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4. Worin besteht eine Sprache? – Zur Anatomie einer Sprache

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Die wichtigste Eigenschaft aller Menschensprachen ist, dass sie einfache bis komplexe Formen haben, die einfache bis komplexe Bedeutungen ausdrücken. Es geht immer sowohl um Formen als auch um Bedeutungen; und sie sind so zahlreich, dass man alles, was man begrifflich unterscheiden kann oder will, auch sprachlich unterscheiden kann. Mit anderen Worten, Sprache verknüpft zwei Arten von Fähigkeiten: auf der einen Seite die sehr differenzierte Produktion und Wahrnehmung von Lauten (bzw. Gebärden), auf der anderen Seite die ebenso sehr differenzierten begrifflichen Vorstellungen, Gedanken oder Intentionen. Produktion und Wahrnehmung sind zeitlich linear (alles erfolgt im zeitlichen Nacheinander – wie in der Musik), während die begrifflichen Gebilde vor allem hierarchisch komplex sind. Ein Beispiel ist das Wort Vögel, das so etwas wie ‘mehrere fliegende Lebewesen’ abbildet (und mit Raubvögel, Vogelgrippe, Vögler usw. leicht abgewandelt werden kann):


[fö:gl] ↔

In nuce enthält unsere ‘Definition’ der Sprache ein sehr komplexes, manchmal auch strittiges und bis heute nicht ganz ausgelotetes Forschungsprogramm.

(1) Begriffliche Konstruktionen brauchen Einheiten und komplexbildende Operationen, die beliebig viele Möglichkeiten erzeugen (man sagt gerne, unendlich viele, obwohl man das ja nicht zählen kann), sie sind also von sich aus kreativ (‘rekursiv’ im mathematischen Sinne).

(2) Lautliche Konstruktionen brauchen ebenfalls Einheiten und komplexbildende Operationen, die beliebig viele Möglichkeiten erzeugen und so sprachliche Kreativität garantieren.

(3) Begriffliche und lautliche Konstruktionen könnten sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Hunde, Elefanten oder Schimpansen können begrifflich fast dasselbe leisten wie Menschen; andererseits können bestimmte Arten von Papageien lautlich fast dasselbe (oder sogar mehr) leisten wie Menschen. Auf der jeweils anderen Seite sind sie dem Menschen jedoch klar unterlegen.

(4) Mit dem Aufkommen menschlicher Sprache (der Assoziation dieser beiden Bereiche) könnte sich die jeweilige Fähigkeit durch gegenseitiges Aufschaukeln weiter verbessert haben: Kluges Denken ist vom Sprechenkönnen abhängig, und kluges Sprechen ist vom Denkenkönnen abhängig.

(5) Der Motor für die Sprachverbesserung könnte darin bestehen, dass man komplexere Bedeutungen auf entsprechende Laute abbilden will, oder darin, dass man die Fähigkeit zu komplexeren Lauten bedeutungsmäßig differenzieren möchte. Oder in der Kombination von beidem.

(6) Zu komplexen lautlichen Konstruktionen fähig zu sein, heißt zweierlei: Laute wahrnehmen zu können und Laute herstellen zu können. Es müssen sich das menschliche Ohr zusammen mit der akustischen Wahrnehmung auf der einen Seite und das menschliche Stimmorgan (Stimmlippen des Kehlkopfes und ihre Einbettung im Mundatmungstrakt) auf der anderen Seite entsprechend entwickelt haben. (In diesem Punkt kann man gut erkennen, dass Gebärdenkonstruktionen eigentlich die bessere Variante waren: Man brauchte eine gute visuelle Wahrnehmung und eine gute Produktionsmöglichkeit für Gebärden – bewusst steuerbare Bewegungen von Arm-, Hand-, Finger-, Gesichts-, Augen-, Kopf- und Körperhaltungsmuskeln.)

(7) Eine Sprache muss das zeitliche Nebeneinander von Lauten und die hierarchische Einordnung von Begriffen in Einklang bringen (was hierarchisch zueinander gehört, soll auch zeitlich zueinander gehören). Davon zeugen u.a. die Wortstellungsregeln der Grammatik. Verb und Objekt gehören begrifflich zueinander – aber: Steht das Objekt vor oder nach dem Verb, und unter welchen Bedingungen könnten sie lautlich getrennt werden? Steht das Frage‘zeichen’ am Anfang oder am Ende der Frage?

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