Читать книгу Verschollen in Somalia - Dieter Semma - Страница 12

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Lukas hatte sich die ganze Nacht in seinem Bett gewälzt. Die Gedanken über den Verlust seiner Liebe und über seine Zukunft haben ihn lange wachgehalten. Der morgendliche Kaffee nützte denkbar wenig. Er machte ihn nicht munter. Und so begab er sich völlig übermüdet und missgestimmt auf den Weg zu seiner Arbeitsstelle. Die Lust zu arbeiten war ihm gründlich versalzen und in dieser Verfassung betrat er das Büro seines Chefs. Und der musterte ihn verwundert:

„Lukas, Sie sehen schlecht aus.“

„Ja, so fühle ich mich auch … Chef, kann ich eine Woche Urlaub haben, ich muss mich dringend erholen. Mir steht noch mein Resturlaub zu.“

Der Chef war über den unerwarteten Antrag etwas konsterniert und sagte:

„Das kommt aber plötzlich, Herr Ramon. Nein, so geht das nicht!“

Er wollte weiterreden, aber Lukas unterbrach ihn mit den Worten:

„Chef, ich habe meinen Laden in Ordnung und momentan ist wenig zu tun.“

„Wenn das so ist, dann will ich mich nicht aus Prinzip sträuben. Sie können Ihren Urlaub haben, aber nur unter der Voraussetzung, dass Sie Ihre Geschäfte ordnungsgemäß an Ihren Stellvertreter übergeben haben.“

Lukas ballte die rechte Hand und streckte den Daumen gegen den Himmel:

„Wird gemacht, Chef.“

Lukas gab sich alle Mühe und so konnte er zwei Tage später seinen Urlaub antreten.

Ans Ausschlafen war nicht zu denken, er hatte einen Entschluss gefasst und der musste nun in die Tat umgesetzt werden. Er wollte kündigen, wollte weg von Dresden und zur See fahren. Alles musste sehr genau geplant werden. Und so legte er los, die Stellenanzeigen in einer nicht mehr ganz neuen, überregionalen Zeitung zu studieren. Er hatte gerade auf der dritten Anzeigenseite zu lesen begonnen, da fand er es! Unglaublich, die VIP-Reederei in Bremerhaven suchte für das Kreuzfahrtschiff ‚Aventura Sol‘ den Hauptabschnittsleiter ‚Schiffstechnik‘. Voraussetzung war ein abgeschlossenes Fachhochschulstudium in Maschinenbau oder Elektrotechnik mit einem Prädikatsexamen. Erste Kontaktaufnahme sollte ein Telefongespräch mit dem Personalchef sein. Lukas las die Annonce dreimal, rieb sich die Hände und dachte:

‚Was für ein Glück, kaum habe ich mir neue Ziele gesetzt, kommt dieses Angebot. Es passt 100-prozentig zu meiner Berufsausbildung und wäre der nächste Schritt in meinem Werdegang. Ich hoffe inständig, dass die Stelle noch nicht vergeben ist und dass ich den Personalchef mit meinen Kenntnissen und Fähigkeiten überzeugen kann.‘

Sogleich griff er zum Telefon, wählte die Nummer der VIP-Reederei und ließ sich mit der Personalabteilung verbinden:

„VIP-Reederei, Ruland, was kann ich für Sie tun?“

„Lukas Ramon, guten Tag, ich habe Ihre Annonce gelesen. Sie suchen den Hauptabschnittsleiter Schiffstechnik für Ihr Schiff ‚Aventura Sol‘. Ich würde mich gern vorstellen, weil ich alle Bedingungen erfüllen kann, die Sie an einen Bewerber stellen.“

„Da kommen Sie aber reichlich spät, denn übermorgen läuft die Bewerbungsfrist aus. Um es kurz zu machen, wenn Sie überhaupt eine Chance haben möchten, müssen Sie sich noch morgen hier in Bremerhaven vorstellen. – Schaffen Sie das?“

„Ja!“

„Sagen wir, ich erwarte Sie um neun Uhr.“

Ein Lächeln flog über Lukas Gesicht:

„Ja, natürlich werde ich da sein!“

„Dann machen Sie sich bitte auf den Weg, kommen Sie in mein Büro und bringen einen tabellarischen Lebenslauf, ein neueres Porträtfoto und das Abschlusszeugnis von der Fachhochschule mit. Und wenn Sie damit aufwarten können, legen Sie mir auch noch Ihre Arbeitszeugnisse vor.“

„Ja, das wird alles gemacht, ich bin morgen rechtzeitig bei Ihnen.“

Lukas stellte die geforderten Unterlagen zusammen und ergänzte den Lebenslauf um die neuesten Daten. Anschließend packte er alles Notwendige für die nächsten beiden Tage und für das Vorstellungsgespräch. Nicht einmal zwei Stunden waren vergangen, da befand er sich mit seinem Golf auf der A4 und fuhr Richtung Norden. Am späten Nachmittag erreichte er Bremerhaven und suchte dort zunächst den Firmensitz der VIP-Reederei. Später begab er sich in ein kleines, aber feines Hotel und buchte ein Einzelzimmer für eine Nacht. Am nächsten Morgen war er schon sehr früh wach, kleidete sich diesmal elegant mit Anzug und Krawatte, verzichtete auf das Frühstück und bereitete sich auf das kommende Gespräch vor.

