Читать книгу Sprachen der Welt - Dieter Wunderlich - Страница 25
3. Die kleinen Sprachen der Jäger und Sammler
ОглавлениеWir haben gesehen, dass sich die Sprachen der Welt höchst ungleich verteilen, räumlich und der Zahl der Sprecher nach. Wo die meisten Menschen leben, gibt es nicht automatisch auch die meisten Sprachen. Aus den Daten in Tab. 1 und Tab. 4 können wir uns leicht ein globales Maß für die Sprachenvielfalt errechnen. Hätten alle Sprachen etwa gleich viele Sprecher, müsste der prozentuale Anteil der Sprachen gleich dem prozentualen Anteil der Menschen sein. Tab. 8 zeigt nun, dass Ozeanien 37-mal mehr Sprachen hat, als dem Kontinent eigentlich ‘zustehen’, Afrika immer noch doppelt so viele Sprachen hat, Asien aber nur die Hälfte und Europa nur wenig mehr als ein Drittel der Sprachen, als man rein statistisch erwarten würde. Die Vermutung liegt nahe, dass die Lebensweise der Menschen großen Einfluss darauf hat, ob die Sprachgemeinschaften groß oder klein sind.
Tab. 8: Gegenwärtige Sprachenvielfalt in den fünf Kontinenten
Seit vielleicht 200.000 Jahren gibt es den anatomisch modernen Menschen. Bis zum Ende der Eiszeiten vor 12.000 Jahren (oder 500 Generationen), also weitaus die längste Zeit seiner Existenz, lebte er ausschließlich als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen, angepasst an das jeweilige Habitat. Menschen können fast überall leben. Ändert sich die Umwelt, stellen sie sich auf andere Nahrungsquellen ein; sie können sich bekleiden, bewaffnen, Behausungen und Vorräte anlegen. Jäger-Sammler brauchen eine große Region (bis zu 10 km2 pro Person), um ausreichend Nahrung zu erlangen; Tagesmärsche können vielleicht den Radius von 15 km bewältigen. Daraus ergibt sich, dass eine Gruppe kaum mehr als 60 Personen umfassen kann.
Die Mentalität von Jägern und Sammlern ist geprägt vom Respekt vor der Natur. Man fühlt sich als Teil der Natur und entnimmt nur so viel, wie man braucht. Ein erfolgreicher Jäger-Sammler weiß, wie er sich jahreszeitlich aus der Natur heraus ernähren kann. Er kann die Naturprozesse beobachten und herausfinden, wann und wo Nahrung zu gewinnen ist. Werkzeuge dienen ihm dazu, die Nahrung zugänglich zu machen, aber Nahrung wird nicht hergestellt. Die Götter der Natur sorgen dafür, dass man, wenn man klug ist, Finder- oder Jägerglück hat.
Jäger-Sammler-Gruppen wissen etwas über ihre Nachbarn und ihre Vorfahren. Sie legen sich gelegentlich Vorräte an und planen gemeinsam die großen Einschnitte der Jahreszeiten. Sie treffen auch auf andere Menschen und handeln mit ihnen. Manche Tätigkeiten sind arbeitsteilig: die Männer jagen und die Frauen sammeln; andere Tätigkeiten sind gemeinschaftlich, wie das Umzingeln eines Wildtiers, der Bootsbau und die Errichtung von Unterkünften. Auf den Festen wird der Ahnen gedacht, Tänze erinnern an die Gefahren.
Eine Jäger-Sammler-Gruppe oder ein lockerer Verbund solcher Gruppen ist die soziale Einheit für eine Sprache. Solche Sprachen sind generell klein und umfassen allenfalls einige hundert Sprecher. Bei dieser Größe kennt man sich untereinander, hat eine gemeinsame Geschichte. Man hat ein differenziertes Vokabular, um all die Nuancen der Naturvorgänge, der Tier- und Pflanzenarten, für die man sich interessiert, ausdrücken zu können. Andererseits gibt es vielfach sich wiederholende Situationen, und vieles, was man kommuniziert, kann implizit bleiben; die Sprachen sind flexibel und situationsabhängig.
In einzelnen Gegenden der Welt haben sich bis heute Jäger-Sammler-Gruppen erhalten: in der Kalahariwüste Südafrikas (Botswana), auf den Andaman-Inseln (Indien), im Amazonasgebiet (in den Grenzgebieten zwischen Brasilien, Bolivien, Peru, Kolumbien und Venezuela), am Jenissei und auf Neuguinea. Jäger-Sammler sind auch die Pygmäen in den Regenwäldern des Kongo und die Negritos in südostasiatischen Wäldern; sie haben allerdings die Sprachen ihrer jeweiligen Nachbarn übernommen.
Jäger-Sammler sind typischerweise unterwegs, es gibt aber auch Übergänge zur Sesshaftigkeit. Kommt man zum selben Platz wieder zurück, kann man dort Vorräte anlegen. Oder man beobachtet, wie aus den Resten der Nahrung etwas Neues sprießt, wie sich Feuer und Lichtung auf das Wachstum auswirken. Es entsteht Gartenbau: man pflegt das, was spontan gewachsen ist, und lernt so, wie sich Erträge steigern lassen. Gartenbau führt zu einer neuen Art von Management. Archäologische Funde belegen, dass zwischen dem Anbau von Wildpflanzen und der Kultivierung dieser Pflanzen tausende von Jahren vergingen.