftlosigkeit, in der sie gar kein gesellschaftliches Übel mehr veranlassen könne, versenkt werden darf. Gewiß ist wenigstens, um dem Aufruhr vorzubeugen, muß ich doch nicht die menschliche Seele ändern, daß sie zu allen Phantasien der Willkür und zu allem Unflat der Rechtlosigkeit passe.

Wann aber eine Regierung aus Gründen, die sie nicht protokolliert, die Grundfrage des bürgerlichen Rechts und der bürgerlichen Selbstständigkeit nicht mehr will oder nicht mehr darf an sich kommen lassen, dann bleibt gegen den Aufruhr, das ist, gegen die beim Volke unter diesen Umständen notwendig erwachenden lebhaften Gefühle von der Unsicherheit und Unrechtmäßigkeit ihrer Lage, freilich kein Mittel übrig als der Gebrauch physischer Kraft, ratio ultima regum – und dieses wirket dann auch so viel sicherer, wann man im Fall ist, mit ganz verstockter Stille zu Werke zu gehen. Das aber weiß ich freilich dann auch nicht, wie dieses auf jeden Fall möglich ist, ohne das Volk noch schlechter zu machen, als es durch den Aufruhr selber kaum hätte werden können.

Wenn ich indessen schon zweifle, ob die Lagen und Umstände, unter denen der Mensch zum Giftmischen geneigt werden kann, denen vorzuziehen seien, durch die wir gereizt werden, mit Kains Keule zu morden, so billige ich das Totschlagen mit der Keule so wenig als das Giftmischen. Und wenn ich schon zweifle, ob das Volk durch den Aufruhr schlechter werde als durch politische Täuschung, so billige ich den Aufruhr so wenig als die falsche Gewalttätigkeit der Staatskunst. Das Verderben des gesellschaftlichen Zustands führet uns offenbar zu zwei Extremen, die unser Geschlecht auf ungleichen Wegen, aber beiderseits gleich zu Grund richten, und diese sind Ruchlosigkeit und Erschlaffung. Wir dürfen aber um der Gefahren willen, welche die Ruchlosigkeit und ihr äußerstes Verderben, der Aufruhr, über unser Geschlecht verhängt, diejenigen nicht verkennen, welche die bürgerliche Erschlaffung im gesellschaftlichen Zustand veranlaßt. Und wenn auch mein Zeitalter, durch Umstände verführt, der letzten allgemein das Wort redet oder wenigstens über sie hinschlüpft wie über glühendes Eisen, ich werde es nie tun. Sie ist gänzlicher Mangel des Glaubens an bürgerliche Tugend, gänzliche Gleichgültigkeit für das Wesen des gesellschaftlichen Rechts. Wer durch sie entwürdigt ist, verachtet sich selber und hasset den, der es nicht tut.

Wenn vom Recht die Rede ist, so spricht er, wir haben ja zu essen und zu trinken und schöne Häuser; wenn vom Volk die Rede ist, so fragt er: was ist das? Das Menschengeschlecht, meint er, sei die Geldkiste, Freiheit alles, was einträgt, und alles, was wohltut, Sklaverei alles, was kostet, und alles, was wehtut.

Mein Geschlecht verbindet in diesem Zustand die ekelhafteste Großsprecherei mit der tiefsten Niederträchtigkeit. Belastet mit Fluch des bürgerlichen Jochs, ohne bürgerliche Kraft, entblößt von irgend einem stärkenden Gefühl einer befriedigenden Selbstständigkeit, tanzet er dann, den Ring an der Nase, um Brot, bückt sich, kniet und purzelt vor dem Mann, der ihn diesen Diensttanz mit Prügel in der Hand gelehrt hat. Der Mensch trägt in diesem Zustand nicht einmal die Kraft und die Ruhe des stärkern Viehs in seiner Brust, das Herzklopfen des Schwächsten wird dann sein Teil. Von jedem Reiz gelockt und von jeder Drohung geschreckt, meint er dann, alles, was er tut, sei Sünde, und tut doch alles, was er meint, das Sünde sei. Er ist ohne Wohlwollen gegen sein eigen Geschlecht; wann von der Not seiner Kinder die Rede ist, so sagt er, sorgen sie auch, ich habe auch müssen sorgen, und eben so wenig rührt ihn die Nachwelt, sein Geschlecht und sein Volk.

Die Frage, ob der Mensch durch eine solche Erschlaffung nicht schlechter werden könne als durch den Aufruhr, ist also, so Gott will, keine verfängliche Frage.

Johann Heinrich Pestalozzi

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