Читать книгу Verschollen in Somalia - Dieter Semma - Страница 13

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Die Hitze staute sich in den Straßen von Hobyo, einer kleinen Stadt in Somalia. Straßen konnte man das nicht nennen bestenfalls befestigte Wege. Rechts und links standen halbverfallene Häuser und schäbige Hütten. Hier wohnten die Ärmsten der Armen Somalias – ohne Aussicht auf ein besseres Leben. Erst 250 Kilometer nordwestlich lag Gaalkacyo, die Hauptstadt der Provinz Mudug. Sie erreichte man über eine Piste, die quer durch die somalische Wüste führte.

Hobyo selbst ist ein Küstenort am Indischen Ozean, mitten in einer Wüstenlandschaft. Er besitzt zwischen der Ansiedlung und dem Meer einen breiten Sandstrand, dem zwei schmale, lang gezogene Inseln vorgelagert sind. Etwas weiter südlich hatte sich ein Naturhafen gebildet. Denn am Fußpunkt einer kleinen Halbinsel war eine Bucht entstanden, die von einer vorgelagerten Sandbank geschützt wurde. An dieser Stelle war die See ruhig und das Wasser war tief genug, dass dort Schiffe einfahren und ankern konnten. Dieser Naturhafen war schließlich der Grund, weshalb sich überhaupt die Ansiedlung Hobyo gebildet hatte. Die meisten Menschen in dieser Region lebten vom Fischfang und so dümpelten im Hafen einige heruntergekommene Fischerboote. Nicht mehr fahrtüchtige Boote lagen auf dem Strand und dort zerfielen sie und rosteten vor sich hin. Die Korrosion würde es in den nächsten Jahren richten.

Die Mittagssonne brannte unerbittlich hernieder und das Städtchen wirkte wie ausgestorben. Nur ein streunender Hund war unterwegs, um sein Gebiet zu markieren. Yussuf erblickte keinen einzigen Menschen auf dem lang gezogenen Hauptweg. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er musste dringend seinen Durst löschen, denn seine Wasserflasche war schon eine ganze Weile leer. Höchste Zeit, an dem Gasthaus von Hobyo anzukommen. Yussuf war lange barfuß in der sengenden Hitze an der somalischen Küste entlang marschiert, bis er hier den Küstenort erreicht hatte. Und das nicht ohne Grund. Von nun an sollte sich alles ändern, sehr bald sollte es einen Neuanfang in seinem Leben geben.

In der letzten Nacht war Yussuf noch mit seinem kleinen Fischerboot auf See gewesen und hatte in harter Arbeit seine Stellnetze eingeholt. Zwei kleine kümmerliche Fischlein waren das Ergebnis all seiner Mühen gewesen. Er war am Ende mit seiner Geduld, er hatte definitiv sein Einkommen verloren. Seinerzeit, als Yussuf von seinem Vater das Boot übernahm, ging es ihm und seiner Familie einige Jahre lang gut. Er konnte seiner Frau und Kindern etwas bieten. Aber in der Zeit danach kamen zuerst die Fischtrawler, die tonnenweise das Meer leer fischten. Für Yussuf blieb stetig weniger übrig, jedoch konnte er seine Familie immer noch ernähren. Viel konnte er nicht mehr zum Markt tragen. Schließlich kamen die Giftfässer. Sie wurden einfach von den Industrienationen an der ca. 3000 km langen somalischen Küste entsorgt und sich selbst überlassen. Ein Tsunami tat ein Übriges. Er spülte Tausende von Giftfässern in die See. Dort wurden sie im Laufe der Zeit undicht, liefen aus und vergifteten das Wasser. Das Leben vor Somalias Küsten wurde ausgelöscht. Die Folge war ein weitverbreitetes Fischsterben. Und was nun noch angelandet werden konnte, war extrem mit Giftstoffen belastet.

Yussuf brachte immer weniger von seinen nächtlichen Bootstouren mit. Seine jüngste Tochter war bereits an Unterernährung gestorben. Vielleicht war es auch das Gift, er wusste es nicht. Eine ohnmächtige Wut erfasste ihn, wenn er daran dachte. Das Ergebnis der letzten Nacht gab ihm den Rest. Seine Existenz war grundlegend bedroht. Er musste sein bisheriges Leben, seinen Beruf, eigentlich alles ändern. Die Entscheidung fiel ihm sehr schwer. Denn ab jetzt musste er gegen seine innere Überzeugung gegen seine Wertvorstellung handeln. Er und seine Familie sollten einfach nur überleben können.

