Читать книгу Der Onkel aus Preßburg - Dietmar Grieser - Страница 6
Vorwort
ОглавлениеNur sechzig Kilometer trennen Bratislava von Wien, zwei Stunden Fahrzeit brauchte die gute alte »Preßburgerbahn« von der einen Stadt zur andern. Heute geht das in 50 Minuten. Doch abgesehen vom steten Näherrücken der beiden Twin Cities und der einen oder anderen touristischen Stippvisite, die uns etwa zu den Naturwundern der Hohen Tatra oder zu den Kunstschätzen der Zips führt, ist Österreichs Nachbarland Slowakei für viele von uns eine Terra incognita. Warum wissen wir so wenig von den tausenderlei Verbindungen zwischen den beiden, einst im Vielvölkerreich der k. u. k. Monarchie miteinander vereinigten Nachbarstaaten?
Der Komponist Franz Lehár und der spätere Bundespräsident Theodor Körner sind als »Tornisterkinder« in der Festungsstadt Komorn, Hotelkönig Sacher im Eszterházy-Schloß Zelis, Opernsängerin Lucia Popp in einem kleinen Dorf am slowakischen Ufer der March zur Welt gekommen. Der Hauptstadt Preßburg verdankt die Welt die Komponisten Johann Nepomuk Hummel und Franz Schmidt, die Musikerdynastie der Dohnányi sowie die Gesangstars Edita Gruberová und Peter Dvorsky. Der Bischof von Linz, Ludwig Schwarz, hat seine Kindheit in Most pri Bratislave (Bruck an der Donau) zugebracht, der Maler Anton Lehmden ist in Žilina (Sillein), der Schriftsteller Andreas Okopenko in Košice (Kaschau) zur Schule gegangen, und wer Andy Warhols bzw. Arnold Schönbergs Herkunft nachspürt, landet im einen Fall in einer ruthenischen Kleinbauernkeusche und im anderen in einer Preßburger Schusterwerkstatt.
Im Dom zu Preßburg hat Constanze Mozart ihre zweite Ehe geschlossen, und in der dortigen Burg hat Herzog Albert von Sachsen-Teschen jene weltberühmte Kunstsammlung angelegt, aus der die Wiener Albertina hervorgegangen ist. Im selben Preßburg ist die geheime Romanze des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand mit Gräfin Sophie Chotek aufgeflogen; ebenfalls hier hat Kronprinz Rudolfs letzte Liebe, Baronesse Mary Vetsera, ihre familiären Wurzeln, und in Rusovce, wenige Kilometer außerhalb der Stadt, steht das Schloß, in dem Kronprinzessin Stephanie nach der Katastrophe von Mayerling ein neues Leben begonnen hat.
Der Filmschauspieler Peter Lorre ist in der Textilmetropole Ružomberok (Rosenberg), der Wiener Photopionier Joseph Petzval im Bezirk Kežmarok (Kesmark) aufgewachsen, die Hollywood-Größen Paul Newman und Steve McQueen entstammen Auswanderersippen aus entlegenen Dörfern der Ostslowakei. Nur bei der Biographie von Karajans Mutter Martha Kosmač ist Vorsicht geboten: Hier sind die Genealogen dem Irrtum aufgesessen, Slowakei und Slovenien miteinander zu verwechseln.
In seinem Preßburger Atelier hat der Bildhauer Raphael Donner die meisten seiner Werke geschaffen, der Schiefersteinbruch von Marianka hat ganz Österreich-Ungarn mit Schultafeln versorgt, und auf einem Acker im Gemeindegebiet von Gbely (Egbell) ist – ebenfalls noch zu Zeiten der Donaumonarchie – das erste Erdöl aus dem Boden gesprudelt. Beethovens Mondscheinsonate »spielt« in der Gegend um Trnava (Tyrnau), auf den Schafalmen um Liptovsky Mikuláš wird der berühmte »Liptauer« hergestellt, und wie das Sisi-Denkmal von Bardejovské Kúpele (Bad Bartfeld) sämtliche politischen Stürme des 20. Jahrhunderts überstanden hat, ist überhaupt ein Capriccio für sich.
Apropos Kaiserin Elisabeth: Das Mausoleum ihres Vertrauten Julius Andrássy kann der Slowakei-Tourist in der Nähe von Trebišov (Trebischau) besichtigen, und die Maria-Himmelfahrt-Kapelle von Spišsky Štvrtok (Donnersmarck) erinnert an den Stammsitz jenes altösterreichischen Adelsgeschlechts, dessen jüngster Sproß, Florian, im Jahr 2006 mit seinem »Oscar«-gekrönten Kino-Hit »Das Leben der Anderen« Filmgeschichte geschrieben hat.
Trotz aller dieser Gemeinsamkeiten und auch trotz seiner 1992 errungenen Eigenstaatlichkeit und seiner elf Jahre später vollzogenen Eingliederung in die EU steht Österreichs Nachbarland Slowakei nach wie vor im Schatten seines großen Bruders Tschechien – zu Unrecht. Um diesem Defizit gegenzusteuern, habe ich 2008/09 das Land, das im Westen an Österreich, im Süden an Ungarn, im Norden an Tschechien und Polen und im Osten an die Ukraine grenzt, monatelang bereist und dessen mannigfaltigen Bezügen zu Rakúsko nachgespürt – jenem Vielvölkerreich Österreich-Ungarn, dem das Staatsgebiet der heutigen Slowakischen Republik jahrhundertelang einverleibt gewesen ist.
Dazu zwei lesetechnische Hinweise. Die einzelnen Kapitel des Buches sind – je nach ihren »Stationen« – im Uhrzeigersinn gereiht. Beginnend in Preßburg, geht es also zunächst in Richtung Westen, sodann nach Norden, Osten und Süden und schließlich wieder zurück in den Raum Preßburg. Daß ich bei der Nennung der diversen Ortsnamen auch die deutschsprachigen Varianten von anno dazumal heranziehe, hat nichts mit Habsburg-Nostalgie zu tun, sondern soll ausschließlich der leichteren Orientierung dienen. So, wie es in unserem Sprachgebrauch unsinnig wäre, Budweis als Budějovice zu apostrophieren oder Mailand als Milano, sollte auch der Rückgriff auf Topoi wie Preßburg und Kaschau, Bartfeld und Neutra zulässig sein. Nichts läge mir ferner, als die Autonomie unseres östlichen Nachbarvolkes zu relativieren. Im Gegenteil: Die Slowaken haben allen Grund, stolz darauf zu sein, nach Jahrhunderten der Bevormundung – sei es durch das einstige Großmährische Reich, durch die ungarische Krone, durch das faschistische Deutschland oder durch das Brudervolk der Tschechen – endlich ihre Unabhängigkeit gewonnen zu haben, und ich teile diesen ihren Stolz. Umso herzlicher mein Dank an all jene, die mir bei den Recherchen für das vorliegende Buch mit Auskünften und Ratschlägen, mit Verständnis, ja Gastfreundschaft beigestanden haben. Sie haben es dabei nicht immer leicht gehabt mit mir: Wo sie, die Bürger eines mit bewundernswerter Vitalität ihre Zukunft gestaltenden Staates, stramm nach vorn blicken, habe ich mich ihrer (und unserer gemeinsamen) Vergangenheit zugewandt. Doch auch dies mit dem ausschließlichen Ziel, Brücken zu bauen zwischen dem Einst und dem Heute: Brücken zwischen Nachbarn, die einander nicht nur vertrauen, sondern in beidseitiger Freundschaft zugetan sein sollten.