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8. Jede Sprache ist in überraschender Weise einzigartig

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Nachdem ich mich mit vielleicht 20 Sprachen recht intensiv befasst und die Grammatik von vielleicht 30 weiteren Sprachen ausführlicher studiert habe, kann ich einerseits sagen, dass man ein Gespür dafür bekommt, welche verschiedenen Profile eine Sprache haben kann, welche sprachlichen Kategorien sie in welcher Zusammensetzung ausdrückt und miteinander verbindet. Andererseits kann ich bezeugen, dass jede einzelne Sprache, der ich mich zuwandte, bestimmte Kombinationsmöglichkeiten und Kategorien aufwies, die völlig unerwartet waren. Wenn ich diese dann ganz fasziniert einige Zeit betrachtet hatte, bekam ich den Eindruck, dass sie eigentlich ein in sich ganz logisches System bildeten. Ich war nun umso mehr erstaunt, warum man sich einen so klaren und stichhaltigen Zusammenhang nicht schon vorher hatte denken können. Je öfter ich mich einer neuen Sprache näherte, desto stärker erlebte ich die Verbindung von faszinierender Neuheit und immanenter Stringenz.

Meine Erklärung dafür ist verhältnismäßig komplex. Sprachen schlechthin gibt es nicht; Sprachen sind nicht sämtlich aus demselben Genius heraus gestaltet. Als Theoretiker versucht man immer, das Gemeinsame zu finden. Es ist aber wie mit dem Entwerfen einer Wohnung. Sie soll Schlaf-, Wohn-, Arbeits-, Gäste-, Küchen-, Wasch- und Kloanteile haben – nur: wie sind sie geordnet? Durch den alltäglichen Rhythmus folgt man einer vorgegebenen Ordnung, reibt sich an ihr, passt seine Routinen den Räumlichkeiten an; erst an der konkreten Wohnung entwickelt man den Genius derselben. Kann man daraus nun aber folgern, wie alle anderen Wohnungen optimal zu sein hätten? Nein, denn die nächste Wohnung weist ganz andere unerwartete Konstellationen auf.

Als Illustration vielleicht noch passender sind die öffentlichen Wege, die sich über dem System einer rechtwinkligen Parkordnung ausbreiten. Selbst wenn man ein noch so gut fundiertes Grundgerüst einrichtet, in der alltäglichen Praxis wird es überrannt, weil diese durch gemeinsam etablierte Effektivität bestimmt ist. Das System, das sich öffentlich durchsetzt, bekommt seinen Genius durch die immanente Logik seiner Erscheinensweise, gesteuert durch Schwarmintelligenz, nicht aber von der Idee eines Entwerfers. – Wendet man sich einer neuen Sprache zu, versucht man den Genius dieser Sprache zu entdecken: Welche Logik liegt den von den Sprechern und ihren Kindern getrotteten Ausdruckswegen zugrunde? Wie jede Sprache war auch diese, bevor sich ernstzunehmende Traditionen bilden konnten, von lauter Zufällen bedingt, und deshalb kann niemand das Einstiegsszenario wiederholen. (Allenfalls können wir eine Simulation mit verschiedenen Szenarien durchführen und sehen, wie sie enden.)

Noam Chomsky (geb. 1928), der bedeutendste Linguist unserer Epoche, hat einmal gesagt, man müsse nur eine einzige Sprache sehr gründlich analysieren, um zu wissen, wie alle Sprachen sind. Das ist insofern richtig, als auch das fremdeste Phänomen einer anderen Sprache einem plötzlich heimisch erscheint, wenn man etwas Ähnliches in der eigenen Sprache entdeckt. Wenn man allerdings nur in der eigenen Sprache herumforscht, wüsste ich nicht, woher man diese schlagartigen Erlebnisse des total Anderen bekommen sollte, das sich erst nach einigem Nachdenken in eine stringente Logik einfügen lässt.


Noam Chomsky

© akg-images/Doris Poklekowski

Meiner Erfahrung nach gibt es zwei Typen von Linguisten, die man nicht ganz ernst nehmen darf. Die einen haben eine Theorie und betrachten alle Sprachen als Variationen innerhalb dieser Theorie. Sie schreiben ein Buch über die X-Sprache, stellen kurz einige Phänomene dieser Sprache vor und zeigen dann, dass sie alle ihrer Theorie gehorchen. Ich finde solche Bücher unergiebig, weil sie verhindern, dass ich etwas Überraschendes lerne. Die anderen lehnen Theorien grundsätzlich ab und meinen, dass man jede Sprache aus sich heraus verstehen muss. Sie beschreiben die Phänomene der Y-Sprache in dem Gestus, dass sie anders organisiert sei als alles, was man sonst über Sprachen weiß. Was da beschrieben wird, verschwindet in einer Flut von Oberflächlichkeit, und an keiner Stelle habe ich das Gefühl, ich könnte versuchsweise etwas weiter konstruieren und fragen, ob ich das Richtige getroffen habe.

Ein guter Linguist muss, wie wohl jeder gute Wissenschaftler, gut kalkulieren können (Wahrscheinlichkeiten, die Einflüsse von dritten Faktoren, das globale Bild nach Abzug von Randbedingungen abschätzen) und bereit sein, sich dem Zufall auszusetzen. Wendet er sich einer neuen Sprache zu, muss er methodisch so sortieren und argumentieren wie in jeder anderen Sprache und anstreben, die bekannten Kategorien wiederzufinden; gleichzeitig muss er aber auch offen bleiben für den Zufall (den Genius), der in der Entwicklung dieser Sprache geherrscht haben mag. Grammatiken, die von gut trainierten, aber theoretisch offenen Linguisten geschrieben wurden, sind für mich die beste Lektüre zum Thema Sprachfähigkeit. Vielleicht gelingt es mir, in den folgenden Kapiteln etwas von dem Reichtum und dem Faszinosum der Sprachenvielfalt mitzuteilen.

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