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Das sprechende Pferd

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Wie Hans Fallada zu seinem Künstlernamen gelangt ist

Es ist eines der weniger bekannten Grimm-Märchen. Die Kleinbäuerin Dorothea Viehmann, Hauptlieferantin der Sammler, Bewahrer und Umschreiber Jacob und Wilhelm Grimm, erzählt es anno 1815 einem der beiden, als sie wieder einmal mit den gelehrten Herren zusammentrifft. Lotte, die Schwester der Brüder Grimm, ist eine der treuesten Kundinnen von Dorothea Viehmann, die auf dem Kasseler Wochenmarkt ihre frische Landbutter feilbietet.

Diesmal hat die resche Bäuerin aus dem nordhessischen Dorf Niederzwehren noch etwas Zweites, etwas nicht Essbares in ihrem »Angebot«: das Märchen von der Gänsemagd. Jacob und Wilhelm Grimm greifen begeistert zu, schreiben das Gehörte nieder und nehmen »Die Gänsemagd« in Band II der »Kinder- und Hausmärchen« auf. Es ist die uralte Geschichte von der schönen Prinzessin, die nach dem Tod ihres Vaters in ein fernes Reich aufbricht, um mit dem dortigen König vermählt zu werden. Der Brautschatz, den sie mit sich führt, besteht aus »köstlichem Gerät und Geschmeide, aus Gold und Silber«; als Begleitung dienen ihr eine Kammerjungfer und ihr Pferd. Das edle Tier, Falada mit Namen, ist kein gewöhnliches Pferd: Es verfügt über die wunderbare Gabe, mit den Menschen zu sprechen.

Unerhörtes ereignet sich auf dem weiten Weg in die Fremde: Die untreue Kammerjungfer vollzieht einen Rollenwechsel, bemächtigt sich mit Gewalt sowohl des Brautschatzes wie des Reitpferdes, gibt sich, am Zielort angelangt, als die wahre Prinzessin aus, schickt sich an, mit dem König in den Ehestand zu treten, und stiftet ihn dazu an, ihre einstige Herrin zur Gänsehüterin zu degradieren. Um den einzigen Zeugen ihres Verbrechens mundtot zu machen, ruft sie den Schinder herbei: Er soll dem Pferd Falada den Kopf abschlagen. Doch in letzter Minute gelingt es der Übertölpelten, dem Schinder eine Goldmünze zuzustekken, auf daß er ihr einen letzten Dienst erweise: Er solle an der Stadtmauer, wo sie morgens wie abends mit ihrer Gänseherde vorüberkommt, den Pferdekopf ans Tor nageln. Und dort ereignet sich nun Tag für Tag das gleiche Schauspiel: »O du, Falada, da du hangest«, beklagt das Opfer das traurige Schicksal seines Lieblingstieres, woraufhin der Pferdekopf im gleichen Klageton zur Antwort gibt: »O du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das deine Mutter wüßte, ihr Herz tät ihr zerspringen.«

Durch den Hüterjungen, mit dem sich die gedemütigte Prinzessin ihre Arbeit als Gänsemagd teilt, kommt der infame Gewaltakt dem getäuschten König zu Ohren, der Schwindel fliegt auf, die untreue Kammerjungfer wird zur Strafe hingerichtet, der König erhält seine »richtige« Prinzessin zur Frau, »und beide beherrschen ihr Reich in Seligkeit und Frieden«. Falada, das über seinen Tod hinaus sprechende Pferd, hat den Fall zu einem guten und gerechten Ende geführt.


Das sprechende Pferd Falada aus dem Grimm-Märchen »Die Gänsemagd « verhilft dem Dichter Rudolf Ditzen zu seinem Künstlernamen.

Es ist ein uralter Märchenstoff. Schon in den Schriften des Tacitus wird von wahrsagenden Rössern berichtet, die durch warnendes Wiehern ins Kriegsgeschehen eingreifen, und die Brüder Grimm, die aus dem Mund der Niederzwehrener »Märchenfrau« von dem der Wahrheit verpflichteten Pferd Falada erfahren, verweisen in ihren Anmerkungen zur »Gänsemagd« auf die alten Bräuche, die mit »aufgesteckten Pferdehäuptern« den Ausbruch von Seuchen abzuwenden versuchen.

Mit dem Vers »Die Königstochter seufzte tief: | »O Falada, daß du hangest!« | Der Pferdekopf herunterrief: | »O wehe! Daß du gangest!« greift später auch Heinrich Heine (in seinem Werk »Deutschland, ein Wintermärchen«) das wundersame Motiv auf, und Bertolt Brecht gibt einer seiner Balladen sogar den von den Brüdern Grimm entlehnten Titel »O Falada, da du hangest«.

Besonders tiefen Eindruck macht die Gestalt des sprechenden Pferdes Falada auf Brechts fünf Jahre älteren Kollegen Rudolf Ditzen, als dieser sich anschickt, sich als Schriftsteller zu etablieren: Er wählt den Namen des sagenumwobenen Tieres als Pseudonym. Hans Fallada, der mit seinem 1932 erscheinenden Roman »Kleiner Mann – was nun« und den in knappen Abständen folgenden Werken »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt«, »Wolf unter Wölfen« und »Der eiserne Gustav« zu einem der meistgelesenen Chronisten der Zwischenkriegszeit und zu einem der meistübersetzten deutschen Erzähler aufsteigen wird, bedient sich also seines Geburtsnamens Rudolf Ditzen fortan nur noch in seiner Privatkorrespondenz und im Umgang mit seiner Familie. Auf den Buchdeckeln seiner Werke hingegen figuriert er ein für allemal als Hans Fallada. Dem »Falada« der »Kinder- und Hausmärchen« fügt er lediglich ein zweites »L« ein.

