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6. Die ‘Design’-Merkmale menschlicher Sprache
ОглавлениеDie wesentlichen Eigenschaften menschlicher Sprache kann man ermitteln, indem man herausfindet, in welchen Punkten sich Menschen prinzipiell anders als andere Lebewesen verhalten – im Unterschied zu jenen Punkten, in denen sie sich allenfalls etwas differenzierter als andere Lebewesen verhalten.
(1) Menschen kommunizieren primär über den vokal-auditorischen Kanal (wie es auch Vögel, Elefanten, Delphine und Wale tun) – im Unterschied zu den Primaten, die auf dem gestisch-visuellen Kanal flexibler sind.
(2) Menschen können ihre Rolle als Sprecher und Hörer sehr schnell austauschen, fast gleichzeitig sowohl zuhören als auch selber reden. Es ist schon erstaunlich, wie viel ein Mensch noch wahrnehmen kann, wenn er spricht. Und ebenso erstaunlich ist, wie sensibel Signale für den Sprecherwechsel bzw. für die Verhinderung des Sprecherwechsels gesetzt werden. Für die menschliche Interaktion hat sich ein komplexes turntaking-System entwickelt. So etwas findet sich allenfalls rudimentär in der Tierwelt.
(3) Menschen haben ein großes Repertoire an Zeichentypen, vor allem verwenden sie neben indexikalischen und ikonischen Zeichen auch Symbole.
Ein Zeichen ist indexikalisch, wenn es an etwas im Interaktionsraum Vorfindliches anknüpft; typischerweise sind Zeigegesten dazu in der Lage, im weiteren Sinne auch Zeigewörter (Demonstrative wie hier-da-dort, hin-her) und die sog. deiktischen Ausdrücke, die sich auf die Hier-und-Jetzt-Situation beziehen (ich, du, jetzt usw.).
Ein Zeichen ist ikonisch, wenn es aufgrund seiner Form ähnlich ist zu dem, was es bedeutet. Wer mit Gebärden kommuniziert, hat es in diesem Punkt leichter; zu erklären, was Wendeltreppe heißt, ist schwer, wenn man nur Wörter benutzen darf, aber sehr viel leichter, wenn man die Hand nach oben kreisen lassen darf.
Ein Zeichen ist symbolisch, wenn es eine Situation gibt, in der seine Bedeutung eingeführt wurde (oder sich implizit aus der Situation ergibt). Man kann den Apfel in die Hand nehmen und ‘(Das ist ein) Apfel’ sagen. Was man da sagt, könnte man auch mit einer Birne in der Hand sagen, nur würde man dann die Bedeutung, die das Wort im Deutschen hat, verfehlen. Insofern ist es einleuchtend, dass man bei den Symbolen von arbiträren (willkürlichen) Zeichen spricht.
(4) Menschliche Sprachen sind produktiv und flexibel. Nicht nur, dass man mit dem gegebenen Vokabular beliebig viele neue, nie gehörte Sätze bilden kann; man kann mit den Mitteln der Sprache auch stets neues Vokabular erzeugen oder Wörter aus anderen Sprachen entlehnen und in die eigene integrieren. Insofern gibt es niemals Situationen wie bei der Entwicklung von Werkzeugen, Technologien oder Theorien, dass man sich in einer bestimmten Entwicklungsrichtung festgefahren hat und nun nicht mehr weiter weiß. Alles, was man ausdrücken will, kann man auch ausdrücken; mitunter muss man Terminologien ergänzen, aber dafür gibt es erprobte Strategien. Tierische Kommunikation ist zu einem großen Teil fixiert, teilweise genetisch vererbt, teilweise nach der Lernphase nicht mehr veränderbar, also viel weniger flexibel.
(5) Menschliche Sprachen sind lernbar und werden in einer Tradition weitergegeben. Dies bedeutet, dass jedes Kind bereits Sprachen um sich herum vorfindet, die es erwirbt und dabei die Grammatik dieser Sprachen rekonstruiert. Sprachen können sich aufteilen (Sprachfamilien bilden), voneinander beeinflusst werden (sprachliche Areale bilden) und auch zusammenfließen (sich zu Mischsprachen zusammentun). Alles erfolgt in einem Zusammenspiel von Erwachsenen, die mit den Kindern sprechen, und Kindern, die das, was sie hören, aufnehmen, sich aneignen und vielleicht modifizieren. Tierische Kommunikation ist nur teilweise lernbar – und wenn ja, bildet sie ebenfalls Traditionslinien und Varianten aus.
(6) Die sprachlichen Einheiten sind diskret, und die Musterbildung ist zweistufig. Die kleinsten Einheiten sind die Phoneme wie ä, j, k, r, die fein gesteuerten Routinen, Bewegungsabläufen im Mundraum, entsprechen. Dass man diese Einheiten als diskrete Einheiten versteht, liegt letztlich daran, dass man mit ihnen Bedeutungen unterscheidet: Im Deutschen kann man l und r unterscheiden, weil leib und reib, viel und vier verschiedene Bedeutungen haben; im Japanischen sind solche Unterscheidungen nicht möglich. Die Musterbildung heißt zweistufig, weil nicht die Laute selbst, sondern Lautverkettungen Bedeutungsträger, also Morpheme, sind; dadurch können sehr viel mehr elementare Bedeutungen unterschieden werden als in einem einstufigen System. Die Lautverkettungen tragen nicht als Ganze (holistisch) eine Bedeutung, sondern kraft dessen, dass sie aus diskreten Elementen bestehen; wechselt man einzelne Laute aus, ändert sich die Bedeutung in vorhersagbarer Weise. Bedeutungen werden also kombinatorisch ausgedrückt. Ansätze dafür gibt es auch in tierischer Kommunikation, aber niemals so fein differenziert und wohl auch nur selten zweistufig.
(7) Es gibt kleinste Elemente (Lexikoneinheiten, Morpheme), in denen eine lautliche Form mit einer Bedeutung gepaart ist, wie an, es, Grube, grunz, grün, ich, lach. Aus den kleinsten Elementen können regelmäßig und produktiv komplexe Äußerungen gebildet werden, wie grunz grün-e Grube, grunz ich an Grube, lach ich es an. Entsprechend der Zusammensetzung entstehen komplexe Bedeutungen, letztlich Sprechakte wie Aufforderungen, Behauptungen, Empfehlungen, Fragen, Vermutungen, Verwünschungen. Das System der Sprachregeln ist rekursiv (auf das Ergebnis wieder anwendbar), wie die folgenden Beispiele zeigen:
a. Ein Kompositum kann Teil eines weiteren Kompositums sein (((straßen + bahn) + schienen) + pflege) + …
b. Ein Relativsatz kann wieder einen Relativsatz einbetten: der Mann (der den Pfahl (der auf dem Weg (der nach Zirchow führt) steht) umgerissen hat) wird gesucht.
c. Ein Komplementsatz kann wieder einen Komplementsatz enthalten: ich glaube, (er hat gesagt, (er wisse, (dass sie denkt, …)))
Einzelne der genannten Eigenschaften findet man auch bei anderen Lebewesen, aber niemals alle zusammen. Die meisten dürften schon beim Homo erectus vor 2 Mill. Jahren bestanden haben. Es ist strittig, was der letzte Baustein in der Entwicklung menschlicher Sprache war: Symbolisierung, Diskretheit oder Rekursivität? Unstrittig ist, dass menschliche Sprache das Produkt einer Evolution ist, die auf Vorformen innerhalb der tierischen Kommunikation fußt, zu einem einzigartigen Verständigungssystem führte und weiterhin stattfindet.