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6. Sprachfamilien sind aufgrund von Landwirtschaft gewachsen
ОглавлениеIn den Zentren der neolithischen Revolution wuchs die Bevölkerung fünfmal schneller als in Jäger-und-Sammler-Kulturen. Sie konzentrierte und differenzierte sich, Verwaltungen und Zusammenschlüsse entstanden, es kam zu erblichem Häuptlingstum bis hin zu Königreichen. Großprojekte wurden durchgeführt, für die anfallenden Arbeiten Gefangene als Sklaven eingesetzt. – Erst seitdem entstanden die großen Sprachen. Dabei verbanden sich zwei Tendenzen (s. auch Kap. VI. 4): (1) Arbeitsteilige Vernetzung und Variation der Sprechanlässe verlangten von den Sprechern, transparente syntaktische Konstruktionen zu äußern und zugleich vermehrte Spezifikationen vorzunehmen (Ausbau der Syntax). (2) Bevölkerungswanderungen infolge von Dürre oder Überbevölkerung, der Kampf um die Ressourcen und verschiedene Großprojekte führten zu intensiven Sprachkontakten; Zweitsprachlerner aber produzieren einfachere und transparentere Formen.
Der australische Archäologe Peter Bellwood entwickelte die language/farming dispersal hypothesis, die besagt, dass sich parallel zur Ausbreitung von Landwirtschaft auch Sprachen und Sprachfamilien ausbreiteten. Das heißt auch: Wenn man die großen Sprachfamilien bis hin zu ihrer Heimatregion zurückverfolgt, sollte man dort eine Quelle von Landwirtschaft finden. Der britische Archäologe Colin Renfrew und der US-amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond haben sich dieser These mit eigenen Beiträgen angeschlossen. – Tab. 9 gibt eine Übersicht über die Entstehung von Landwirtschaft und Tierzucht sowie der durch sie ermöglichten großen Sprachfamilien.
Tab. 9: Entstehung von Landwirtschaft und der großen Sprachfamilien
Über Mittel, Median und den Quotienten Q
Der Median ist für die Verteilung von großen und kleinen Sprachen innerhalb einer Familie sehr viel informativer als das arithmetische Mittel. Bei einer hypothetischen Familie aus fünf Sprachen mit den Sprecherzahlen 1000, 3000, 4000, 13.000 und 49.000 beträgt der Median (der in der Mitte liegende Wert) 4000, aber das arithmetische Mittel (die Summe aller Werte durch 5) ist 14.000. Der Medianwert ist sehr viel robuster als das arithmetische Mittel; würde in unserem Beispiel die größte der fünf Sprachen auf 1 Mill. Sprecher anwachsen (und alle anderen stabil bleiben), ergäbe sich als arithmetisches Mittel fast 200.000, aber der Median bliebe bei 4000. Der Quotient Q aus Mittel und Median würde jedoch von 3,5 auf 50 steigen. Ein hohes Q verweist auf eine heterogene Sprachfamilie, ein niedriges Q auf eine homogene Sprachfamilie, in der alle Sprachen etwa gleich groß sind.
Die ungleiche Verteilung der Einzelsprachen findet ihr Pendant in der ungleichen Verteilung der Sprachfamilien. Eine Sprachfamilie besteht aus miteinander verwandten Sprachen; sie haben eine gemeinsame Vorgängersprache, so wie Latein als Mutter der romanischen Sprachen gilt (s. Kap. III.1). Tab. 10 erfasst die 22 größten Sprachfamilien hinsichtlich Sprecherzahl und Zahl der Sprachen; nur die australischen Sprachen und die Papua-Sprachen sind nicht berücksichtigt. Die ersten sechs Sprachfamilien repräsentieren bereits 58 % aller Sprachen und 89 % der Weltbevölkerung (Bezugsgröße 6,236 Mrd.).
Die Hälfte dieser Sprachfamilien ist (jedenfalls z.T.) in Asien beheimatet, drei kommen z.T. aus Europa, drei aus Afrika, vier aus Amerika und zwei aus Ozeanien. Mehr über diese Familien findet man in späteren Abschnitten.
1 Indoeuropäisch umfasst keltische, germanische, romanische, baltische, slavische, iranische und indoarische Sprachen sowie Griechisch und Armenisch.
2 Sinotibetisch schließt chinesische, tibetische und birmanische Sprachen ein.
3 Niger-Kongo umfasst die meisten Sprachen West- und Südafrikas, u.a. mehr als 500 Bantu-Sprachen.
4 Austronesisch schließt u.a. Indonesisch, Philippinisch und die polynesischen Sprachen ein.
5 Afroasiatisch schließt Arabisch, Hebräisch, die kuschitischen, die Tschad- und die Berber-Sprachen ein.
6 Dravidisch umfasst vor allem Sprachen im Süden Indiens.
7 Japonisch und Koreanisch bilden nach mehrheitlich linguistischer Auffassung eine Sprachfamilie; aus vorwiegend politischen Gründen wird dies bestritten.
8 Die Altai-Sprachen umfassen türkische, mongolische und tungusische Sprachen.
9 Austroasiatisch umfasst Sprachen von Indien bis China, u.a. Khmer und Vietnamesisch.
10 Tai-Kadai umfasst Sprachen von Thailand bis China, u.a. Thai.
Tab. 10: Die 22 größten Sprachfamilien mit jeweils mehr als 1 Mill. Sprechern (nach: Ethnologue 2013) (‘Q’ ist der Quotient aus Mittel und Median.)