Er hatte es von seinen Nachbarn erfahren und sich nach langen reiflichen Überlegungen dazu entschlossen. Ein gewisser Ahmed Bin Omar suchte Männer für einen lukrativen Job. Er zahlte gut. Yussuf wusste auch, dass dieser Job illegal, ja verwerflich war. Aber was konnte er sonst noch tun? Seine Familie sollte nicht an Vergiftung sterben oder den Hungertod erleiden. Lange hatte er gezögert, immer wieder hat ihn sein Gewissen zurückgehalten. Andererseits hatte er bei einigen seiner Nachbarn beobachtet, dass sie zu dieser Gaststätte nach Hobyo gegangen waren und von da ab sorgenfrei leben konnten. Dort waren sie mit diesem Ahmed zusammengetroffen und der hatte sie in seine Organisation mit dem Namen ‚Bund der Gerechtigkeit‘ eingestellt. Von da ab waren sie keine Fischer mehr. Ihnen ging es zusehends besser. Nun glaubte auch Yussuf, an der Reihe zu sein. Allah hatte er um Verzeihung gebeten.

Yussuf betrat zögernd, mit gekrauster Stirn den Treffpunkt, eine schäbige, halb zerfallene Gaststätte.

Hier sollte er Ahmed treffen, um sein Leben zu ändern. Geld und Reichtum warteten jetzt auf ihn. Im Gastraum war schwaches Licht und so konnte er niemanden erkennen. Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als aus einer Ecke eine Frau auftauchte und ihn anherrschte:

„Du bist nicht von hier, ich kenne dich nicht! Was willst du?“

Erschrocken zuckte er zusammen, aber danach ging er entschlossen auf sie zu und sagte:

„Was ist in dich gefahren, so spricht keine Frau zu mir! … Und jetzt führe mich zu Ahmed, ich muss ihn sprechen.“

Mit einem taxierenden Blick begutachtete sie ihr Gegenüber und wich einen kleinen Schritt zurück:

„Wie du siehst, befindet sich in diesem Haus niemand außer mir. Einen Mann namens Ahmed musst du woanders suchen.“

Yussuf wurde rot vor Zorn und sagte:

„Ich weiß, dass Ahmed Bin Omar öfters herkommt, um Leute anzuwerben. Also führe mich zu ihm.“

Mit gespielter Naivität entgegnete sie ihm:

„Ach, wenn du Ahmed, den Chef der Piraten meinst, der ist nicht da. Der kommt nur ganz selten hierher. Vielleicht heute, vielleicht morgen oder erst übermorgen.“

Die Anspannung wich aus seinem Gesicht, Resignation erfasste ihn. Hatte er sich umsonst auf den beschwerlichen Weg gemacht? Keinesfalls! Denn er würde unter allen Umständen Hobyo erst dann verlassen, wenn er Ahmed gesprochen hatte:

„Ich bleibe und ich werde auf ihn warten!“

In einem etwas freundlicheren Ton sagte sie:

„Vielleicht hast du Glück und er kommt heute noch. Aber hier in der Gaststätte warten, das geht gar nicht. An diesem Ort wirst du von anderen Gästen gesehen. Folge mir ins Hinterzimmer! Denn Ahmed legt großen Wert darauf, dass seine Treffen geheim bleiben.“

Sie ergriff seine Hand und zog ihn in einen dunklen Raum.

„Dort kannst du bleiben“, sagte sie und ließ ihn allein zurück.

Er wartete eine Stunde, sodann eine Zweite. Ahmed Bin Omar war immer noch nicht gekommen. Er dachte:

‚Wenn er heute nicht mehr eintrifft, werde ich mich in eins der alten Boote dort auf dem Strand verkriechen und übernachten. Morgen früh komme ich wieder hierher und werde so lange bleiben, bis ich ihm mein Anliegen vorgetragen habe.‘

Nach weiteren anderthalb Stunden wollte Yussuf schon gehen, als er ein Motorengeräusch wahrnahm. Der Motor verstummte, ein Fahrzeug musste genau vor der Gaststätte angekommen sein.

Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Tür zum Hinterzimmer und eine vollkommen schwarz bekleidete Gestalt betrat den Raum. Selbst ihr Kopf war mit einem Tuch fast vollständig umwickelt, nur ein schmaler Sehschlitz ließ zwei ebenfalls schwarze Augen frei. Die Gestalt war begleitet von zwei Bodyguards, die jeweils ein Maschinengewehr mit sich führten und mit Patronengurten behangen waren. Yussuf erschauderte, als er die Drei erblickte, obwohl er mit einem ähnlichen Szenario gerechnet hatte. Respektvoll stand er auf und verneigte sich. Ihm war klar, dass er die Gaststätte nicht mehr lebend verlassen würde, wenn er jetzt falsch handelte. Der Vermummte eröffnete das Gespräch:

„Wer bist du? Und was führt dich hierher?“

„Mein Name ist Yussuf und ich bin Fischer. Nein! … ich war Fischer bis gestern. - Ich bin am Ende mit meiner Existenz. - Ich suche Hilfe für mich und meine Familie. - Ich bin zu allem bereit.“

„Du suchst Hilfe und bist zu allem bereit, in dem Fall bist du bei mir genau richtig. Ich bin Ahmed Bin Omar, bekannt als der Chef des ‚Bundes der Gerechtigkeit‘. Sicherlich hast du schon von mir gehört. Ich habe bereits vielen geholfen. Wenn ich dir nun helfen soll, so bin ich dazu bereit. Aber dann erwarte ich von dir, dass du Mitglied in unserem Bund wirst. Wir bieten dir einen guten Lohn. Davon kannst du dir alles das kaufen, was du und deine Familie zum Leben brauchen. Auf der anderen Seite musst du meinen Befehlen und denen meiner Stellvertreter unbedingt gehorchen. Du weißt, wir kapern die Schiffe von den reichen Ungläubigen, die unser Land in Not und Elend versetzt haben. Und das ist gerecht. Denn wir holen nur das wieder, was sie uns genommen haben. Wenn du mitmachen möchtest, so musst du das jetzt erklären. Du wirst bei Allah schwören, dass du unsere Organisation, den ‚Bund der Gerechtigkeit‘, nie verraten wirst und dass du unsere Anordnungen befolgen wirst. Wenn du nicht mitmachen möchtest, dann brechen wir unser Gespräch an dieser Stelle ab und du siehst mich nie wieder. Noch eins, Ungehorsam, Diebstahl und Verrat bestrafen wir mit aller Härte. Fischer, so frage ich dich: Willst du in den ‚Bund der Gerechtigkeit‘ eintreten?“

Yussuf brachte lediglich ein klägliches Ja heraus.

„Dann nimm hier den Koran in die Hand, knie nieder und beuge dich vor Allah und schwöre bei dem Leben deiner Kinder, dass du unsere Organisation nie verraten wirst.“

Yussuf kniete sich nieder, wie ihm geheißen wurde und sprach den Text des Schwures, den Ahmed ihm vorsprach.

„So, nun bist du Mitglied in unserem ‚Bund der Gerechtigkeit‘, ich gebe dir jetzt schon etwas Geld, damit du deiner Familie etwas zu essen kaufen kannst. In ein, zwei Tagen wird ein Bote zu dir kommen und dir eine Waffe überreichen und dir einen ersten Befehl übermitteln.“

Ahmed reichte ihm noch ein kleines Bündel Geld und verließ ohne weitere Worte das Gebäude. Yussuf folgte ihm unmittelbar. Draußen angekommen konnte er nur noch zusehen, wie der Vermummte mit seinen Bodyguards in einen Jeep stieg und unter einer Staubwolke Richtung Westen davonbrauste. Das ging alles sehr rasch, nicht einmal eine Viertelstunde wendete sein neuer Chef auf, um für seine Organisation ein weiteres Mitglied zu gewinnen. Und genau so lange brauchte Yussuf, um sein Leben von Grund auf zu ändern.

Er kaufte mit dem soeben erhaltenen Geld ein Säckchen Kichererbsen, ein paar Früchte und begab sich auf den langen Heimweg. Heute Abend würde er seine Familie wiedersehen und ihnen etwas zu Essen mitbringen. Trotzdem stellte sich bei ihm kein Gefühl der Freude ein, eher spürte er eine große Last auf seiner Brust. Er konnte den Gedanken nicht abstellen, dass er ein schlechter Mensch wäre und seine Seele verkauft hätte. Er war nun Mitglied im ‚Bund der Gerechtigkeit‘. Was für ein schöner Name, aber was war daran gerecht? In Wahrheit war er nichts anderes als ein Mitglied in einer Seeräuberbande geworden. Dies würde ihn über kurz oder lang zu einem Verbrecher machen. Er hoffte inständig, dass er niemals in die Situation käme, Menschen töten zu müssen.