Fünfzehn Minuten vor dem Termin erreichte er das Firmengelände und betrat das hohe, moderne Bürogebäude.

An der Rezeption sagte ihm eine freundliche Dame, er möge ihr zunächst seine Bewerbungsunterlagen übergeben. Denn diese sollten dem Personalchef noch vor dem Bewerbungsgespräch vorgelegt werden. Und sie forderte ihn auf, Platz zu nehmen und zu warten. Sie werde ihn zur rechten Zeit abholen. Im Wartebereich fand er Flyer von dem Schiff ‚Aventura Sol‘. Einen davon nahm er an sich und las darin vor allem die technischen Informationen. Er war davon beeindruckt, dass das Schiff eine Bruttoraumzahl von 59229 hatte und von vier Motoren mit zusammen 41650 PS angetrieben wurde. Darüber hinaus gab es noch eine Menge an kleineren Maschinen – genau seine Expertise. Lukas schaute über den Prospekt hinweg ins Leere und dachte:

‚Wenn ich die Stelle als Hauptabschnittsleiter bekomme, halse ich mir eine ganze Menge Verantwortung auf. Und dazu kommt noch, dass es nicht auf einem Frachter, sondern auf einem Kreuzfahrtschiff sein wird. Aber letztlich dürfte das kein Problem sein, denn ein solches Schiff hat genau wie alle anderen Schiffe dieser Größe ähnliche Motoren und Generatoren. Ja, ich traue mir den Job in voller Tragweite zu. Auf jeden Fall werde ich die Stelle annehmen, wenn ich die Reederei mit meiner Bewerbung überzeugen kann.‘

Er war gerade in seinen Gedanken versunken, als die Dame wiedererschien und ihn zum Büro des Personalchefs begleitete.

Lukas sah sich dort gleich zwei Herren gegenüber. Er begrüßte sie höflich und stellte sich kurz vor. Der Ältere war Herr Ruland, der Personalchef. Der Jüngere mit pechschwarzem Haar und dunkelbraunen Augen steckte in einer Uniform, die mit vier goldenen Ringen auf den Ärmeln verziert war. Er wurde ihm als der erste Offizier der ‚Aventura Sol‘ mit dem Namen Max Wolliner vorgestellt.

„Herr Ramon, nehmen Sie bitte Platz, möchten Sie eine Tasse Kaffee?“

„Ja, gerne.“

Lukas nahm vor dem gewaltigen Schreibtisch direkt neben dem Ersten Offizier Platz. Der Personalchef ergriff die Bewerbungsmappe und erklärte, dass sie aus den Schriftstücken einen ersten Eindruck von ihm gewonnen hätten und stellte dann aus heiterem Himmel die Frage:

„Warum bewerben Sie sich bei uns?“

Lukas musste schlucken und antwortete schließlich:

„Ich benötige dringend eine Veränderung, denn das, was ich derzeit mache, hat wenig mit meiner Ausbildung zum Ingenieur in Schiffsmaschinenbau zu tun. Dazu kommt noch, dass ich mit meiner jetzigen Anstellung bei der Dresdener Motorenbau GmbH sehr unzufrieden bin. Denn ich habe dort kaum Verantwortung zu tragen. Darüber hinaus gibt es für mich bei dieser Firma keine Perspektive für meine berufliche Zukunft. Die Dresdener Motorenbau konstruiert und baut im bescheidenen Umfang spezielle kleine Dieselmotoren. Diese haben wirklich nichts mehr mit Schiffsmotoren, Schiffsantrieben, Steuerung und Stromversorgung zu tun und deshalb auch auf Dauer nichts mit meinen Berufswünschen. Somit möchte ich mich anderweitig orientieren. Zwei Dinge haben mich zu Ihnen geführt, erstens bei Ihnen kann ich das anwenden, was ich beherrsche, und zweitens möchte ich gern in erheblich größerem Umfang Verantwortung übernehmen. Ich habe sieben Semester Schiffsmaschinenbau an der Fachhochschule in Flensburg studiert und nebenbei einige Vorlesungen in Elektrotechnik belegt. Da ist es bereits vorgezeichnet, dass man zur See fahren möchte. Und die Seefahrt war schon immer mein Traum.“

Der Personalchef machte sich während des Vortrags einige Notizen in ein Heft und fragte anschließend:

„Sind Sie in den letzten Jahren bereits einmal zur See gefahren?“

Lukas war in seinem Element. Abwechselnd schaute er offen den Personalchef und den ersten Offizier an.

