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Erinnerungen
ОглавлениеLisa bewegen ähnlich Gedanken, wie Maximilian. Innerlich aufgewühlt von dem Treffen mit ihm legt sie sich ins Bett und findet keinen Schlaf. Ihr Blick ist starr auf die Zimmerdecke gerichtet. Dann schließt sie die Augen. Wie in eine Nebelwand gehüllt tauchen die Geschehnisse vor mehr als fünf Jahren in ihren Gedanken auf: Den Gerichtssaal und die dort anwesenden Personen nimmt Lisa nur schemenhaft wahr. Die Gefühle, die sie damals beherrschten, sind jedoch so gegenwärtig, dass es ihr vorkommt, als wäre das ganze Geschehen erst gestern gewesen. Beim Betreten des Verhandlungsraumes ist ihr Blick kurz auf Maximilian gerichtet. Sie spürt, wie ihre Knie merklich zittern und in ihr plötzlich Zweifel hochkommen, den von ihr geliebten Menschen, so heimtückisch zu hintergehen. Genau so deutlich erinnert sie sich an die Zeit danach. Die aufgekommenen Gefühle für Maximilian verdrängt sie recht schnell. Lisa ist der festen Überzeugung, dass er nie in seinem Leben ihre tiefe Liebe zu ihm erwidern werde. Die Gefängnisstrafe in Höhe von fünf Jahren erscheinen ihr viel zu mild, wenn sie an ihre seelischen Schmerzen wegen ihrer verschmähten Liebe denkt. Die von ihm anfänglich der Haftzeit geführten Telefonanrufe bereiten ihr ein regelrechtes Vergnügen. Spürt sie doch dabei seine verzweifelte Lage. Die fast schon flehentlich vorgetragenen Bitten, ihn doch einmal in der Haftanstalt zu besuchen, rufen bei ihr eine Art innerliche Befriedigung hervor. Sie sind der Beweis, dass die Vergeltung für den ihr zugefügten Kummer und das unsägliche Leid im vollen Umfang gelungen ist. Mit einer tiefen Genugtuung lehnt Lisa entschieden einen Besuch bei ihm ab. Nach einer gewissen Zeit werden die Anrufe von Maximilian seltener und schließlich gibt er seine vergeblichen Bemühungen gänzlich auf. Plötzlich ertappt sie sich bei dem Gedanken, dass ihr nunmehr etwas zu fehlen scheint. Um sich abzulenken, widmet sich Lisa umgehend der finanziellen Angelegenheit des Komplottes. Mehrmals ist sie gezwungen, Marco an die getroffene Vereinbarung hinsichtlich ihres Verschweigens der sich tatsächlich abgespielten Geschehnisse zu erinnern. Eines Tages wird ihre Hartnäckigkeit belohnt. Marco signalisiert ihr, das Geld überwiesen zu haben. Aufgeregt und mit Herzklopfen setzt sich Lisa an ihren Computer und öffnet ihr Bankkonto. Vor Freude jubelt sie auf und kann es kaum fassen. Tatsächlich hat Marco Wort gehalten und das Konto weist erstmals in ihrem Leben eine stattliche Summe von mehr als fünfzigtausend Euro aus. Ab sofort verschwendet sie kaum noch einen Gedanken an Maximilian. Als Erstes erfüllt sich Lisa einen lange gehegten Wunsch. Eine Kreuzfahrt in die Südsee war schon immer ihr großer Traum. Mit dem Gehalt einer Angestellten in einem Steuerbüro war diese Vorstellung nahezu unerreichbar. Doch jetzt hat sie es geschafft. Mit dem Geld von Marco genießt Lisa einen vierwöchigen Traumurlaub. Gegenüber ihren Kolleginnen und Kollegen begründet sie den Geldsegen mit einer unerwartet erhaltenen Erbschaft.
Die ersten Tage auf dem Luxusschiff sind voller neuer Eindrücke und Lisa genießt den Aufenthalt auf dem Schiff und die in regelmäßigen Abständen stattfindenden Landgänge in vollen Zügen. Recht bald nimmt sie die Schattenseiten des von ihr so sehnlichst gewünschten Erlebnisses wahr. Während die Mehrzahl der Passagiere zu zweit ihre Zeit verbringen, fühlt sich Lisa zunehmend allein gelassen. Ob es am Mittagstisch oder abends in der Bar ist, immer scheint sie neben den glücklichen Paaren eine Außenseiterrolle zu spielen. Bereits nach einer Woche der für sie märchenhaften Reise melden sich bei ihr innerliche Zweifel über ihr Verhalten gegenüber Maximilian an. Im Stillen bereut sie ihre Handlungsweise und überlegt: Mein Verhalten war im Grunde genommen recht dumm und töricht. Jetzt, wo Patricia nicht mehr lebt, wäre doch der Weg für mich frei, um Maximilians Liebe und Zuneigung zu gewinnen. Doch dazu ist es leider zu spät. Ein Zurück wird es wohl niemals geben.
Nach der Rückkehr von der Kreuzfahrt ist Lisa mehrmals geneigt, Kontakt mit Maximilian aufzunehmen. Letztendlich verlässt sie jedes Mal der Mut, wenn sie den Telefonhörer in die Hand nimmt. Jedoch bleibt er weiterhin in ihrer Gedankenwelt allgegenwärtig. Oftmals vergleicht Lisa andere Männer mit Maximilian und kommt jedes Mal zu dem Schluss, dass keiner auch nur annähernd einem Vergleich mit ihm standhält. So vergehen mehr als fünf Jahre. Lisas Leben verläuft recht eintönig und um sie herum ist es einsam geworden. Nach den schrecklichen Ereignissen der Geburtstagsnacht löst sich der Freundeskreis auf. Die vormals häufigen Zusammenkünfte finden nicht mehr statt. Ein manches Mal denkt sie über ihre Lebenssituation nach. Das dabei aufkommende Gefühl von fehlendem Lebensglück unterdrückt sie und tröstet sich mit dem Gedanken, dass die wilden Jugendjahre vorbei sind und man das Leben mit Mitte Dreißig nunmehr eben etwas ruhiger angehen sollte. Bestärkt von dieser Auffassung wird Lisa durch ihre Arbeitskolleginnen. Bei Pausengesprächen hört sie oftmals die Äußerung, dass die Zeit der großen und ausgedehnten Partys vorbei sei und man zu Geburtstagen oder anderen Anlässen sich damit begnügt, mit dem Ehepartner zu Hause mit einem Glas Wein anzustoßen. Obwohl ihre Kolleginnen im Durchschnitt mehr als zehn Jahre älter sind, macht sich Lisa gerne diese Lebensphilosophie zu Eigen. Sie passt so wunderbar problemlos zu ihrer persönlichen Situation. Immer wieder tröstet sie sich mit den Worten, dass es doch viel schöner sei, das Leben selbst zu bestimmen und frei und ungebunden zu sein. Ihre Gedanken werden durch die Erinnerungen an den heutigen Tag überlagert. Ihr wird deutlich bewusst, dass alle ihre bisherigen Argumente nur dazu dienten, um sich nicht die Unzufriedenheit über die eigenen Lebensumstände einzugestehen. Durch die Begegnung mit Maximilian könnte die im Stillen bestehende Sehnsucht nach Glück und Geborgenheit in Erfüllung gehen. Mit einem hoffnungsvollen Lächeln über eine mögliche gemeinsame Zukunft mit ihm schläft sie schließlich ein.