Auch zu seinem neuen Vornamen Hans läßt er sich von den Brüdern Grimm inspirieren – es ist die Titelfigur des Märchens »Hans im Glück«. Und so, wie es bei dem Namen Fallada Klugheit und Treue des wahrheitsliebenden Pferdes sind, die Rudolf Ditzen zu seiner Wahl bestimmen, läßt seine Identifikation mit dem in einem fort übertölpelten Einfaltspinsel aus »Hans im Glück« fast an Vorsehung glauben: Auch für ihn, den zwar in summa unerhört Erfolgreichen, doch im Einzelnen von schwersten Schicksalsschlägen Gebeutelten, hält das Leben eine einzige Abfolge von Katastrophen bereit – von Suizidversuch bis Drogensucht, von Mordanschlag bis Kerkerhaft.

Es ist das alte Lied: Ein autoritärer Vater will seinen aufsässigen Sohn in einen Beruf zwingen, der diesem absolut nicht liegt. Wilhelm Ditzen ist Landesgerichtsrat in Greifswald, steigt in Berlin und Leipzig zu noch höheren Positionen auf; auch der am 21. Juli 1893 geborene Sohn Rudolf soll die Juristenlaufbahn einschlagen. Doch noch während der Gymnasialzeit verstrickt sich der Achtzehnjährige in einen als Duell getarnten Doppelsuizidversuch – der Exitus des Freundes trägt ihm eine Mordanklage samt Einweisung in eine psychiatrische Klinik ein. Vor der Reifeprüfung verläßt Rudolf die Schule; beim Heer, dem er sich als Kriegsfreiwilliger andient, wird er als untauglich abgewiesen. Seine Alkoholsucht wird ihn fünf Jahre später in eine Entzugsanstalt führen – weitere Heilversuche folgen.

Seine ersten Berufsjahre verbringt Ditzen in der Landwirtschaft: Er steigt vom Gutseleven zum Gutsverwalter auf, in der Landwirtschaftskammer von Stettin ist er für den Bereich Kartoffelzüchtung zuständig – an die tausendzweihundert Sorten sind es, die er nicht nur dem Namen nach kennt, sondern auf Grund ihrer äußeren Gestalt zu bestimmen weiß.

Zur Schriftstellerei gelangt er durch eine Liaison mit der Frau eines Freundes, der vor kurzem mit einem Pubertätsroman auf sich aufmerksam gemacht hat: Auch Rudolf Ditzen will sich in diesem Genre versuchen, schreibt die Geschichte vom »Jungen Gödeschal« nieder. Über Vermittlung seines Nebenbuhlers gelangt das Romanmanuskript in die Hände des aufstrebenden Verlegers Ernst Rowohlt, wird von dessen Lektorat geprüft, angenommen und 1920 gedruckt. Rudolf Ditzen zieht sich Schritt für Schritt aus der Landwirtschaft zurück, fühlt sich als freier Schriftsteller, geht mit dem gegen seine Berufswahl opponierenden Vater einen Vertrag ein, der ihm eine monatliche Zuwendung von hundert Mark zusichert.

Daß er unterdessen – wohl auch, um sich vom Elternhaus zu emanzipieren – einen neuen Namen angenommen hat, erfährt der entrüstete Vater aus der Zeitung: Das Amtsblatt verlautbart, »der wissenschaftliche Hilfsarbeiter der Berliner Kartoffelbaugesellschaft« habe beim Polizeipräsidium angefragt, ob er für die Benutzung eines Pseudonyms eine Bewilligung einholen müsse.

Am 5. Mai 1919 tritt Rudolf Ditzen zum erstenmal mit seinem künftigen Verleger und Lebensfreund Ernst Rowohlt in Briefkontakt – und zwar unter der Absenderadresse Hans Fallada p.a. Ditzen. Rowohlt geht auf alle Wünsche, Sorgen und Beschwerden seines Debütanten ein – es werden am Ende seines Lebens zweitausendeinundsiebzig Briefe sein, die Autor und Verleger miteinander gewechselt haben, nicht eingerechnet ihre vielen persönlichen Begegnungen und unzähligen Telefonate.

Es ist eine in jeder Hinsicht ungewöhnliche Korrespondenz, die sich da anbahnt: Während die Bücher seines Schützlings, die Ernst Rowohlt herausbringt, allesamt unter dem Pseudonym Hans Fallada erscheinen, hält man im persönlichen Umgang an der bürgerlichen Identität fest: »Meister Ditzen« oder »Väterchen Ditzen« redet der Verleger seinen sechs Jahre jüngeren Autor an, und dieser repliziert mit »Lieber Rowohlt!« Nur eines wird sich in den siebenundzwanzig Jahren ihrer Zusammenarbeit nicht ändern: Sie verzichten zwar auf das steife »Herr«, bleiben jedoch beim distanzierten »Sie«. Was für den zwischen dem Geburts- und dem Künstlernamen seines Autors hin- und hergerissenen Verleger einzig zählt, ist die Erfüllung des Versprechens, das Rudolf Ditzen mit der Wahl seines Pseudonyms eingegangen ist, nämlich mit jedem seiner Worte dem Beispiel des Pferdes Falada zu folgen, und das heißt: sich niemals mundtot machen zu lassen, stets die Wahrheit zu sagen. Auch der strengste Kritiker seiner Bücher und der unerbittlichste Chronist seiner chaotischen Vita wird Rudolf Ditzen alias Hans Fallada bescheinigen müssen, daß er sein Versprechen bravourös eingelöst hat.

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