11 Nilosaharisch umfasst Sprachen im Sudan, in Kenia, Äthiopien und benachbarten Ländern.
12 Uralisch umfasst Ungarisch, Finnisch, Estnisch und viele kleine Sprachen im Norden Russlands.
13 Hmong-Mien heißt eine Sprachengruppe in Südchina.
14 Quechua umfasst die Inka-Sprachen mit dem Schwerpunkt in Bolivien, Peru und Ekuador.
15 Maya-Sprachen werden im Süden Mexikos und in Guatemala gesprochen.
16 Nordkaukasisch schließt u.a. Tschetschenisch und Lezgisch ein.
17 Tupí schließt u.a. Guaraní, die Nationalsprache Paraguays, ein.
18 Kartvelisch ist die kaukasische Sprachfamilie, zu der Georgisch mit 3,9 Mill. Sprechern gehört.
19 Trans-Neuguinea heißen Sprachen im Hochland und im Süden Neuguineas.
20 Aymará (von Quechua beeinflusst) wird im Gebiet zwischen Peru, Bolivien und Chile gesprochen.
21 Uto-Aztekisch reicht vom Süden der USA bis zu den Nachfolgern der Azteken in Mexiko (Nahuatl).
22 Oto-Mangue in Zentralmexiko schließt u.a. die Sprachgruppen der Mixteken und Zapoteken ein.
Aus Tab. 10 geht hervor, dass die indoeuropäischen Sprachen die weitaus meisten Sprecher haben, mehr als das Doppelte der sinotibetischen Sprachen. Darauf folgen zwei Sprachfamilien, die die meisten Einzelsprachen aufweisen: die Niger-Kongo-Sprachen Afrikas und die austronesischen Sprachen in Südostasien und Ozeanien. Diese beiden Sprachfamilien sind interessant, weil sie sich durch große, inzwischen recht gut erforschte Expansionen in historischer Zeit weit ausgedehnt haben; erst vor rund 5000 – 3000 Jahren begannen die betreffenden Völker, mit landwirtschaftlichen Kenntnissen im Gepäck den afrikanischen Urwald zu durchqueren bzw. die pazifische Inselwelt zu erkunden (s. Kap. IV. 5 u. Kap. IV. 6). Im Unterschied zu den meisten anderen Sprachfamilien, deren Ausdehnungsphasen noch weiter zurückliegen, sind in diesen vergleichweise jungen Fällen die durch räumliche Aufteilung entstandenen Sprachen noch recht gut zu identifizieren. Einerseits gab es hinreichend viele Generationen, um gewisse Sprachunterschiede auszubilden, andererseits fanden aber nicht allzu viele spätere Durchmischungen statt. Die Bevölkerungen waren hinreichend groß und behielten ihre traditionelle Wirtschaftsweise bis ins 20. Jh. hinein.
Ab der 13. Sprachfamilie (Hmong-Mien) liegt die Sprecherzahl unter 10 Mill., also im Bereich einer modernen Großstadt. Die 13. bis zur 22. Sprachfamilie bringen es gemeinsam nur auf 0,7 % der Weltbevölkerung. Das zeigt wiederum die extremen Unterschiede der Sprecherzahlen bzw. das extreme Ungleichgewicht der weltweit bestehenden Ethnien.
Interessanterweise sind fast alle der 22 Sprachfamilien direkt oder sehr unmittelbar indirekt von der Entwicklung der Landwirtschaft geprägt und Träger von Hochkulturen. Träger der babylonischen und ägyptischen Hochkulturen waren Afroasiaten, die nilosaharischen Völker domestizierten das Rind und standen über das Niltal mit Ägypten in Beziehung. Die Indoeuropäer sowie die damals benachbarten uralischen Völker jenseits des Kaspischen Meeres standen mit Mesopotamien in Beziehung. Sinotibeten waren Träger der nordchinesischen Landwirtschaftentwicklung. Die heutigen Austronesier, Austroasiaten, Hmong-Mien- und Tai-Kadai-Völker waren Träger oder direkte Nachbarn der südchinesischen Landwirtschaftsentwicklung. Die Draviden waren Träger der Indus-Kultur. Im Hochland Neuguineas entstand unabhängig von anderen Entwicklungen eine Landwirtschaft, ebenso südlich der Sahara in Westafrika, wo die Niger-Kongo-Völker ihren Ursprung haben. Amerikanische Landwirtschaft entstand in Mittelamerika (Azteken, Mayas und Oto-Mangue-Völker), im heutigen Peru (Quechuas als Nachfolger der Inkas) und durch die Nutzbarmachung von Maniok im heutigen Brasilien (Tupí-Kultur). Die Altaivölker haben wahrscheinlich indirekt von der chinesischen Landwirtschaft profitiert und waren wie die Indoeuropäer und die Ural-Völker an der Verbreitung des Pferdes beteiligt. Die großen Expansionszüge dieser Völker sind die historisch letzten ihrer Art: die Mongolenzüge des 13. und 14. Jhs und die Türkenzüge des 17. Jhs.