„Ja, das bin ich. In den Semesterferien habe ich einmal vier Wochen lang auf einem Bananenfrachter gearbeitet – an der Maschine. Der fuhr überwiegend mit Schweröl. Meine Hauptaufgabe war, die Kraftstoffaufbereitung an den Separatoren zu überwachen und diese ständig zu reinigen. Damals haben wir Bananen aus Mittelamerika geholt.“

„Das freut mich zu hören. Das sagt mir, dass Sie nicht nur Theoretiker sind. Sie haben damit wertvolle Erfahrungen sammeln können. Aber nun zu einem ganz anderen Thema: Sie haben sich sicherlich im Internet über uns informiert. Wissen Sie, was die VIP-Reederei sich zur Aufgabe gestellt hat?“

Lukas musste schmunzeln, denn die Antwort auf diese Frage hatte er vorhin in dem ausgelegten Prospekt gelesen: „Das Unternehmen, VIP-Reederei, ist eins der Großen unter den Kreuzfahrtanbietern aus Deutschland, jährlich werden über 150.000 Passagiere befördert. Die Reederei besitzt insgesamt vier Schiffe. Sie hat sich drei Dinge zum obersten Ziel gesetzt: Sicherheit, Umweltschutz und Gästezufriedenheit. Es ist mir klar, dass ich in der Stellung Hauptabschnittsleiter Schiffstechnik vollverantwortlich für diese drei Maxime zu sorgen habe – und dazu kommt noch der Aspekt der Wirtschaftlichkeit. Falls ich eingestellt werde, werde ich mit meiner ganzen Kraft dafür eintreten.“

Nun mischte sich der erste Offizier in die Befragung von Lukas ein:

„Sagen Sie einmal, wenn Sie an Bord der ‚Aventura Sol‘ sind, da haben sie 28 Mitarbeiter zu führen. Haben Sie Erfahrung in der Personalführung? Können Sie Mitarbeiter anleiten und sie zu guten Leistungen anspornen?“

Lukas ließ sich einige Sekunden Zeit, ehe er diese Frage beantwortete, er entschied sich dafür, auch hier absolut ehrlich zu bleiben und so sagte er:

„Große Erfahrungen habe ich da nicht, in der derzeitigen Firma habe ich nur zwei Mitarbeiter und mit denen komme ich hervorragend aus. Ich konnte sie bislang durch zutreffende und gerechte Entscheidungen, auch wenn sie manchmal hart waren, sowie durch Anerkennung motivieren. Mein Stil ist es, bestimmend zu sein, durch Vorbild zu überzeugen, aber nicht autoritär zu befehlen. Sollte ich als Leiter einer Abteilung eingesetzt werden, dann darf jeder in meiner Gruppe zu Wort kommen und mir seine Vorschläge unterbreiten. Anschließend würden wir gemeinsam eine Lösung erarbeiten. Ich selbst habe keine Schwierigkeiten damit, mich in eine Bordorganisation einzufügen und meine Mitarbeiter anzuleiten und weiterzubilden.“

Im weiteren Verlauf des Gespräches stellten der Personalchef und der erste Offizier eine Reihe Fragen zum Lebenslauf, zur Borddiensttauglichkeit und zu den Gehaltswünschen. All dies konnte Lukas mit seinen Gesprächspartnern klären. Zum Schluss sagte der Personalchef:

„Herr Ramon, ich danke Ihnen, dass Sie sich noch so kurzfristig die Mühe gemacht haben, anzureisen, um sich vorzustellen. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir Ihnen an dieser Stelle keine abschließende Zusage erteilen können. Wir werden uns noch intern beraten müssen, da sich außer Ihnen noch andere Bewerber gemeldet haben. Demzufolge werden Sie demnächst von uns informiert.“

Momentan blieb Lukas nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden und zurück nach Dresden zu fahren.

Fünf Tage später erhielt er einen Brief der Reederei mit folgendem Wortlaut:

‚Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Sie an erster Stelle unter allen Bewerbern um die Position Hauptabschnittsleiter Schiffstechnik einstellen möchten. Ende April können Sie bei uns den Dienst antreten, Sie werden erst einmal vierzehn Tage lang im Schulungszentrum der Reederei eingewiesen. Und von dort aus werden Sie mit dem Flugzeug unmittelbar zur ‚Aventura Sol‘ gebracht. Wir erbitten Ihr schriftliches Einverständnis innerhalb der nächsten Woche.‘

Voller Freude, gemischt mit einer Portion Wehmut setzte sich Lukas an seinen Schreibtisch und brachte seine Zusage zu Papier. Der entsprechende Brief ging noch am gleichen Tag per Einschreiben auf den Weg zur VIP-Reederei. In der nächsten Woche leitete er die Kündigung seiner derzeitigen Anstellung bei der Dresdener Motorenbau GmbH ein. Dann kam eine Zeit, während der er alle Meldeformalitäten erledigen, Impfungen erdulden sowie Reisepass und Seefahrtsbuch beantragen musste. Ende April verabschiedete er sich endgültig von Dresden, von seinen Eltern und von seinem Freund Klaus. Ein neuer Lebensabschnitt begann für ihn und das erste Ziel war das Schulungszentrum in Bremerhaven. Sophia hat er in seinem Leben nie wiedergesehen.

Verschollen in Somalia

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