Bereits zwei Tage waren vergangen, nachdem er wieder zu seiner Familie zurückgekehrt war, und seitdem hatte er auch nicht mehr gefischt. Sie hatten genügend zu essen. Daher nutzte er seine Zeit, um das Dach seiner Hütte zu reparieren. Sein Sohn half ihm dabei und reichte ihm gerade ein Brett an, als Yussuf am Horizont einen Kamelreiter ausmachte, der sich schnell näherte. Das war wohl der angekündigte Bote, der ihm eine Waffe und auch einen Befehl von Ahmed überbringen würde. Yussuf wollte keinesfalls, dass sein Sohn von seinem Lebenswandel erfuhr und so sagte er zu ihm:

„Du gehst jetzt hinein, gleich wird ein Geschäftspartner zu mir kommen und mit dem muss ich alleine verhandeln.“

Murrend trollte sich der Sohn und ein paar Minuten später traf der Kamelreiter ein:

„Bist du Yussuf, der Fischer?“

„Ja, der bin ich.“

Der Reiter stieg vom Kamel, öffnete die Packtasche und zog ein nagelneues Gewehr heraus:

„Ahmed hat mich geschickt, ich soll dir hier das Gewehr bringen und auch die zugehörige Munition. Kommst du damit klar?“

„Ich glaube schon.“

Es war also soweit. Er hatte von Ahmed Geld bekommen, nun kam die Quittung. Er musste jetzt auch die Waffe an sich nehmen. Hoffentlich brauchte er sie nie einsetzen, aber was, wenn der gefürchtete Befehl kam? Unter dem Umstand wäre er verpflichtet, sie auf einen Menschen zu richten und abzudrücken. Ihm wurde ganz flau im Magen, das hatte er nicht gewollt, aber nun konnte er nicht mehr zurück. Der Pakt mit dem Teufel Ahmed war geschlossen. Der Kamelreiter sagte:

„Nimm die Waffe und gehe jetzt immer an der Küste lang nach Norden. Schließlich kommst du an eine Stelle, wo ein riesiger Steinbrocken vor einer Steilküste im Wasser liegt. Er ist mindestens 100 Meter lang. Von dort gehst du weg vom Strand direkt in die Wüste hinein. Dort kannst du zwischen spärlichen Pflanzen so etwas wie einen Weg entdecken, der dich immer weiter nach Westen führt. Diesem Weg folgst du etwa fünf Stunden lang durch eine zunächst flache, später hügelige Region. Und dann musst du aufpassen. Auf der rechten Seite siehst du eine Hügelkette, die ein Gebiet umschließt. Die sieht eher aus wie ein hoher Wall um eine Senke herum. Du erkennst den richtigen Wall daran, dass er ringsum ohne Lücken mit einem undurchdringlichen Dornengestrüpp bewachsen ist. Weder Menschen noch größere Tiere können normalerweise das Gestrüpp durchdringen und in die Senke gelangen. Somit haben wir sie für uns zu einem natürlichen Gefangenenlager ausgebaut. Und in diesem Lager sollst du nun für uns die Aufgabe eines Wächters übernehmen. Um dorthin zu gelangen, musst du am Ende der Hügelkette nach rechts abbiegen und etwa 100 Meter am Wall entlanggehen. Da musst du überdies nach einem versteckten Durchgang suchen. Und wenn du ihn gefunden hast, begebe dich durch die Dornen in die Senke hinein. Du arbeitest dich hindurch und unten angekommen, befindest du dich in unserem Camp, in dem wir unsere Gefangenen festhalten. Deine Aufgabe ist es, diese zu bewachen. Wenn einer zu fliehen versucht, musst du ihn mit der Waffe zurückhalten, schlimmstenfalls musst du ihn töten. Aber bedenke, jeder Tote bedeutet auch weniger Geld. Zur Bewachung der Gefangenen bist du nicht alleine eingeteilt. Insgesamt acht Wachposten und ein Lagerleiter sind schon vor Ort.

Und nochmals eine Warnung: Du sagst keinem, wohin du gehst – auch nicht deiner Frau und deinen Kindern. Das Lager ist streng geheim! Verrat wird mit dem Tode bestraft! Yussuf, nun verlasse ich dich und wünsche dir alles Gute.“

In diesem Moment trieb er sein Kamel an, das sich knurrend in Bewegung setzte. Yussuf musste schlucken. Da war genau das, was er befürchtet hatte: Er sollte töten. Aber er würde es nicht tun. Er würde gezielt vorbeischießen.

Bevor er zum Lager losmarschierte, ging er noch einmal in seine Hütte und verabschiedete sich von Frau und Kindern. Er verriet ihnen nicht, was er vorhatte und wo er hinging. Auch verheimlichte er vor ihnen, dass er eine Waffe mit sich führte. Es war ein kurzer Abschied, kein Wort, wann er wiederkäme. So hatte er seine Lieben noch nie verlassen. Das war der Preis für sein Handeln. Niedergeschlagen machte sich Yussuf auf den Weg.

Verschollen in Somalia

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