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2. Wie grenzen wir Sprachen ab?
ОглавлениеUm Sprachen zählen zu können, muss man sie individuieren. Wir zählen dabei Sprachgemeinschaften, in denen sprachliche Verständigung möglich ist. Damit eine Sprache der Verständigung dienen kann, müssen die in ihr vorkommenden Varianten von Lautung, Vokabular und Grammatik hinreichend ähnlich sein. Räumliche Trennung (oder soziale Schichtung) führt unweigerlich zu verschiedenen Dialekten (bzw. Soziolekten), selbst wenn sich alle Sprecher zu einem gewissen Zeitpunkt zu einer einheitlichen Standardsprache verabredet haben sollten. Doch solange sich Sprecher der verschiedenen Dialekte untereinander verständigen können, liegt auch nur eine Sprache vor. Oft wird die lexikalische Distanz als Richtwert genommen: Wenn 80 – 90 % der Wörter trotz lautlicher Variation erkennbar übereinstimmen, spricht man von Dialekten einer Sprache. Die verschiedenen romanischen Sprachen wie Italienisch, Spanisch, Französisch, Rumänisch, alles Nachkommen des Latein, weisen immerhin noch 75 % gemeinsamer Wörter auf, während die romanischen und germanischen Sprachen, die sich schon vor 4000 Jahren trennten, nur noch 25 % gemeinsamer Wörter haben.
Neben solchen messbaren graduellen Differenzen zwischen Dialekten bzw. Sprachen gibt es den Faktor der politischen Identität. Menschen, die sagen, wir sprechen eine andere Sprache als die da, grenzen sich ab; Menschen, die sagen, wir haben eine gemeinsame Sprache mit denen, betonen dagegen die gemeinsame Identität. So wurde unter neuen politischen Umständen Serbokroatisch (eine erst im 19. Jh. gefundene einheitliche Standardsprache) nach dem Zerfall des jugoslawischen Staates in Serbisch und Kroatisch getrennt; unterstützend wirkte sich aus, dass Serbisch in kyrillischer Schrift und Kroatisch in lateinischer Schrift geschrieben wird und dass Serbien traditionell zur griechisch-orthodoxen Kirche, Kroatien aber zur römisch-katholischen Kirche gehört. – Hätte der niederländische Unabhängigkeitskrieg nicht in einem eigenen erfolgreichen Staatswesen gemündet, wären die niederländischen (niederfränkischen) Dialekte vielleicht ebenso wie die plattdeutschen (niederdeutschen) Dialekte weiterhin zur deutschen Sprache gezählt worden. – Das in Pakistan gesprochene Urdu und das in Indien gesprochene Hindi gelten unter Linguisten als eine Sprache (Hindustani), sie haben sich aber aufgrund islamischer bzw. hinduistischer Religionszugehörigkeit voneinander entfernt: Das hochsprachliche Urdu hat viele Wörter und Wendungen aus dem Persischen und Arabischen entlehnt, während Hindi auf Sanskrit zurückgriff. Urdu wird in persio-arabischer Schrift geschrieben, Hindi in der indischen Devanagari-Schrift. Diese Unterschiede waren der Anlass dafür, dass das Ende der Kolonialzeit mit zwei separaten Staatsgründungen besiegelt wurde.
Dass Sprachen letztlich ein von den Menschen so empfundenes identitätsstiftendes Band darstellen, spiegelt sich auch in ihren Namen. Viele Sprachen haben für die eigenen Sprecher einen Namen, der übersetzt so etwas wie ‘ehrenwerter Mensch’, ‘Volk’ oder ‘Vaterland’ bedeutet, während alle anderen einfach ‘Ausländer’ (griech. barbaros) sind. In der linguistischen Literatur werden die von den Kolonisten gegebenen Fremdnamen nunmehr oft durch die selbstgewählten Namen ersetzt (z.B. Nishnaabemwin statt Ojibwe für eine in Kanada gesprochene algonkische Sprache, oder Sacha für die nordostsibirische Turk-Sprache Jakutisch). Interessanterweise nannten sich die kalifornischen Wiyot-Indianer Soulátluk‘ – wörtlich: ‘dein Kiefer’ (wobei man so wunderbar assoziieren kann: ‘wenn du deinen Kiefer bewegst, produzierst du eine Sprache mit mir’).
Für das Deutsche hat Karl der Große den Namen lingua theodisca durchgesetzt, mit theodisc als der latinisierten Form des germanischen Adjektivs thiodisk (ahd. diutisc), das aus dem Substantiv thioda ‘Volk’ gebildet ist und ‘zum Volk gehörend’ bedeutet. Typische Fremdnamen des Deutschen sind bekanntlich German, Allemande, Saksa und Njemetski. Für Caesar waren die Völker östlich des Rheins Germanen, für die Franken waren es Alemannen, für die Balkanvölker waren es Sachsen, und für die Nordslaven einfach ‘Ausländer’.