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I. Siebentausend Sprachen –
jede einzelne so komplex wie einzigartig 1. Der Mensch, das sprechende Lebewesen

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Überall in der Welt sprechen Menschen miteinander. Für jeden Menschen ist die Sprache, die er in Familie und Alltag spricht, der Mittelpunkt seines sozialen und geistigen Lebens. Die eigene Sprache ist oft auch die der Brüder, Schwestern, Freunde, Kameraden und Kinder; sie stiftet soziale und personale Identität. Doch jeder von uns hat Menschen erlebt, die das, was wir sagen, nicht verstehen und die etwas sprechen, das wir nicht verstehen. Jemanden nicht zu verstehen, ist allerdings eine graduelle Angelegenheit. Man kann auf Menschen treffen, die man nur manchmal nicht versteht, oder auf solche, die man fast nie versteht. Die Fähigkeit zur Verständigung ist ganz wesentlich von der Sprache abhängig, aber auch von anderen Faktoren. Man kann sich mittels Gesten und Gegenständen, die man in die Hand nimmt, auch noch in der fernsten Gegend immer noch ein wenig verständigen; manchmal können allein die äußeren Umstände schon unser Verstehen leiten.

Unsere erste Frage erscheint trivial: Was ist denn nun eine Sprache? Eine vorläufige Antwort ist: Sie ist ein natürlich gewachsenes Verständigungsmittel zwischen Menschen. ‘Natürlich’ heißt: Die Kinder lernen die Sprache aufgrund eigenen Impulses, man muss sie nicht dazu anhalten. Sie behalten das, was sie hören, und bauen daraus ihre grammatischen Regeln. ‘Künstliche’ Sprachen (Programmiersprachen, Logiksprachen, Morsesprachen, Esperanto, Pilotensprache) gehören somit nicht zum Gegenstand dieses Buches. ‘Natürliche’ Sprachen sind aber nicht notwendigerweise Lautsprachen, auch Gebärdensprachen können gelernt werden; sie sind weder langsamer noch weniger effektiv als Lautsprachen. Lautsprachen sind nur die natürlichere Option in einer Gemeinschaft hörender Menschen. Es gehört zur Tragik der menschlichen Kulturen, dass Gehörlosen meistens versagt wurde, ihre eigenen Sprachen zu bilden und zu tradieren; das änderte sich erst im Laufe des 20. Jhs. Sofern im Folgenden nicht die Besonderheiten der Lautsprachen im Vordergrund stehen, sind Gebärdensprachen immer mitgemeint, wenn von Sprachen allgemein die Rede ist.

Als Verständigungsmittel für alle möglichen Gelegenheiten hat Sprache eine komplexe Organisationsstruktur: Da sind einmal die Laute (bzw. die Gebärden), die man äußert; durch eine Kombination von Lauten stellt man ein Wort her, mit dem eine bestimmte Bedeutung verbunden ist. Solche Wörter (Formelemente oder Morpheme) werden zu ganzen Sätzen kombiniert, um einen Gedanken auszudrücken. So komplex ein Gedanke auch sein mag, man kann einen Satz oder einen (aus mehreren Sätzen bestehenden) Paragraphen formen, die ihn ausdrücken. ‘Ich habe heute ein neues Wort gelernt’ kann man gut sagen – das Vokabular ist zwar groß, kann aber von Zeit zu Zeit erweitert werden. ‘Ich habe heute einen neuen Satz gelernt’ klingt irgendwie komisch – man kann jeden Tag neue Sätze bilden, die noch nie jemand gesagt hat. Die Grammatik einer Sprache erlaubt das.

Kinder lernen lange daran, die richtigen Laute einer Sprache zu bilden, so wie sie auch lange daran lernen, ihre Finger so zu bewegen, dass sie einen Knoten in ihre Schnürsenkel machen können: Die Lautung einer Sprache sind durch Routinen festgelegte Aktivitätsmuster des Gehirns. Das Vokabular einer Sprache muss gelernt werden; jeder kennt tausende oder zehntausende von Wörtern; man kann Wörter passiv wiedererkennen, auch wenn man sie aktiv nicht benutzt. Das Vokabular einer Sprache besteht in Laut-Bedeutungs-Zuordnungen, die im sprachlichen Gedächtnis verankert sind. Da die Grammatik offensichtlich sehr kreativ ist, muss sie aus Regeln bestehen, die in eher abstrakter Weise Satzteile oder -blöcke miteinander kombinieren; nicht die Sätze selbst, sondern die erzeugenden Regeln gehören zu unserem Sprachgedächtnis. Zusammenfassend lässt sich sagen: Sprachen sind im menschlichen Gehirn verankert. (Dass man Wörterbuch und Grammatik aufschreiben kann, ist – an der langen Geschichte der Menschheit gemessen – ein recht spätes zivilisatorisches Produkt.) Wenn aber Sprache ins Gehirn gehört, müssen meine Sprache und deine Sprache nicht dieselben sein. So ist es denn auch: Sofern menschliche Biographien und Lerngeschichten verschieden sind, variieren auch die Sprachen der Menschen, mehr oder weniger. Kleine Variationen erwarten wir, große Variationen bringen uns zu einer ganz anderen Sprache.

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